Die Verhandlungen um eine Waffenruhe stecken fest, und mit einer Offensive auf Rafah droht Israel im Westen seine letzten Sympathien zu verspielen. Es gäbe jedoch eine Option, die weniger schlecht ist als die anderen.
Die vergangenen Tage müssen für die mehr als eine Million Palästinenser in Rafah eine emotionale Achterbahn gewesen sein. Am Montagmorgen forderte Israel die Bewohner des östlichen Teils der Stadt auf, das Gebiet zu verlassen. Am Abend dann machten sich plötzlich Erleichterung und Euphorie breit, nachdem die Hamas mitgeteilt hatte, einem Abkommen für eine Waffenruhe zugestimmt zu haben. Doch aus Israel kam sogleich das Dementi. Seine Bedingungen seien nicht erfüllt. Kurz darauf rollten Panzer über die Grenze in Richtung Rafah.
Ebenso aufwühlend und niederschmetternd dürften diese Ereignisse für die Angehörigen der über hundert Geiseln gewesen sein, die nach wie vor von der Hamas im Gazastreifen festgehalten werden. Für eine kurze Zeit keimte bei den Familien die Hoffnung auf, ihre Liebsten bald wieder zu sehen. Als sie sich wenig später zerschlug, brachen in ganz Israel spontane Proteste aus.
Die Episode zeigt, wie vertrackt die Lage in Gaza sieben Monate nach dem Massaker der Hamas ist. Israel hat seine Kriegsziele, die Hamas zu zerschlagen und die Geiseln zu befreien, noch nicht erreicht. Für Ministerpräsident Netanyahu scheint es keinen naheliegenden Ausweg zu geben, bei dem er sowohl innen- als auch aussenpolitisch sein Gesicht wahren kann. Der Krieg ist in einer Sackgasse angelangt.
Die USA machen halbherzig Druck
Nach wie vor herrscht Verwirrung darum, unter welchen Umständen die Zustimmung der Hamas zu einem Abkommen zustande gekommen ist. Klar ist: Mit dem überraschenden Schritt haben die Terroristen Israel unter erheblichen internationalen Druck gebracht, endlich einzulenken. So wird in Kairo nun fieberhaft weiterverhandelt. Doch die Erfolgsaussichten sind gering.
Die Hamas kämpft um ihr Überleben. Sie wird ihr mächtigstes Faustpfand, die israelischen Geiseln, nicht aus der Hand geben, solange sie davon ausgeht, dass der Krieg danach weitergeht. Israel hingegen wird kein Abkommen akzeptieren, das ein definitives Ende der Kämpfe vorsieht. Ein Gazastreifen, in dem die mörderischen Islamisten an der Macht bleiben, ist für Israel undenkbar – es wäre im Übrigen auch den Palästinensern nicht zu wünschen.
Netanyahu scheint deshalb überzeugt, dass er einen Sieg über die Hamas nur mit einer Offensive auf das mit Flüchtlingen überfüllte Rafah erringen kann – obwohl Israels internationale Partner händeringend versuchen, ihn davon abzubringen. In diesem Zusammenhang wurde jüngst bekannt, dass die USA erstmals in diesem Krieg eine Lieferung von Bomben an den jüdischen Staat zurückhalten. Die Regierung Biden strebt damit keinen Bruch mit Israel an, sondern will vor allem die vom Gaza-Krieg verursachten innenpolitischen Spannungen überbrücken.
Der Erfolg einer Rafah-Offensive ist nicht garantiert
Doch die internationale Kritik am geplanten Grossangriff auf Rafah ist nicht unbegründet. Er hätte mutmasslich katastrophale Konsequenzen: Tausende von palästinensischen Zivilisten könnten getötet werden, die bereits prekäre humanitäre Lage würde sich dramatisch verschlechtern. Es ist mehr als fraglich, ob eine Evakuierung der Zivilbevölkerung überhaupt durchführbar ist. Nicht zuletzt würde sich der jüdische Staat international weiter isolieren. Darauf pokert auch die Hamas.
Zudem ist völlig unklar, was Israel in Rafah militärisch erreichen könnte. Vor einigen Wochen hat sich Israel aus dem südlichen Gazastreifen zurückgezogen und übt keine Kontrolle mehr über die Gebiete aus, welche die Palästinenser im Rahmen einer Evakuierung aufsuchen sollten. Für die Kämpfer der Hamas wäre es ein Leichtes, mit den Flüchtlingsströmen nach Norden auszuweichen. Auch ist die Erfolgsbilanz der israelischen Armee bei der Befreiung von Geiseln äusserst bescheiden. Es besteht das Risiko, dass sich ein Katz-und-Maus-Spiel entspinnt, bei dem Israel nach wochenlangen Kämpfen erneut auf Feld eins stünde.
Ministerpräsident Netanyahu ist nicht zu beneiden – er steht auch innenpolitisch von allen Seiten unter hohem Druck. Seine rechtsextremen Koalitionspartner machen ihm die Hölle heiss, den Krieg fortzuführen. Gleichzeitig hat sich rund um die Angehörigen der Geiseln eine mächtige Protestbewegung formiert. Gemäss einer Umfrage halten 56 Prozent der Israeli ein Abkommen zur Befreiung der Geiseln für wichtiger als eine Offensive auf Rafah.
Eine Mini-Offensive auf Rafah
In dieser Gemengelage scheint Netanyahu auf Zeit zu spielen. Offensichtlich setzt er noch nicht alles auf eine Karte. Bei ihrem Vorstoss in der Nacht auf Dienstag hat die Armee lediglich den Grenzübergang von Rafah unter ihre Kontrolle gebracht. Die zaghaften Reaktionen der USA und Ägyptens auf diese Mini-Offensive lassen vermuten, dass das Vorgehen mit ihnen abgestimmt war.
Womöglich besteht die Überlegung darin, die Hamas einerseits vom Waffenschmuggel über die ägyptische Grenze abzuschneiden und andererseits den Druck mit gezielten Militäraktionen schrittweise zu erhöhen, um die Terrororganisation zu zwingen, einem auch für Israel akzeptablen Waffenstillstandsabkommen zuzustimmen. Tatsächlich wäre dies zum jetzigen Zeitpunkt die am wenigsten schlechte Variante, wobei der Erfolg längst nicht garantiert ist. Ein solches Vorgehen erfordert Fingerspitzengefühl und Zeit – Dinge, die Netanyahu nicht unbedingt hat.