Der CDU-Chef hält zum Auftakt des Berliner Parteitags eine staatstragende Rede. Der von einigen befürchtete und von anderen herbeigeschriebene Rechtsruck bleibt aus.
Als die Ministerpräsidenten der CDU Friedrich Merz an diesem Montag für dessen Rede loben, bekommt das kaum noch jemand mit. Die meisten der 1001 Delegierten der Partei haben den grossen Saal im Berliner Estrel Congress Center bereits verlassen, um sich in der Halle nebenan für eine Gulaschsuppe anzustellen. Michael Kretschmer (Sachsen), Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen) und Boris Rhein (Hessen) danken und loben Friedrich Merz vor weitgehend leeren Sitzreihen.
Das Desinteresse an den Männern, die in Deutschland bis heute gerne als «Landesfürsten» bezeichnet werden, dürfte an der Länge, aber auch am Inhalt der Rede des Bundesvorsitzenden liegen. Merz spricht knapp eineinhalb Stunden lang, und er bietet seinen Kontrahenten in dieser Zeit keine Angriffsfläche. Ein «Rechtsruck», den seit seiner Wahl zum Parteichef im Januar 2022 viele befürchtet beziehungsweise herbeigeschrieben haben, ist in Berlin ebenso wenig erkennbar wie ein Drang zur Abrechnung mit der früheren Parteivorsitzenden und langjährigen Kanzlerin Angela Merkel.
Der Kronprinz bleibt freundlich
Im Gegenteil: Der 68-jährige Jurist Merz präsentiert sich als Staatsmann und Vertreter der in Deutschland vielbemühten politischen Mitte. Und so bleibt selbst dem von vielen als Kronprinz gehandelten Ministerpräsidenten Wüst nichts anderes übrig als ein Appell, den «Friedrich» nach Kräften zu unterstützen.
Inhaltlich ist Merz’ Rede ein Potpourri, wie man es von CDU-Parteitagen kennt. Es geht um die stolze Geschichte der Partei, die in 50 von bald 75 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte an der Regierung war, um ihr christliches Menschenbild, das den Einzelnen und nicht den Staat ins Zentrum stelle, um kommunalpolitische Erfolge, auch in vermeintlich linken Universitätsstädten, und um internationale Krisen.
«Gemeinsam Zukunft gewinnen» laute das Motto des Parteitags, sagt der Parteichef zu Beginn. Das ist ein bisschen lustig, weil das Motto hinter dem Redner in riesigen Lettern anders formuliert ist. «Zukunft gemeinsam gewinnen», heisst es da.
«Wir können Wahlen gewinnen», ruft Merz sodann in den Saal und erinnert an die jüngsten Siege seiner Partei in den Bundesländern und grösseren Städten, die er offenkundig auch als seine Siege verstanden wissen will. Mit dem neuen Grundsatzprogramm, welches der Parteitag beschliessen soll, seien die Christlichdemokraten bereit, auch im Bund Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das gelte dann sofort, spätestens aber im Herbst 2025, zum regulären Termin der nächsten Bundestagswahl.
«Maximal vier Jahre Ampel sind genug», sagt Merz über die Arbeit der Koalition aus SPD, Grünen und FDP. «Jeder Tag früher, den dieses Schauspiel eine Ende findet, ist ein guter Tag für Deutschland.» Es ist eine von wenigen Redepassagen, in denen der Redner so scharf wird, wie man es vom Fraktionsvorsitzenden der Union sonst aus dem Plenarsaal des Deutschen Bundestags gewohnt ist. Ein andermal stellt er die Grünen als Partei dar, die das Leben der Menschen bis ins kleinste Detail regeln wolle. Dafür gibt es kräftigen Zwischenapplaus.
Erkennungsmelodie in Dur
In der Summe der Rede nimmt die Kritik an der Regierung aber wenig Raum ein. Merz will offenkundig weniger als wütender Oppositionsführer und mehr als besonnener Regierungschef in spe wahrgenommen werden. Er sagt in Berlin beispielsweise nicht, was er bei früheren Gelegenheiten sinngemäss schon gesagt hat: Die Regierung gefährde mit ihrer Politik den Industriestandort Deutschland. Er sagt: Deutschland müsse Industriestandort bleiben, um den Wohlstand zu sichern, mit dem dann ein starker Sozialstaat erhalten werden könne – ein Sozialstaat, dessen zentrale Errungenschaften übrigens nicht die SPD, sondern die CDU auf den Weg gebracht habe.
Sein Generalsekretär Carsten Linnemann habe gesagt, die CDU brauche wieder eine Erkennungsmelodie, fährt Merz fort. Die habe sie jetzt, und zwar in Dur: «Wir machen Politik für freiheitlich und verantwortungsvoll denkende und handelnde Menschen.»
Zum staatsmännischen Grundton passt auch Merz’ Lob für die Geschlossenheit von CDU und CSU, von der rund um die Bundestagswahl im Herbst 2021 nicht mehr viel übrig war. Heute gebe es wieder ein gutes Miteinander, sagt er und bedankt sich bezeichnenderweise nicht zuerst beim CSU-Chef Markus Söder, sondern beim Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag Alexander Dobrindt.
Neben Freiheit ist Sicherheit ein zentraler Begriff in Merz’ Rede. An die SPD gerichtet, sagt er: «Frieden entsteht nicht allein durch Friedfertigkeit.» Nach jahrelanger Vernachlässigung der Streitkräfte, an der seine Partei durchaus beteiligt gewesen sei, reiche es nicht aus, 100 Milliarden Euro mehr Schulden für die Bundeswehr zu machen, das Ganze «Sondervermögen» zu nennen und darüber hinaus so weiterzumachen wie bisher. Da müsse mehr geschehen. Es gehe um die Frage, ob Deutschland ein handelndes Subjekt oder Spielball und Verfügungsmasse anderer Staaten und Interessen werde.
«Der historische Feind»
Merz geht an dieser Stelle in der Rede nicht ins Detail. Etwas später, als es um die Europawahl im nächsten Monat und den Krieg in der Ukraine geht, erfährt man aber, wen er vor allem meint: «Europa, das demokratische und freie Europa, ist für Putin der historische Feind.»
Es sei beschämend, dass in ganz Europa Parteien an Boden gewännen, die diese Kraft von innen auch noch unterstützten. Es seien Parteien wie die AfD, «die viele unserer Werte, aber eben auch unser Europa ablehnen, verspotten und von innen zerstören wollen». Es sei auch nicht erst seit zwei Wochen bekannt, dass sie dies mit Schützenhilfe aus Russland täten. Dieser «Kraft der Zersetzung» leiste die CDU und leisteten alle ihre Mitglieder erbitterten Widerstand.
Merz spricht nur über die AfD in dieser Schärfe. Die Linkspartei oder das linksnationale Bündnis Sahra Wagenknecht, kurz BSW, nennt er nicht einmal namentlich. Er sagt nur, dass die CDU mit «den Parteien des linken Populismus» ebenso wenig zusammenarbeiten werde wie mit den Rechtspopulisten. Wer möchte, kann darin ein Hintertürchen für eine mögliche Zusammenarbeit mit der einen oder anderen Partei vom linken Rand sehen, etwa nach der Landtagswahl in Sachsen oder Thüringen im Herbst. Möglichkeiten, das konkrete Personal in dem einen oder anderen Freistaat dann zur verträglichen Ausnahme zu erklären, böten sich nach einer derart vagen Vorrede gewiss.
Knapp 90 Prozent der Delegierten bestätigen Merz am Montag im Amt. Auf dem Parteitag wird das als gutes Ergebnis interpretiert. Aber der eigentliche Test kommt erst noch: die drei Landtagswahlen im Osten der Republik. Falls die CDU in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen zulegt, dürfte dem Parteichef die Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl im nächsten Jahr nicht mehr zu nehmen sein. Andernfalls dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis in der Partei Stimmen laut werden, die ihm für seine Parteiarbeit nach der verlorenen Bundestagswahl 2021 danken, so wie es die Ministerpräsidenten an diesem Montag im Estrel Congress Center tun – und ihm anschliessend nahelegen, den Wahlkampf einem jüngeren Parteifreund mit Regierungserfahrung zu überlassen.