Andreas Niklaus wirft eine spannende Frage auf: Sollen Maturanden Bücher lesen – oder sich dank Programmen wie Chat-GPT in kürzester Zeit möglichst viel Wissen aneignen können? Diese Debatte müsse geführt werden, findet der Präsident der Schulleiterkonferenz.
Herr Niklaus, Sie sind Biologie- und Chemielehrer. Was machen Sie mit künstlicher Intelligenz (KI) mit Ihren Schülerinnen und Schülern?
Seit ich Präsident der Zürcher Schulleiterkonferenz bin, komme ich nicht mehr dazu, zu unterrichten. Die Klasse meiner Tochter arbeitet intensiv mit KI. In Biologie zum Beispiel sollen sie diese Tools explizit brauchen, um Poster und schriftliche Arbeiten anzufertigen – die sie jeweils mit Quellenangaben versehen müssen.
Wie blicken Sie auf diese neue Form des Unterrichts?
Eigentlich positiv. Man kann KI nicht aufhalten. Zuerst gab es einen Aufschrei, ähnlich wie damals, als die ersten Textprogramme mit Autokorrektur verwendet wurden. Das wollte man zunächst auch verhindern, auch das hat nicht funktioniert. Wir müssen KI-Programme als Werkzeuge akzeptieren, einen vernünftigen Umgang damit finden, KI-generierte Resultate hinterfragen und als Basis für Texte verstehen lernen, die von Schülerinnen und Schülern weiterentwickelt werden können.
Hat das Ihre Tochter auch so gemacht?
Ja, sie hat mir einen ganzen Vortrag über die Quellenangaben ihres Posters gehalten. Sie ist in der ersten Gymiklasse, ihr Lehrer hat da sehr gute Arbeit geleistet.
Schreib-Bots wie Chat-GPT bieten viele Möglichkeiten. Mit den richtigen Prompts kann man sich seinen eigenen «Nachhilfelehrer» bauen.
Natürlich. Man kann sich selber trainieren und zusätzliche Testaufgaben samt Lösungen generieren. KI kann einem helfen, an der Prüfung selber die Leistung zu erbringen. Diese Lernprozesse gehen viel weiter, als wenn man Chat-GPT einen Text für eine Hausaufgabe schreiben lässt.
Manche Gymnasien haben den Umgang mit KI bereits in ihrem Leitbild festgehalten. Haben Sie das auch vor an der Kantonsschule Zürich Nord?
Unser Leitbild beschäftigt sich mit übergeordneten Fragen. Aber wir haben einen Digital-Kodex. Dieses Dokument werden wir anpassen mit Erfahrungen mit KI im Unterricht. Eine Kommission hat sich zudem mit den Konsequenzen auseinandergesetzt, die KI für schriftliche Maturarbeiten haben wird. Auf Basis der Empfehlungen des Digital Learning Hub sollen unsere Maturandinnen und Maturanden ihre Arbeit nicht mehr nur präsentieren, sondern verteidigen müssen. So wollen wir testen, ob sie ihr Thema wirklich durchdrungen haben.
Was hören Sie dazu von anderen Zürcher Gymnasien?
Alle Mittelschulen des Kantons machen sich Gedanken, was die KI-Welle konkret für sie bedeutet.
Einige Gymnasien verlangen von ihren Deutsch-Maturanden nicht nur eine Liste, sondern auch eine unterzeichnete Erklärung, dass die Schüler ihre Bücher tatsächlich gelesen haben. Halten Sie das für einen gangbaren Weg?
Das muss jede Schule selber entscheiden. Es ist jedoch schwierig, etwas einzufordern, was man nicht kontrollieren kann.
Im Zürcher Maturitätsreglement heisst es: «Unredlichkeit kann den Ausschluss von der Prüfung, die Verweigerung oder die Ungültigerklärung des Maturitätszeugnisses zur Folge haben.» Ist es unredlich, wenn man mit einer Liste nicht gelesener Bücher zur mündlichen Prüfung antritt?
Das ist eine heikle Frage. Ich halte es vor allem für falsch, da es nicht der Abmachung zwischen Schüler und Lehrer entspricht. Unsere Lehrpersonen erwarten, dass die Maturanden die Bücher auf ihrer Liste tatsächlich gelesen haben. Falls während der mündlichen Prüfung festgestellt wird, dass das besprochene Buch nicht gelesen wurde, führt dies zu einem Abzug in der Note. Die entscheidende Frage geht allerdings viel weiter: Welche Kompetenzen verlangen wir von unseren Maturanden? Kulturelles Wissen dank Lektüre? Oder einen guten Überblick über Bücher: Worum geht es? Wie ist die Handlung einzuordnen? Das konnte der kürzlich in der NZZ beschriebene Schüler, der nach eigenen Angaben keines seiner Bücher gelesen und stattdessen nur mit Chat-GPT gelernt hat, offenbar überzeugend beantworten. Welche Bedeutung soll Lesen künftig haben an den Schulen? Diese Diskussion muss geführt werden.
Was finden Sie?
Ich glaube, dass Lesen eine sehr hohe Bedeutung hat. Wir müssen diesen Prozess den Kindern und Jugendlichen näherbringen. Lesen, langsames Lesen hat viele Vorteile, wenn es darum geht, eine Materie wirklich zu durchdringen. Aber das, was der Maturand in dem erwähnten Text in der NZZ gemacht hat, sollten sie ebenfalls mitbringen: Er hat sich dank KI in kürzester Zeit viel Wissen angeeignet. Das gehört zur Studierfähigkeit dazu. An der Universität ist es einem nicht mehr möglich, alles zu lesen. Die Masse der Materialien ist schlicht zu gross. Also muss man sich mit Hilfsmitteln zurechtfinden.
Was bedeutet das für die anstehende Maturreform auf Bundesebene?
Digitalität ist eine der Kompetenzen, die wir unseren Maturanden und Studierenden künftig vermitteln müssen. Wir brauchen einen Dialog zwischen Mittelschulen und Hochschulen über die Frage: Was wird auf welcher Stufe erwartet? Wie sollen sich Schülerinnen und Studenten Wissen aneignen? Sollen sie selber lesen – oder KI gezielt zur Hilfe nehmen?
Manche Schüler sind in KI fitter als ihre Lehrer. Wäre es nicht wünschenswert, dass die ganze Klasse von den Experten in ihren Reihen profitiert?
Das ist normal, auch bei anderen digitalen Anwendungen im Unterricht. Die guten Schülerinnen und Schüler unterstützen die schwächeren. Lehrpersonen sind froh, wenn sie von den fitten Schülern Tipps bekommen. Das ist nichts Neues. Zu meiner Mittelschulzeit haben Schüler den Lehrern gezeigt, wie Kassettengeräte funktionieren. Wenn man KI in den Unterricht einbauen will, sollten alle vom Wissen der versierten Schülerinnen und Schüler profitieren. Das zeigt sich auch in Gruppenarbeiten – einer erprobten Form der Wissensvermittlung in Schulklassen.
Sind Lehrer bereit, diese Hilfe anzunehmen?
Ich kann nicht für alle Lehrpersonen sprechen. Die einen nehmen Innovationen sofort auf und experimentieren mit ihren Schülern damit, wie zum Beispiel der Biologielehrer meiner Tochter. Die anderen stehen Neuerungen wie KI sehr reserviert gegenüber, bis die neue Technologie derart umfassend eingesetzt wird, dass sie sich dieser Entwicklung nicht mehr entziehen können.
In KI-Weiterbildungen für Lehrpersonen wird viel Zeit verwendet für technische Hürden und Datenschutzfragen. Da haben versierte Schüler einen Vorsprung, da die meisten weder mit dem einen noch mit dem anderen Punkt Probleme haben dürften.
Datenschutz ist extrem wichtig. Wenn man Chat-GPT mit Dokumenten füttert, landen diese irgendwo. Der Digital Learning Hub des Kantons Zürich ist da eine gute Hilfe bei der Frage, was geht und was nicht geht, zum Beispiel bei schulischen Dokumenten. Auch das hat sich mit KI nicht komplett geändert. Wir sind dabei, die Schülerinnen und Schüler für diese Fragen zu sensibilisieren.
Zurück zur mündlichen Matur: Zur gymnasialen Bildung darf es weiterhin dazugehören, dass Maturanden «Faust I» von Goethe gelesen haben – oder etwa nicht?
Wenn Sie mich fragen: ja. Lesen erschliesst neues Wissen auf einzigartige Weise. Es macht resilient. Das ist für mich absolut zentral. Schülerinnen und Schüler können zu sich selbst finden und zur Ruhe kommen, wenn sie sich Zeit nehmen und sich einlassen auf einen Text. Das eine tun, das andere nicht lassen: Man könnte Maturanden zum Beispiel den Auftrag geben, ein Buch zu lesen und sich ein anderes derselben Epoche von einer KI erläutern zu lassen. Dann könnte man die Jugendlichen zum Beispiel fragen: Was ist die Essenz der beiden Werke? Warum gehören sie in die gleiche Zeit? Das wäre vielleicht ein Prüfungsformat der Zukunft.