Allein im Park nachdenken, ohne Begleitung auf Reisen gehen: Das kann die Psyche stärken. Wo die Grenze zur Einsamkeit liegt und was Menschen tun können, die unfreiwillig allein sind.
Die Schauspielerin Cate Blanchett war in über 70 Film- und TV-Produktionen zu sehen, hat mehr als 150 Filmpreise abgeräumt – und hat vier Kinder. In einem Interview sagte sie einmal, dass sie einzig im Badezimmer allein sein könne und dort einmal «einen Moment zum Denken» habe.
Und die Schriftstellerin Virginia Woolf schrieb im Titel eines Essays von der Notwendigkeit eines Zimmers für sich allein. Erst im eigenen Raum könnten Frauen kreativ und produktiv sein.
Alleinsein mit den eigenen Gedanken – das ist offenbar ein Luxus, der vielen kaum je vergönnt ist. Aber immer mehr Menschen erkennen, wie wichtig das ist.
Kreativ in der Klause
Dass Alleinsein für die eigene Schaffenskraft entscheidend ist, damit hatte Virginia Woolf recht, das belegt die Forschung zum Alleinsein. Beispielsweise 2017 eine Studie der amerikanischen Universität Buffalo, die rund 300 Studierende mittels Fragebögen psychologisch durchleuchtete und unter anderem dazu befragte, wie häufig und warum sie Zeit allein verbringen. Eines der Ergebnisse: Jene Testpersonen, die zwar gute soziale Kontakte hatten, sich aber auch regelmässig und gerne zurückzogen, schätzten sich in einem Fragebogen als besonders kreativ ein.
Und Alleinzeit hat noch weitere positive Effekte: Sie hilft etwa, sich zu entspannen und Stress abzubauen, bietet Gelegenheit zur Selbstreflexion und fördert generell das persönliche Wachstum. Das gilt für extrovertierte Personen genauso wie für introvertierte.
Alleinsein ist unfair verteilt
Trotz der positiven Wirkung wird Alleinsein in unserer Gesellschaft mit Problemen verbunden. Wer viel Zeit mit sich selbst verbringt, gilt schnell als komisch oder bemitleidenswert. Und ein Leben allein, ohne Partnerschaft, wird häufig als persönliches Scheitern wahrgenommen. Solche Stigmata seien nicht förderlich, sagt Laura Bernardi, Professorin für Demografie und Soziologie des Lebenslaufs an der Universität Lausanne, die sich unter anderem als Herausgeberin eines Buchs über Partnerschaften mit den Themen Alleinsein und Einsamkeit beschäftigt hat. «Stattdessen sollten wir unser Verständnis dafür schärfen, dass wir nicht immer gesellig sein müssen. Und dass Partnerschaft und Kernfamilie nicht die einzigen Möglichkeiten sind, ein erfülltes Leben mit Nähe und Beistand zu führen.»
Zudem: Gerade in Partnerschaften und Familien ist die Alleinzeit ungerecht verteilt. Frauen haben in der Regel deutlich weniger Zeit und Raum zum Alleinsein als Männer. «Das zeigte sich auch während der Covid-19-Pandemie», sagt Bernardi. Sie hat mit ihrem Forschungsteam untersucht, wie während der Zeit des Lockdowns und der sozialen Isolation der Platz im privaten Wohnraum aufgeteilt wurde.
«Enger wurde es in dieser Zeit für alle», sagt Bernardi. Doch es gab einen deutlichen Trend: Wenn es daheim ein ruhiges und privates Zimmer zum Arbeiten gab, nahmen meist die Männer dieses in Beschlag. Dagegen befand sich der Raum der Frauen in den gemeinsam genutzten Zimmern wie der Küche, dem Wohn- oder Schlafzimmer.
Frauen seien punkto Alleinsein klar benachteiligt, sagt auch Sarah Diehl, Autorin der Buchs «Die Freiheit, allein zu sein» und Kulturwissenschafterin in Berlin. «Frauen werden in unserer Gesellschaft noch immer entwertet, wenn sie ihren Weg allein gehen – wenn sie Single oder kinderlos sind», sagt sie.
Ein Leben ohne Kinder etwa werde von aussen häufig nicht als vollwertig angesehen. Und weil der Wert von Frauen in der Gesellschaft damit verknüpft sei, dass sie für andere da sind, sei es für sie auch schwierig, Räume für sich allein in Anspruch zu nehmen.
In der Kernfamilie verbringen Frauen meist viel Zeit damit, sich um andere zu kümmern, sagt auch Laura Bernardi. «Dann wird das Leben stark durch den Rhythmus von jemand anderem bestimmt, von einem Baby, einem Schulkind, einer Person, die man pflegt.» Die eigene Zeit wird unvorhersehbar – und geht unter.
Mehr Raum, mehr Freiheit
Sind die Frauen nicht mehr in einer Partnerschaft, sondern leben allein, geht es ihnen im Durchschnitt besser: Viele haben ein höheres Wohlbefinden, einige blühen regelrecht auf. «Der Mangel an Raum für sich in der Familie und in Partnerschaften ist der Grund, warum Frauen als Singles generell zufriedener sind als Männer», sagt Bernardi.
Mehr noch: Das Alleinsein ohne Partner ist für Frauen sogar dann etwas Gutes, wenn sie es sich nicht selbst ausgesucht haben. Sogar, wenn sie allein sind, weil ihr Mann gestorben ist. «Natürlich nicht sofort danach», sagt Bernardi. Aber nach einer Trauer- und Umstellungsphase von rund zwei Jahren steigen Zufriedenheit und Glücksempfinden von verwitweten Frauen wieder an. Und zwar auf ein höheres Niveau als während der Partnerschaft.
Mut zu Alternativen
Die Kulturwissenschafterin Diehl sieht die jetzige Generation mit vielen Singles und Alleinlebenden als einen Zwischenschritt im Transformationsprozess hin zu vielfältigeren Gemeinschaften. Wie zum Beispiel die «Social Guardianships», die es in Kanada gibt. Dabei können vier Personen vereinbaren, zusammen Eltern für ein Kind zu sein. Teils sind das biologische, teils soziale Eltern, die als Gemeinschaft dieselben Rechte und Pflichten wie eine traditionelle Familie haben. «Viele Menschen sind auch deshalb Singles, weil sie nicht in die Enge der Kleinfamilie wollen, sondern andere Gemeinschaften suchen.»
Doch um den Mut zu haben, sein Leben ausserhalb der gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen zu gestalten, brauche es viel Selbstverständnis und Selbstliebe, sagt Diehl. «In unserer Gesellschaft ist das keine Selbstverständlichkeit, denn uns wird dauernd suggeriert, dass wir in bestimmte Rollen passen müssen, um glücklich zu sein.»
Etwas vom Perfidesten, was diese Denkmuster hervorgebracht haben, ist für Diehl die Angst vieler Frauen davor, allein auf Reisen zu gehen. «Obschon jede Statistik belegt, dass die grösste Gefahr für Frauen von häuslicher Gewalt ausgeht, also von jenen Männern in jenen Räumen, die Schutz bieten sollten – und nicht auf Reisen.»
Ohne Begleitung zu reisen, habe viel Positives. «Allein unterwegs sein heisst auch oft: nach Hilfe fragen», sagt Diehl. «Das schafft Verbindungen zu anderen Leuten und zeigt einem immer wieder, wie grossartig die Menschen sind. So lässt sich ein gewisses Grundvertrauen immer von neuem erleben und üben.»
Allerdings: Sind Leute unfreiwillig länger allein, können sie einsam werden. Und das ist mit psychischen und körperlichen Leiden verbunden, auch dies haben inzwischen viele Studien gezeigt. Wo also liegt die Grenze zwischen fruchtbarem Alleinsein und belastender Einsamkeit?
«Einsamkeit und Alleinsein, das sind zwei unterschiedliche Dinge», sagt die Soziologin Bernardi. «Man kann sich mitten in einer riesigen Menschenmenge einsam fühlen – oder umgekehrt Stunden, Tage, sogar Wochen allein verbringen, ganz ohne Einsamkeitsgefühle.»
Die Bedürfnisse nach Austausch und Nähe seien von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. «Selbst wenn diese Bedürfnisse vorübergehend nicht erfüllt werden, können die meisten von uns das gut verkraften», sagt Bernardi. «Einsam werden Personen dann, wenn sie über längere Zeit hinweg mit weniger Intimität, emotionaler Nähe und Unterstützung auskommen müssen, als sie sich wünschen.» Dagegen sieht Bernardi freiwilliges Alleinsein als starke psychologische Ressource.
Alleinsein als Gestaltungsraum
Und Sarah Diehl betont: «Auch ein unfreiwilliges Alleinsein muss einen nicht unglücklich machen.» Zusammen mit einer Therapeutin führt sie Seminare für Frauen zum Thema Alleinsein durch, zum Beispiel für Singlefrauen ohne Kinder. Mit ihnen spricht sie etwa über die Abgrenzung gegenüber Erwartungen von aussen. Diehl: «Die meisten Frauen gehen davon aus, dass mit 40 Jahren das Leben quasi fertig angerichtet sein muss und sich danach nur noch wenig ändert.» Je älter sie selbst werde, desto verrückter finde sie diese Vorstellung. «Den Erwartungen von aussen, dem Alleinsein – all dem sind wir nicht passiv ausgeliefert. Nutzen wir unseren Gestaltungsspielraum.»
Immer mehr Menschen leben allein
Zwischen 1970 und heute hat sich die Anzahl der Einpersonenhaushalte in der Schweiz mehr als verdreifacht. Heute lebt in über 36 Prozent der Schweizer Haushalte nur eine Person. Mehr geworden sind auch die Haushalte, in denen nur ein Elternteil mit einem Kind oder mehreren Kindern lebt. Dagegen ist die Zahl der Paare mit Kindern nahezu unverändert geblieben. Ähnliches zeigen die Zahlen aus anderen europäischen Ländern wie Deutschland oder England.