Emmanuel Macron hat einmal mehr seine Ideen für die Zukunft Europas präsentiert. Vor sieben Jahren hatte er damit ein Momentum geschaffen. Lässt sich das wiederholen?
Regierungserklärungen, Neujahrsansprachen, Wahlkampfreden: Es gehört zu einer Politikerkarriere, dass sich Auftritte wiederholen und ähneln. Frankreichs Präsident hat das Déjà-vu am Donnerstag bewusst gesucht. Er ist an den Ort zurückgekehrt, der sein Image nachhaltig prägte: ins grosse Auditorium der Sorbonne-Universität in Paris. Macron war keine sechs Monate im Amt, als er dort im Herbst 2017 eine Grundsatzrede zu Europa hielt. Seine Ideen hatten im Ausland für Debatten gesorgt, vor allem in Deutschland, das er damals mehrmals direkt angesprochen hatte.
Nun stand er also wieder dort, neben Europaflagge und Trikolore. Vor blauem Grund, im dunkeln Anzug und mit ergrauten Schläfen zwar, aber in Rhetorik und Gestik nicht weniger entschlossen als vor sieben Jahren. Über zwei Stunden lang analysierte er den Zustand Europas. Dramatik durfte nicht fehlen. «Europa ist sterblich», konstatierte Macron. Der Kontinent sei angesichts der äusseren Bedrohung und der Herausforderungen im Innern zu schwach, zu ineffizient und auch zu naiv. Damit sei er den Risiken, mit denen er konfrontiert sei, nicht gewachsen. Und dann exerzierte er an zahlreichen Politikfeldern zum Teil bis ins Detail durch, wie das zu verhindern sei.
Ein Paradigmenwechsel in der Handelspolitik
2017 hatte Macron das Schlagwort der strategischen Autonomie geprägt. Er stellte am Donnerstag mit einer gewissen Genugtuung fest, dass seither diesbezüglich einige Fortschritte erzielt worden seien: der Corona-Hilfsfonds etwa (für den sich die EU-Staaten zum ersten Mal gemeinsam verschuldeten), die Schaffung einer europäischen Interventionstruppe, der Asyl- und Migrationspakt oder die ersten Ansätze einer gemeinsamen Industriepolitik, etwa für Elektrobatterien. Der Begriff der strategischen Autonomie ist inzwischen europäischer Mainstream geworden.
Das alles ist Macron freilich nicht genug, und vor allem geht es ihm nicht rasch genug. Die nächsten fünf Jahre seien entscheidend, mahnte er. Sein Rezept für die Rettung und vor allem die Stärkung Europas: eine glaubwürdige Verteidigung und ein Pakt für Wohlstand. Es zeigte sich rasch, was Macron damit meinte. Die EU sei nur zu retten, wenn sie noch französischer werde, als sie es in den vergangenen Jahren ohnehin schon geworden sei.
Gemeinsame Schulden, der Mut zu gemeinsamen Investitionen (bis zu 1000 Milliarden seien nötig), ein gemeinsamer Strommarkt und vor allem gesamteuropäische Strategien in allen möglichen Politikbereichen: der Verteidigung, der inneren Sicherheit, aber auch in Bezug auf Steuern, die Ernährungssicherheit und den Aussenhandel. Dem Franzosen schwebt ein «Paradigmenwechsel in der Handelspolitik» vor. Das heutige System sei nicht haltbar, weil die beiden grössten Wirtschaftsmächte – die USA und China – sich nicht mehr an die vereinbarten Regeln hielten.
Hallo Deutschland?
Bemerkenswert an Macrons Rede war erneut das Selbstbewusstsein, mit dem er seine Ideen vortrug. Zwar gehört es zu seiner Persönlichkeit, grosse Auftritte zu inszenieren und sich dabei nicht kurz fassen zu können. Doch steht er politisch an einem ganz anderen Punkt als vor sieben Jahren. Damals war er der junge Hoffnungsträger, der Frankreich – und Europa – bessere Zeiten versprach. Heute sind seine Umfragewerte schwach, um jene seiner Regierung steht es nicht viel besser. Vertreter des Rassemblement national sind beliebter. Und vor allem sind die Aussichten auf die nahende Europawahl düster: Es ist unwahrscheinlich, dass seine Partei jene von Marine Le Pen noch überholt.
In Frankreich wird sein Auftritt denn auch vor allem als verkappte Wahlkampfhilfe für die bisher blasse Kampagne seiner Partei gewertet; zumal er sich mehr als einmal als Gegenpol zu den Nationalisten positionierte, die von Europa profitieren, aber nichts investieren wollten. Aus dem Élysée-Palast hiess es dagegen, die Rede ziele auf die strategische Agenda, die der europäische Rat im Sommer verabschieden wolle.
Dieser Anspruch ist zwar berechtigt. Frankreich war schon immer ein grosser Impulsgeber, wenn es um die Weiterentwicklung der EU ging. Und abgesehen von Viktor Orban gibt es derzeit wenige Stimmen, die laut über die Weiterentwicklung Europas nachdenken. Dass seit der Pandemie und durch den Krieg in der Ukraine französische Ideen an Zuspruch gewonnen haben, darf Macron zwar freuen. Im Wesentlichen hat das damit zu tun, dass sich Deutschland von französischen Vorschlägen mehr als einmal überzeugen liess, obwohl sie dem bisherigen europapolitischen Kurs Berlins zuwiderliefen. Zum Handlungsdruck kam ein Mangel an besseren Ideen.
Auffallend wenig hat sich Macron am Donnerstag an Deutschland gewandt. Dass es mit Kanzler Olaf Scholz weniger gut läuft als mit seiner Vorgängerin, ist ein offenes Geheimnis. Doch gibt es noch ein weiteres Hindernis, das die Chancen für seine Pläne schmälern könnte. Entgegen Macrons Versprechen hat sich Frankreichs finanzpolitische Lage seit 2017 weiter verschlechtert. Schon am Freitag könnten zwei grosse Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit von Europas zweitgrösster Volkswirtschaft herabstufen. Auch wenn die Franzosen darauf hingearbeitet haben, dass die europäische Budgetdisziplin aufgeweicht worden ist: Die Haushaltsprobleme sind keine gute Werbung für das Modell, das Macron auch für Europa vorschwebt.