99 Prozent der Startenden schaffen es am Barkley-Marathon nicht ins Ziel. Der Gründer sagte einst, der Lauf sei zu hart für Frauen – eine 40-jährige Britin hat das Vorurteil kürzlich widerlegt.
Der Barkley-Marathon findet jedes Frühjahr im Frozen Head State Park im Gliedstaat Tennessee statt und gilt als brutalster Lauf der Welt. Am Barkley gibt es keine vorgegebene Route oder ausgebauten Wege. Der Rennchef Gary Cantrell alias Lazarus Lake und seine Mitstreiter verstecken im Gelände Bücher, welche die Läuferinnen und Läufer finden müssen.
Wer als Finisher gelten will, muss fünf Runden à 20 Meilen (zirka 32 Kilometer) absolvieren. Pro Runde hat man 12 Stunden Zeit. Zusätzlich bewältigen die Läuferinnen und Läufer eine Höhendifferenz, die zweimal dem Mount Everest entspricht.
Der Lauf ist von zahlreichen Mythen umrankt. Auf dem Parcours durch die Wildnis kommen die Läuferinnen und Läufer am Brushy Mountain State Penitentiary vorbei, einem 2009 stillgelegten Gefängnis. Dort sass James Earl Ray ein, der Mörder des US-Bürgerrechtlers Martin Luther King. Er brach 1977 aus, kam im unwegsamen Gelände aber nicht weit. Der Renngründer Lake verfolgte die Jagd auf Ray im Fernsehen und sagte im vergangenen Jahr zur NZZ: «Ich hätte 100 Meilen geschafft, nicht die armseligen acht von James Earl Ray. Also entschloss ich mich, ein Rennen über 100 Meilen zu erfinden.»
Seit 1986 haben sich Tausende Ultraläufer am Barkley versucht, unter ihnen die besten der Welt. Das Starterfeld ist auf 40 Teilnehmende beschränkt. Wer mitmachen will, muss Lake ein Motivationsschreiben schicken. Nur 20 Personen haben in der Geschichte des Laufs die vollen fünf Runden innerhalb des Zeitlimits geschafft. Die 40-jährige Britin Jasmin Paris war in diesem Frühling die erste Frau.
Jasmin Paris, Sie haben im dritten Anlauf das grosse Ziel erreicht und den Barkley-Marathon beendet. Werden Sie an diesen Lauf zurückkehren?
Es war wohl die letzte Teilnahme. Ich glaube nicht, dass ich die Motivation wieder finden werde, um mich noch einmal so zu fokussieren und zu quälen. Ausserdem hatte ich jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich für den Barkley in die USA geflogen bin. Ich will aus ökologischen Gründen so wenig wie möglich fliegen. Ich sage nicht, dass ich nie mehr irgendwohin fliegen werde für ein Rennen. Aber der Anlass muss schon eine grosse Anziehungskraft haben, dass ich mich in ein Flugzeug setze. Der Barkley hatte diese Kraft – bis ich ihn beendet habe.
Sie sind völlig entkräftet ins Ziel gekommen, nur anderthalb Minuten vor Ablauf der Zeitlimite. Wie haben sich die letzten Kilometer angefühlt?
Ich habe schon sechs Stunden vorher gemerkt, dass es knapp werden wird. Ich fühlte mich trotzdem euphorisch und glaubte daran, dass ich es schaffen kann. Der letzte Kilometer war brutal, es ging steil bergauf, und ich realisierte, dass ich ganz am Schluss scheitern könnte. Das war ein schrecklicher Moment. Ich hatte Mühe zu atmen, musste ständig husten, die Kehle war ausgetrocknet. Mein Kopf und mein Körper sagten mir, dass ich gehen soll, anstatt zu laufen. Doch dann hätte es nicht gereicht.
Wie haben Sie es geschafft, sich derart zu quälen?
Ich hatte mir stundenlang eingeredet, dass ich es schaffen werde. Ich sagte mir, dass ich erst auf dem letzten Kilometer gehen darf. Doch ich hatte keine Zeit mehr, also habe ich entschieden, solange es geht, weiter zu rennen. Das war ein intensiver Moment, den ich so noch nie erlebt habe, eine Mischung aus Verzweiflung und Euphorie. Es war das erste Mal, dass ich mich derart verausgabt habe.
Wie viel haben Sie vom Zieleinlauf überhaupt mitbekommen?
Ich hatte einen Tunnelblick und habe nur noch das Gatter gesehen, das Start und Ziel symbolisiert. Ich habe mitbekommen, dass da Leute waren. Habe gehört, dass sie mich angefeuert haben. Ich bin wie eine Roboterin gerannt, es hat sich angefühlt, als hätte ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich wollte einfach dieses Gatter erreichen. Dort bin ich minutenlang liegen geblieben und habe versucht, wieder zu Atem zu kommen.
Haben Sie sich in den Tagen nach dem Rennen überlegt, was es ausgelöst hätte, wenn Sie so kurz vor dem Ziel gescheitert wären?
Das Scheitern geisterte immer wieder durch meinen Kopf. Es wäre eine grosse Enttäuschung gewesen. Ich versuchte, nicht zu oft daran zu denken, solche Gedanken jagen mir einen Schauer über den Rücken.
Man sagt, dass am Barkley das Desaster hinter jedem Baum wartet. Wie haben Sie das erlebt?
Ich habe mir schon auf der ersten Runde beim Bergablaufen das Knie verdreht. Ich hatte während mehrerer Stunden starke Schmerzen, schaffte es aber, sie auszublenden.
Wie vergisst man, wenn so früh etwas schiefgeht?
Ich war zunächst frustriert und wütend auf mich. Bis zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich stark und kam gut voran. Ich habe mir zwei Dinge eingeredet. Erstens, dass irgendwann ein anderer Körperteil zu schmerzen beginnen wird und ich das Knie vergessen werde. Zweitens, dass ich Glück gehabt habe, dass es nicht schlimmer gekommen ist und ich immer noch rennen kann. Ausserdem habe ich mich darauf eingestellt, dass es am Barkley immer wieder Rückschläge geben wird. Ohne Probleme kommt niemand durch.
99 Prozent der Startenden scheitern am Barkley. Wie gingen Sie mit dem Gedanken um, dass Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht ins Ziel kommen?
Das Scheitern zieht mich magisch an, es ist die Hauptmotivation, weshalb ich dreimal am Barkley teilgenommen habe. Es besteht eine kleine Chance, dass man es doch schafft. Kann ich diese Person sein? Bin ich dazu fähig? Das waren die Fragen, die mich umgetrieben haben. Ausserdem mag ich den Gedanken, dass der Barkley kein richtiges Rennen ist.
Wie meinen Sie das?
Wir Läuferinnen und Läufer kämpfen nicht gegeneinander. Wir alle treten zusammen gegen diesen harten Parcours an. Man hilft sich auf der Strecke gegenseitig, läuft nach Möglichkeit gemeinsam und motiviert sich. Die Kameradschaft ist etwas vom Schönsten an diesem Lauf.
Der Barkley-Gründer Lazarus Lake sagt, er wolle die Teilnehmenden hänseln. Machte Sie dieser Mann wütend, als Sie die Brutalität des Barkley zu spüren bekamen?
Solche Gefühle hatte ich nie. Ich kenne Lake persönlich nicht so gut. Ich habe aber grossen Respekt vor ihm, er ist schlau, nur deshalb konnte er einen Lauf wie diesen erfinden. Ich bewundere ihn dafür, dass er etwas so Schwieriges kreiert hat, an dem wir Läuferinnen unsere Fähigkeiten testen können.
Sie sagten, dass Sie während Ultraläufen viel über sich lernen. Was haben Sie am Barkley gelernt?
Ich will vorausschicken, dass ich weiss, wie privilegiert ich bin, dass ich am Barkley teilnehmen kann. Für Menschen, deren Leben weniger einfach ist, muss es absurd klingen, sich zum Spass zu quälen. Daheim in Edinburg führe ich ein bequemes Leben. Ich könnte mich einfach treiben lassen, ohne Grenzerfahrungen oder Schwierigkeiten. Am Barkley wird das Leben simpel, man verbringt Stunden allein in der Wildnis, es geht nur um die Grundbedürfnisse, Essen, Trinken und Laufen. Ich habe gelernt, dass es auch ohne Komfort gehen kann. Der Barkley hat mir ausserdem gezeigt, wozu ich fähig bin. Ich hätte vor dem Rennen nicht geglaubt, dass ich diesen letzten Anstieg hochrennen kann.
Gab es Phasen, in denen Sie das Rennen genossen haben?
Dieses Jahr haben die ersten beiden Runden viel Spass gemacht. Ich lief mit vier Männern, wir waren eine gute Gruppe, es fühlte sich wie Teamsport an. Und der Sonnenuntergang am ersten Tag war wunderschön. Auf eine komische Art und Weise habe ich auch die letzten sechs Stunden genossen, auch wenn ich müde war. Ich mochte das Gefühl, ganz allein in der Wildnis zu sein. Es hatte viele Schmetterlinge im Wald dieses Jahr, ich freute mich jedes Mal, wenn ich einen sah.
Sie haben bereits zum dritten Mal am Barkley teilgenommen. Wann haben Sie realisiert, dass Sie es ins Ziel schaffen könnten?
Es gab keinen exakten Zeitpunkt, das Bewusstsein sickerte langsam ins Gehirn. Ich habe mich in diesem Jahr sehr wohl gefühlt. Von den vorherigen beiden Teilnahmen war mir das Gelände vertraut. Die Vorbereitung lief super. Dank meiner Erfahrung hatte ich keine Probleme, die Route zu finden. Auf der zweiten Runde konnte ich nach einer Steigung zu John Kelly und Aurélien Sanchez aufschliessen, die den Barkley im vergangenen Jahr beendet hatten. Da spürte ich, dass ich stark bin, und dachte erstmals daran, dass es reichen könnte.
Zwischen den Runden bleibt wenig Zeit zur Erholung. Wie sahen die Pausen aus?
Mein Ehemann Konrad, auch er ein Ultraläufer, hat mich wundervoll betreut. Er gab mir bei Start und Ziel Porridge, Reiskuchen, Bananen und Cola. Auf der Strecke hatte ich kalte Pizza und Käsesandwiches sowie Sportnahrung im Rucksack. Für Schlaf blieb keine Zeit. Bis auf einen Powernap von wenigen Minuten habe ich während 60 Stunden nicht geschlafen. Stattdessen legte ich mich regelmässig in einen Bach, danach war ich wieder wach.
Der Stress am Barkley beginnt schon in der Nacht vor dem Start. Ab Mitternacht gibt es ein Zeitfenster von zwölf Stunden, während deren Lazarus Lake das Signal geben kann, dass noch eine Stunde zum Start bleibt. Wie haben Sie die Nacht erlebt?
Dieses Jahr kam das Signal um 4 Uhr 17. Die Zeit davor zehrte an meinen Nerven. Ich hatte Glück, dass ich immer noch Jetlag hatte. Ich habe im Zelt gelesen und konnte dann einschlafen. Ich bin dann um Punkt Mitternacht aufgewacht, da wurde mir bewusst, dass es jederzeit losgehen kann, und ich wurde nervös. Zum Glück konnte ich noch einmal einige Stunden schlafen.
Der Organisator Lake sagte einst, der Barkley sei zu hart für Frauen. Was bedeutet es Ihnen, dass Sie es als erste geschafft haben?
Es ist ein phantastisches Gefühl, doch ich sah den Barkley immer als persönliche Herausforderung. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich es schaffen kann. Und nicht der Welt zeigen, dass es eine Frau schaffen kann. Natürlich freue ich mich, dass ich Lakes Aussage widerlegen konnte. Am schönsten waren die zahlreichen Nachrichten, die ich von anderen Frauen bekommen habe. Sie schrieben mir, dass ich sie inspiriert hätte, weil ich dieses Ziel als berufstätige Mutter erreicht hätte.
Sie arbeiten Vollzeit als Tierärztin, unterrichten an der Universität in Edinburg und haben zwei kleine Kinder. Wann trainieren Sie?
Ich stehe um 5 Uhr auf, esse eine Scheibe Toast, trinke eine Tasse Tee und renne los. Unter der Woche trainiere ich täglich anderthalb bis zwei Stunden, immer am frühen Morgen vor der Arbeit. Das geht nur, weil mein Mann Frühstück für die Kinder macht und sie für die Schule bereitmacht. Wir sind sehr geübt im Multitasking.
Haben Sie sich dieses Jahr anders als sonst auf den Barkley vorbereitet?
Ich habe mehr Krafttraining gemacht und bin öfter bergauf gerannt. Wenn ich meine Laufrunde absolviert hatte, rannte ich oft noch einen steilen Hügel hinauf und hinunter. Es mag eigenartig klingen, aber beim Barkley wird wenig gerannt. Die Anstiege sind so steil, dass man eher wandert. Auf die Steigungen habe ich mich vorbereitet, indem ich am Feierabend im Fitnesscenter oft 1000 Höhenmeter auf dem Treppensteiger-Gerät absolviert habe.
Sie mussten den Weg durch die Wildnis mit einer einfachen Karte und einem Kompass finden. Wie haben Sie sich auf das Navigieren vorbereitet?
Ich habe in Grossbritannien schon einige Bergmarathons absolviert, die ähnlich wie Orientierungsläufe funktionieren. Ich hatte also eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Karte und Kompass. Ein Vorteil war, dass ich den Frozen Head State Park schon von meinen früheren Barkley-Teilnahmen kenne. In den ersten beiden Jahren habe ich viele Fehler gemacht, aber auch viel gelernt.
Was werden Sie vom Barkley vermissen?
Die anderen Läuferinnen und Läufer und die familiäre Stimmung. Der Barkley war ein wichtiger Teil meines Lebens. Er war für mich in den letzten drei Jahren ein Symbol für den Wechsel vom Winter zum Frühling. Auch der Wald im Frozen Head State Park wird mir fehlen, auch wenn man ihn nicht als schön bezeichnen kann. Ich habe mich trotzdem in die Gegend verliebt, weil ich mit vielen Plätzen entlang der Strecke Erlebnisse verbinde und mich erinnere, wie ich Hindernisse und Schwierigkeiten überwunden habe.