In der südlichsten Stadt des Gazastreifens vermutet Israel mehrere Hamas-Bataillone sowie Dutzende Geiseln. Gleichzeitig haben aber Hunderttausende Menschen in Rafah Schutz gesucht – nun sollen sie evakuiert werden.
Nach einer wochenlangen Phase relativer Ruhe im Gazastreifen verdichten sich die Anzeichen, dass eine israelische Offensive auf die Stadt Rafah unmittelbar bevorsteht. Am Donnerstagnachmittag tagten sowohl das Kriegskabinett als auch das Sicherheitskabinett, um das weitere Vorgehen im südlichen Gazastreifen zu beraten. Dabei informierte die Armeeführung die Regierung darüber, dass die Vorbereitungen für einen Militäreinsatz abgeschlossen seien – die Armee warte nur noch auf grünes Licht der Regierung.
Eine Offensive auf Rafah liegt bereits seit Monaten in der Luft. Laut Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kann es ohne einen Angriff auf die Stadt an der ägyptischen Grenze keinen Sieg über die Hamas geben. Israel geht davon aus, dass sich dort die verbleibenden vier Bataillone der Terrorgruppe verschanzt haben. Ausserdem vermutet Israel, dass viele der 130 israelischen Geiseln in Rafah gefangen gehalten werden.
Israel hat offenbar 40 000 Zelte beschafft
Mehrere westliche Staaten, allen voran die USA, haben Israel jedoch aufgefordert, von einer solchen Offensive abzusehen. Rafah beherbergt derzeit mehr als eine Million Menschen, die vor den Kämpfen Schutz gesucht haben. Obwohl Washington Israel diese Woche zusätzliche Militärhilfe zugesagt hat, scheint die amerikanische Regierung eine Rafah-Offensive weiterhin abzulehnen. So sagte Aussenminister Antony Blinken am Mittwoch, es gebe andere Wege, mit der Bedrohung durch die Hamas in Rafah umzugehen.
Netanyahu hat wiederholt betont, dass Israel die Zivilbevölkerung vor einer Bodenoperation evakuieren werde. Laut einem Bericht des «Wall Street Journal» plant Israel nun, die Evakuierung in Koordination mit den USA, Ägypten und anderen arabischen Staaten durchzuführen. Während zweier bis dreier Wochen sollen Zivilisten nach Khan Yunis und in andere Gebiete im Gazastreifen gebracht werden, wo für sie Zelte, Essensausgaben und medizinische Einrichtungen bereitgestellt werden sollen. Erst danach sollen die Kämpfe beginnen.
Tatsächlich zeigen Satellitenbilder aus den vergangenen Tagen, dass in der Nähe von Khan Yunis Hunderte weisse Zelte errichtet wurden. Zwar liessen die Streitkräfte verlauten, diese seien nicht von ihnen aufgestellt worden. Doch laut Medienberichten hat Israel in den vergangenen Wochen 40 000 Zelte für je zehn bis zwölf Personen beschafft, die im Rahmen einer Evakuierung aufgebaut werden könnten.
Lebenszeichen einer Geisel
Trotzdem bleiben die Bedenken rund um eine Bodenoperation in Rafah gross. Am Donnerstag warnte Ägyptens Präsident Abdelfatah al-Sisi erneut vor «katastrophalen Konsequenzen». Kairo befürchtet, dass Tausende Palästinenser versuchen könnten, ägyptische Grenzanlagen zu durchbrechen. Dazu kommt, dass der Grossteil der humanitären Lieferungen über Rafah abgefertigt wird. Eine Offensive würde dies stark erschweren. Es ist unklar, ob die gleiche Menge an Hilfsgütern auf anderen Wegen in die Küstenenklave gelangen kann.
Eine Alternative könnte der temporäre Hafen sein, den die USA derzeit an der Küste zum Gazastreifen errichten. Doch amerikanische Vertreter warnen davor, dass dieser die Lieferungen über Land nicht kompensieren könne. Derweil hat die Armee zwei zusätzliche Brigaden in den Gazastreifen entsandt, wovon eine nur für die Sicherung der Hafenanlage zuständig sein soll. Gleichzeitig teilte die Armee am Donnerstag mit, dass eine andere Brigade aus dem Gebiet abgezogen worden sei. Sie solle sich nun auf künftige Operationen vorbereiten – gemeint ist die Offensive auf Rafah.
Nun wartet Israel auf die Entscheidung der Regierung. Diese ist zuletzt wieder stark unter Druck geraten. Nachdem die Hamas am Mittwoch ein Video veröffentlicht hatte, das die 23-jährige Geisel Hersh Goldberg-Polin lebend zeigte, kam es an mehreren Orten in Israel zu Protesten. Die Protestierenden riefen die Regierung dazu auf, mehr für die Befreiung der Geiseln zu unternehmen. Goldberg-Polins Vater plädierte in einer vielbeachteten Videobotschaft für einen Waffenstillstand.