Gastrokritik
Früher übernachteten im «Atlantic» in Hamburg die Wohlhabenden, bevor sie die Überfahrt nach Amerika antraten. Später geriet das Haus ein bisschen aus der Mode. Neu können sich die Restaurantgäste auch an einer modernen, vegetarischen Küche erfreuen.
Die Hummersuppe muss bleiben. Alexander Mayer, der seit einem Jahr amtierende Küchenchef des renovierten Restaurants Atlantic in Hamburg, würde wohl einen Aufstand der Stammgäste in Kauf nehmen, striche er den kulinarischen Klassiker des Hauses. Seit der Eröffnung des Hotels im Jahr 1909 hat sich diese Vorspeise ebenso etabliert wie die Nordsee-Seezunge, die heute wie vor dem Ersten Weltkrieg am Tisch filetiert wird. 159 Euro kostet das Spektakel für zwei Personen; ein Hinweis darauf, dass Seezungen rar geworden sind.
Im Übrigen hat Mayer freie Hand und darf sich auch bei den Details der Hummersuppe entfalten. In meinem Falle kommt sie mitsamt Hummerraviolo, Bohnenpotpourri, Birne und Purple Curry. Würzig variiert, aber geschmacklich nicht von den übrigen Zutaten überlagert. Ob Udo Lindenberg, der im Haus dauerhaft wohnende und dort auch mit seinen Bildern verewigte Sänger, selbige schätzt, war nicht in Erfahrung zu bringen.
Gelungene vegetarische Spezialitäten
Aus Hummerkarkassen eine Suppe zu kochen, schaffen viele. Doch ein ganzes Menu mit vegetarischen Gängen zu bestücken, so dass sich niemand langweilt, ist noch immer kein Standard. Im «Atlantic» probierten wir es aus – die Speisefolge kann aber auch mit Fleisch- oder Fischgängen gemischt werden. Zuerst kamen hausgebackene Gugelhupfe mit einer Salzbutter-Brunnenkresse-Emulsion, darauf folgten eine Schaumsuppe vom Riesling-Sauerkraut (ausgezeichnet abgeschmeckt) und Tarte flambée samt Meerrettich, Räuchertofu und Taleggio.
Fleischlos geht es bei mir weiter mit gebackenen Tomaten und Auberginen, als eine Art Tatar mit Oliven abgeschmeckt und mit Bittersalaten auf sehr angenehme, komplexe Weise akzentuiert. Spätestens hier wird deutlich, warum dem «Guide Michelin», der dem Restaurant gerade einen Stern verlieh, Alexander Mayers Küche gefällt.
Weil ich nicht zu jedem Gang einen anderen Wein trinken möchte, rät Maître Lars Hentschel zu einem Gewürztraminer aus dem Elsass, zu einem Wein, der ebenso aus der Mode gekommen ist wie die Hummersuppe. Ganz zu Unrecht! Er gefällt sogar noch besser als der ebenfalls überzeugende reife Rotwein zum Hauptgang.
Reis in Texturen, Pilze in Gängen
Noch überraschender als die Suppe und das Gemüse ist der bestellte Wolfsbarsch. Dieser wurde nach der Ikejime-Methode getötet. Bei der vor allem in Japan praktizierten Methode wird der Fisch nach dem Fang 24 Stunden in ein Becken zur Stresslinderung gesetzt und danach mit einem exakten Stich ins Gehirn getötet. Dies gilt als eine der tierfreundlichsten Tötungsarten.
Zum Wolfsbarsch wird Reis serviert. Den Gästen am Nachbartisch scheint die Beilage zu banal, mir nicht. Der Mini-Maki ist mit einem in der Textur beachtlich guten Sushi-Reis zubereitet, auch die Reiscrème und der knusprige Reis sind mehr als nur Dekorationen.
Amalfi-Zitrone und Shiso fügen dem Fisch interessante Akzente zu, übertönen seinen Eigengeschmack aber nicht. Ein Prinzip, das auch bei den Pilzen zum Tragen kommt. Sie werden in zwei Gängen serviert und bilden die vegetarische Alternative zur ebenso gereichten Taube, einem Klassiker der gehobenen Gastronomie.
Zunächst also der sous-vide gegarte Portobello mit Teriyaki-Jus, gebeiztem Eigelb; dann sautierte Blätter des chinesischen Brokkolis mit Parmentier von Kastanienseitling, Topinambur und der von der Belper Knolle inspirierten Dresdner Perle.
Dass Alexander Mayer sich mit asiatischen Zutaten und Gewürzen beschäftigt und diese klug integriert, ist wohl auch auf seine Laufbahn zurückzuführen. Nach einer Lehre im einstigen Drei-Sterne-Restaurant Schiffchen in Düsseldorf arbeitete er beispielsweise im dortigen Restaurant Nagaya, dem wohl besten japanischen Restaurant Deutschlands, und im «Yunico» in Bonn. Asiatische Anklänge hätte es auch beim Reblochon gegeben, einem Käsegang. Im Dessert, der Pawlowa mit Champagner, Cassis und Marcona-Mandeln, machte der zarte, aber deutliche Rosenduft den Unterschied.
Zusammen mit dem Blick auf die Aussenalster und dem trotz Renovierung nostalgischen Ambiente ist das Ganze eine olfaktorisch-visuelle Zeitreise. Mit dieser Sicht, aber wohl kaum so gut, müssen auch die Gäste 1909 vor dem Einchecken aufs Überseeschiff gespeist haben.
Auf einen Blick
Adresse
Atlantic Restaurant
An der Alster 72–79
20099 Hamburg
Kosten
Das Menu kostet ab 149 bzw. ab 114 Euro (vier Gänge mit Fleisch und Fisch bzw. vegetarisch).
Bewertung
Küche: 8/10
Gastkultur: 8/10
Anmerkung: Die Bewertungen orientieren sich an der denkbaren Höchstnote von 10 Punkten. Die Note für die Küche betrifft ausschliesslich die Qualität der Speisen, jene für Gastkultur umfasst sämtliche übrigen Aspekte eines Restaurantbesuchs.
Der Besuch im Restaurant erfolgte auf Einladung.