Niemand freut sich über Solarparks und Windräder im eigenen Hinterhof. Doch nun braucht es Solidarität statt Egoismus.
Ausgerechnet die Gemeindeversammlung. Bis vor kurzem hätte wohl niemand gedacht, dass die Schweizer Energiezukunft gerade dort entschieden wird.
Nicht im Bundesparlament und nicht in den Verwaltungsräten grosser Stromkonzerne finden aktuell die heissesten Diskussionen über die Wende hin zu erneuerbaren Energien statt. Sondern, eben, in Mehrzwecksälen, Turnhallen und Kirchenschiffen. Also dort, wo man sich auf dem Land zu direktdemokratischen Entscheiden trifft.
In der Gemeinde Surses im Bündnerland zum Beispiel, vergangenen Januar. Dort standen ein paar Anzugträger aus Zürich einer geballten Ladung Berglerzorn gegenüber. Es ging um eine riesige alpine Solaranlage des Stadtzürcher Elektrizitätswerks EWZ. Dessen Vertreter umwarben die Anwesenden mit trockenen Fakten, unzähligen Powerpoint-Folien und der Aussicht auf ein grosszügiges Geldgeschenk.
Es kam nicht gut an. Die Anlage – ein vernünftiges Projekt, vom Tal nicht sichtbar und doch an einem bereits bebauten Hang – wurde klar abgelehnt. Statt auf erneuerbare Energien setzt Surses lieber auf noch mehr Schneekanonen.
Ein ähnliches Bild zwei Monate später in der Zürcher Landgemeinde Hinwil. In der reformierten Kirche wird die Apokalypse heraufbeschworen: Windräder am Bachtel, dem beliebten Hausberg. Zerstörte Natur, Sakrileg an der Heimat. Es ist Gemeindeversammlung, und die Meinungen sind gemacht: Die Anwesenden – die nur drei Prozent der Hinwiler Stimmbevölkerung ausmachen – wollen Windkraft auf dem Gemeindegebiet verbieten. Dass dieses Verbot wohl rechtswidrig ist: egal. Dass es noch gar keine Pläne für Windräder auf dem Bachtel gibt: nebensächlich.
Es gehe, sagte der Gemeindepräsident (interessanterweise ein Sozialdemokrat), darum, «ein scharfes Zeichen zu setzen».
Kompromisse sind möglich
Es ist leicht, über solche Voten den Kopf zu schütteln. Sie als Triumph der Irrationalität abzutun. Als Ausdruck eines Volkszorns, den man in der Stadt verärgert registrieren und dann gleich wieder vergessen, relativieren kann.
Doch diese Sichtweise wäre grundfalsch. Solche Entscheide sind mehr: Sie drücken ein durchaus verständliches Unbehagen aus über die Umsetzung der Energiewende. Sie zeigen, dass das «Nicht in meinem Hinterhof»-Denken für die Schweizer Energiepolitik zum Problem werden kann. Und sie bieten gleichzeitig eine Chance, das Verhältnis zwischen Stadt und Land, Berg und Tal neu zu denken. So, dass am Ende alle davon profitieren – und die im Interesse des Landes so nötige Energiewende gelingen kann.
Das Wichtigste vorneweg: Die Idee einer grossflächigen Produktion von erneuerbarer Energie in dünn besiedelten Landesteilen ist noch nicht verloren. Gemeindeversammlungen wie jene in Surses oder Hinwil sind Warnzeichen, aber es geht auch anders. Das zeigen die Projekte für alpine Solaranlagen: Bisher erhielten 22 von 35 auf Gemeindeebene grünes Licht, wie eine Umfrage des Branchenverbands AEE Suisse zeigt. Die Realisierung der Solarparks ist – vor allem wegen drohender Einsprachen – alles andere als gesichert. Doch die Resultate legen immerhin nahe, dass Kompromisse möglich sind.
Etwas schwieriger sieht es im Kanton Zürich beim Thema Windkraft aus. Fast 30 Gemeinden erwägen dort ein faktisches Bauverbot für Windräder. Angestachelt von einer unheiligen Allianz aus Landschaftsschützern und SVP-Vertretern, die damit den Stadt-Land-Konflikt zu schüren versuchen. Erst drei Gemeinden haben die Idee bisher verworfen. In vielen stehen die entscheidenden Gemeindeversammlungen aber noch aus.
Noch muss man die grossen Solar- und Windparks also nicht aufgeben. Damit aus dem Problem mit erneuerbarer Energie ein Erfolg wird, braucht es nun zweierlei.
Städter, teilt eure Macht
Erstens müssen die Städte und grossen Stromversorger das tun, was ihnen am schwersten fällt: Macht abgeben. Surses in Graubünden ist dafür ein gutes Beispiel. Dort spielte ein unterschwelliger Anti-Zürich-Reflex eine wichtige Rolle bei der Ablehnung. Umso fataler war es, dass das EWZ und dessen Chef, FDP-Stadtrat Michael Baumer, sich so wenig in die Dorfdebatte einmischten. Statt sich mit den mächtigen Tourismus-Patrons zu treffen und einen Kompromiss zu zimmern, hätten sich die Zürcher kaum blicken lassen, kritisiert ein solarfreundlicher lokaler Unternehmer. Sie hätten offensichtlich nicht verstanden, wie man hier in den Bergen Mehrheiten schaffe.
Das Gegenbeispiel sind zwei Projekte ganz in der Nähe: In Laax und Klosters fand ein kleineres alpines Solarprojekt eine Mehrheit. Anbieter ist dort mit Repower ein regionales Energieunternehmen, das glaubhafter behaupten kann, die Interessen der lokalen Bevölkerung zu vertreten.
Diesem Aspekt muss künftig eine höhere Bedeutung zukommen. Die Städte und Agglomerationen wollen und brauchen mehr Strom. Sie generieren damit Wohlstand für das ganze Land; über den Finanzausgleich kommt er auch Randgebieten zugute. Doch Land- und Berggemeinden sind mehr als Standorte für Stadtzürcher Wind- und Solarträume. Und ihre Zustimmung kann man nicht einfach mit einem schönen Geldgeschenk erkaufen.
Die Landbevölkerung gibt für die Sicherung der Schweizer Stromversorgung etwas Einmaliges her: ein Stück ihrer Natur, ihrer Landschaften, ihrer unverstellten Aussicht.
Wer einen solchen Beitrag leistet, muss in den Wirtschaftszentren als gleichwertiger Partner ernst genommen und auch entsprechend an Projekten beteiligt werden. Wenn man den Strom nicht nur produzieren muss, sondern auch bei Produktionsbedingungen und Verkauf mitbestimmen darf, verändert sich das Kräftegleichgewicht zwischen Stadt und Land. Echte Mitsprache bedeutet, dass man nicht nur Ja oder Nein sagen kann, sondern ein Projekt von Anfang an mitprägen kann.
Nicht zufällig sind die 22 Solarparks, die bisher gutgeheissen wurden, laut AEE Suisse tendenziell kleiner, partizipativer entstanden und werden von regionalen Energieversorgern mitgetragen.
Bergler, erinnert euch an die Solidarität
Angesichts des Klimawandels ist ein rascher Ausbau der erneuerbaren Energien zwingend. Und um speziell die Versorgungslücken im Winter zu schliessen, braucht es in der Schweiz mehr Windräder und alpine Solaranlagen. Damit diese in nötigem Umfang gebaut werden können, müssen wiederum beide Seiten einen Schritt aufeinander zugehen.
Für die Bevölkerung in den Produktionsgemeinden heisst das: Sie sollte von Fundamentalopposition absehen und sich an den Solidaritätsgedanken erinnern, der die Schweiz zusammenhält. Das ist das zweite Element, das für einen neuen Energie-Pakt nötig ist.
Es ist wie bei den Autobahnen oder bei den Abfalldeponien: Niemand will sie gleich bei sich, aber irgendwo müssen sie sein. Dass man eine Neuerung im Abstrakten begrüsst, sie aber nicht im eigenen Hinterhof haben will, diese Mentalität hat einen schönen englischen Namen: Nimby, von «not in my backyard». Es ist eine Haltung, die zunehmend die Verdichtung in Städten behindert und nun, wenn es um die Energiewende geht, von der Landbevölkerung entdeckt wird.
Leider, muss man sagen. Denn «Nicht in meinem Hinterhof» ist kein Argument. Es ist dürftig verschleierter Egoismus. Und dahinter steckt eine problematische Haltung: jene der Fundamentalopposition, die jede Diskussion, jeden Kompromiss mit dem billigsten aller möglichen Argumente – «Sollen die anderen doch!» – zu verhindern trachtet.
Man nehme die Zürcher Windkraftpläne: Dort hat der Kanton 46 mögliche Gebiete für Anlagen definiert. Bis in einem davon ein Windrad steht, muss noch Folgendes passieren: ein Richtplaneintrag (zu genehmigen vom Kantonsparlament), ein Gestaltungsplan für das Areal (anfechtbar), ein konkretes Bauprojekt (wieder anfechtbar) und die Zustimmung dazu von den betroffenen Landbesitzern – zum Teil die Gemeinden selbst, was wiederum die Zustimmung der Stimmbevölkerung braucht.
Der Weg ist also noch weit, sehr weit. Es wäre deshalb falsch, jetzt schon das Gespräch zu verweigern. Statt Zerrbilder von einem zugepflasterten Zürcher Oberland braucht es eine zielorientierte Standortsuche, so schwierig das angesichts der verfahrenen Wind-Debatte auch scheint. Dabei wird auch die Zürcher Regierung auf die lokale Bevölkerung zugehen und ihr erklären müssen, warum Zürich zum Windkanton werden soll. Zumal es seitens des Kantons noch vor zehn Jahren hiess: «Zürich ist kein Windkanton.»
Eine einzigartige Chance
Kompromisse lassen sich finden, bei der Wind- wie bei der Solarenergie. Aber nur, wenn man die Vorstellung aufgibt, jedes Windrad und jedes Solarpanel bedeute den Untergang der Schweizer Kulturlandschaft.
Denn wie die Schweiz, so verändert sich auch ihre Landschaft. Die Berge sind auch mit Skiliften und Lawinenverbauungen Berge geblieben. Über geteerte Strassen und das Automobil – einst als störend verboten – beschwert sich auf dem Land schon längst niemand mehr. Im Gegenteil.
Statt im Alten zu erstarren, bietet die Energiewende strukturschwachen Regionen eine einzigartige Chance: Sie können das ungleiche Verhältnis zu den Zentren neu verhandeln und als Energieversorger wieder zu gleichberechtigten Partnern werden. Nicht mehr belächelt und subventioniert – sondern respektiert und dringend gebraucht.
Das würde auch den Städtern guttun, die, wenn es um Energieversorgung geht, gerne zu Hybris neigen und den sozialen Aspekt der Energiewende allzu leichtfertig ignorieren. Dabei hat eben erst eine Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und der ETH Zürich gezeigt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien am ehesten gelingen dürfte, wenn die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung stärker gewichtet werden. Und dass dafür in der Summe kaum Abstriche beim Energieertrag oder der Ökologie nötig sind.
Zusammen und auf Augenhöhe lassen sich also realistische Projekte realisieren. Solche, die nicht zwischen technokratischen Visionen aus den Stromzentralen und diffusen Verlustängsten aus den Produktionsstätten zerrieben werden. Sondern ein neues Miteinander ermöglichen, einen neuen Pakt zwischen Stadt und Land, zwischen Berg und Tal.