The Market sucht die wichtigsten Börsen regelmässig nach Titeln mit hohem Momentum ab. Gut schneiden derzeit Industrie-, Finanz- und Technologievaloren ab. Die «glorreichen Sieben» verlieren derweil an Glanz.
Die Hausse wird von immer mehr Titeln getragen. Das ist das Fazit der Momentumübersicht, die The Market regelmässig erhebt. Ganze 314 der rund 1300 Valoren aus dem S&P 500, dem Stoxx Europe 600 und dem Swiss Performance Index sind stärker als der Nasdaq 100, der unter den bedeutendsten Börsenbarometern einmal mehr den höchsten Kursauftrieb aufweist.
Bei der letzten Bestandesaufnahme im November waren es gerade 100 Titel, die den Nasdaq 100 – den auch damals stärksten Index – hinter sich lassen konnten. Die Zunahme der Marktbreite ist ein gutes Zeichen für den Fortbestand der Hausse. «Aktien werden wieder in, nachdem es lange unternehmensspezifische Gründe waren, die die Kurse bewegt haben», sagt der langjährige Marktbeobachter Alfons Cortés. Die laufende Konsolidierung begrüsst er. «Dadurch sinkt die Gefahr von positiven Rückkoppelungen, die zu einer Überhitzung führen können.»
Wie The Market das Kursmomentum bestimmt
The Market rangiert die rund 1300 Titel, die im amerikanischen S&P 500, im europäischen Stoxx Europe 600 und im heimischen SPI vertreten sind, nach der Kursveränderung über sechs und zwölf Monate. Dies, weil diverse akademische Studien gezeigt haben, dass Valoren, die über diese Perioden gut abgeschnitten haben, auch in den darauffolgenden Monaten die Nase vorn haben. Beide Komponenten erhalten das gleiche Gewicht. Gewinner ist die Aktie mit der im Durchschnitt besten Kursentwicklung.
Für eine Fortsetzung des Aufwärtstrends spricht ferner, dass wie schon im November vor allem Industrie-, Finanz- und Technologiewerte die Indizes höher treiben. Sie gelten als konjunktursensitiv, was gegen den baldigen Eintritt einer Rezession spricht. So argumentierte Cortés im November, als viele Experten noch vor einer Abschwächung der Wirtschaft gewarnt hatten, und so argumentiert er heute noch.
Industriewerte übernehmen die Führung
Interessant dabei: Obwohl der IT-Sektor nach wie vor zu den stärksten drei zählt, stellt er unter den 314 Aktien, die den Nasdaq 100 überflügeln, derzeit «nur» vierzig Vertreter – einen mehr als das Segment der zyklischen Konsumgüter. Aus der Industrie stammen derweil 83 Namen, aus dem Finanzbereich sind es 69.
Die Dominanz dieser Sektoren zeigt sich auch unter den 25 stärksten Aktien (vgl. Tabelle). Nvidia (Technologie) und Rolls-Royce (Industrie) konnten sich in der Spitzengruppe behaupten. Mit dem italienischen Institut Monte dei Paschi di Siena ist nun auch eine Bank aus der europäischen Peripherie, die als Gruppe schon länger Stärke zeigt, in den Top zehn vertreten:
Wenig gefragt sind dagegen defensive Branchen wie Versorger, Basiskonsum und Energie. Sie stellen vier, sieben und acht der 314 Vertreter. Das schwache Abschneiden defensiver Sektoren erklärt auch, warum der Schweizer Leitindex SMI derzeit das Ende der Rangliste der wichtigsten Börsenbarometer ziert. Die drei Schwergewichte Nestlé, Novartis und Roche sind auf den Rängen 1186, 881 und 1194 zu finden. Mit anderen Worten: Momentan sind nur rund hundert Titel schwächer als Nestlé und Roche.
Bodenbildung bei DocMorris überzeugt nicht
Einer der sieben Basiskonsumgüterwerte, die den Nasdaq 100 hinter sich lassen konnten, ist DocMorris auf Rang fünf. Die Valoren der Schweizer Versandapotheke sollten nach langer Hängepartie endlich von der Einführung des E-Rezepts in Deutschland profitieren.
Allerdings ist fraglich, ob die Bodenbildung nach dem Ausverkauf, der die DocMorris-Valoren zwischenzeitlich um 95% einstürzen liess, tatsächlich schon abgeschlossen ist. Der seit Ende 2022 zu beobachtenden Erholung fehlt es an Dynamik, was sich im Kerzen-Chart an den kurzen Körpern zeigt (vgl. gelbe Markierungen in der Grafik, mehr zu Kerzen-Charts und dem Umgang mit Bollinger-Bändern erfahren Sie am Ende des Artikels). Das ist nach einem derart heftigen Einsturz ungewöhnlich. Auch das Handelsvolumen fiel in den letzten Monaten nicht sonderlich hoch aus, was auf ein geringes Kaufinteresse schliessen lässt (untere Balken in der Grafik).
Erhöhte Wachsamkeit ist allerdings auch bei Dauerläufern wie Nvidia angezeigt, deren Papiere seit März konsolidieren, nachdem sie zuvor stark gestiegen sind. «In dieser Phase ist das Bollinger-Band über zwanzig Wochen Navigationsinstrument Nummer eins», sagt Cortés. Dabei interessiert ihn vor allem das Verhalten im nächsten Aufwärtsschub Richtung oberes Band. Lässt dann das Momentum nach, drängt sich ein Rebalancing auf das ursprüngliche Gewicht auf, weil so oft eine Konsolidierung eingeleitet wird, die die Valoren mindestens bis zum gleitenden Durchschnitt zurückführt. Bei Blasenkandidaten kann dieser deutlich unter den aktuellen Notierungen verlaufen.
Vorsicht bei Preisblasen
Überhaupt sind Titel mit dem höchsten Momentum nicht zwingend die besten Investments. «Das Problem der Methode von The Market ist, dass sie nicht zwischen gutem und schlechtem Momentum unterscheidet», sagt Cortés. Schlechtes Momentum haben Aktien, die sich in einer Preisblase befinden, weil sich ihr Kursauftrieb nach langem Aufwärtstrend beschleunigt, was sich an den Bollinger-Bändern zeigt, die auseinanderlaufen und so eine Blase bilden.
Das ist so lange kein Problem, als die Kurse am oberen Band «kleben». Vorsicht ist angezeigt, wenn sich das Momentum abschwächt, was sich am unteren Band ablesen lässt, das sich zu schliessen beginnt – so wie derzeit bei Nvidia (vgl. Pfeil in der Grafik):
Anders präsentiert sich die Lage bei Novo Nordisk und Eli Lilly, den beiden Höhenfliegern aus dem Gesundheitsbereich. Obwohl sie in der Rangliste abgerutscht sind – Eli Lilly steht auf Rang 162, Novo Nordisk auf 173 –, bewegen sie sich weiterhin in einem stabilen Aufwärtstrend, der sich durch einen steigenden gleitenden Durchschnitt und parallel verlaufende Bollinger-Bänder auszeichnet. Zwar konsolidieren auch Lilly und Novo, doch solange sich die Kurse zwischen oberem Band und gleitendem Durchschnitt bewegen, ist der Aufwärtstrend intakt.
«Der Versuch, diesen Gegenbewegungen auszuweichen, gehört zu den grössten Fehlern, die Investoren begehen können, weil sie so einen grossen Teil des Trends verpassen», warnt Cortés. Bei stabilen Trends verkauft er erst, wenn Kurs und relative Stärke unter den flachen oder sinkenden gleitenden Durchschnitt fallen.
Attraktive Nachzügler
Zu den Titeln, die sich in einem stabilen Trend bewegen, zählen auch die bereits erwähnten Banken aus der europäischen Peripherie. Weil sie teils weit unter ihren vor Jahren erzielten Höchst notieren, stuft The Market sie als Nachzügler ein, die aufholen. Gerade weil die Höchst weit entfernt sind, kann das Aufwärtspotenzial gross sein. In diese Kategorie fallen auch UBS und Holcim.
Wie gross das Upside sein kann, haben die beiden Rüstungswerte Rolls-Royce und Leonardo gezeigt, die bei der letzten Bestandesaufnahme als Nachzügler eingestuft wurden. Sie sind inzwischen in den Bereich der Allzeithöchst vorgestossen, die sie letztmals vor zehn und siebzehn Jahren erreicht haben. Nach den starken Avancen drängt sich allerdings eine Konsolidierung auf – auch, weil sich das untere Bollinger-Band zu schliessen beginnt (vgl. Pfeil in der Grafik):
Dennoch oder gerade deswegen werden die beiden Papiere nun zu Ausbruchskandidaten. Sollten sie nach einer allfälligen Konsolidierung die alten Höchst nachhaltig überwinden, ist der Weg frei für Avancen in bisher unbekanntes Terrain.
Spannende Ausbruchskandidaten
Einige der im November genannten Anwärter haben den Ausbruch inzwischen tatsächlich geschafft. Dazu zählen SAP, Safran, Inditex, Buzzi, Visa, Mastercard oder Swissquote. Das Auseinanderlaufen der Bollinger-Bänder nach dem Ausbruch ist kein Problem, sondern Programm, weil auf eine Phase mit niedrigem Momentum eine solche mit höherem Kursauftrieb folgt. Zu den Namen, die demnächst in neue Gefilde vorstossen könnten, zählen ABB, Amazon, Goldman Sachs oder VAT:
Apropos Amazon und Nvidia: Von den medial vielbeachteten «glorreichen Sieben» sind neben diesen beiden Werten nur drei weitere – Meta, Alphabet und Amazon – stärker als der Nasdaq 100, während Apple und Tesla in der Rangliste nach hinten gereicht wurden.
Gut möglich also, dass an den Börsen bald ein neuer Film anläuft, in dem Gold- und Kupferförderer wie Agnico Eagle, Kinross oder Antofagasta eine Hauptrolle spielen. Sie haben jüngst einen überzeugenden Turnaround gezeigt (vgl. gelbe Markierungen in der Grafik zu Agnico: Vorstoss über den gleitenden Durchschnitt, das Zwischenhöchst vom Frühjahr 2023 und das obere Bollinger-Band mit hohem Volumen) oder sind bereits auf neue Höchst ausgebrochen wie Antofagasta.
Die Tabelle zeigt eine Auswahl an Namen aus den vier Momentumkategorien Blase, stabiler Trend, Ausbruch und Nachzügler:
Bollinger-Bänder und japanische Kerzen
Das Konzept geht auf den US-Markttechniker John Bollinger zurück. Die Bänder werden um einen gleitenden Durchschnitt gelegt und erfassen die Volatilität eines Trends. Im Normalfall werden der gleitende Durchschnitt und die Standardabweichung, das statistische Mass für Kursschwankungen, über zwanzig Perioden – seien es Tage, Wochen oder Monate – errechnet.
Das obere Band liegt zwei Standardabweichungen über, das untere zwei Standardabweichungen unter dem gleitenden Durchschnitt. Damit umfassen die Bänder rund 95% aller während der beobachteten Periode bezahlten Kurse. Bollinger-Bänder sind in vielen Chart-Angeboten vorhanden – so zum Beispiel bei finance.yahoo.com.
Diese Angebote ermöglichen ferner, den Kursverlauf als japanischen Kerzen-Chart darzustellen. Im Gegensatz zu einem Linien-Chart, der nur die Schlusskurse miteinander verbindet, zeigen japanische Kerzen Eröffnungs- und Schlusskurs – sie bilden den Körper der Kerze – sowie Höchst- und Tiefstkurs, den Schatten (siehe Grafik weiter unten). Weiss oder grün ist die Kerze, wenn der Schluss- über dem Eröffnungskurs liegt. Schwarz oder je nach Anbieter auch blau oder rot ist sie, wenn der Schluss- unter dem Eröffnungskurs liegt.
Kerzen enthalten wertvolle Informationen zum Momentum eines Titels. Grosse weisse Kerzen ohne Schatten stehen für einen stabilen Aufwärtstrend. Eine Kerze fast ohne Körper, aber mit langem Schatten kann nach einer Hausse auf eine Ermüdung hinweisen.
Besonders spannend ist die Kombination aus Kerzen-Charts und Bollinger-Bändern, wenn Letztere nach längerer Konsolidierung eng beisammen sind und eine grosse grüne oder weisse Kerze den Ausbruch nach oben signalisiert – so wie das im Dezember 2023 bei der US-Investmentbank Goldman Sachs geschehen ist.
Um den Tageslärm auszublenden, setzt Alfons Cortés auf Monats- und Wochendaten. Damit bestimmt er den lang- und den mittelfristigen Trend. Tagesdaten benutzt er einzig zum Timing des Ein- und des Ausstiegs.
Die Anzahl Perioden ergibt sich aus der Historie eines Titels. Zur Beantwortung spezifischer Fragen verwendet Cortés den gleitenden Durchschnitt über zehn Monate zusammen mit Bollinger-Bändern, die 1,9 Standardabweichungen um den Schnitt gelegt werden, sowie 40-Monats-Bänder. So hilft ihm der Zehnmonatsschnitt bei der Bestimmung des Abwärtsrisikos für Aktien, die nach einer Blasenbildung konsolidieren. Der Vierzigmonatsschnitt kommt bei einer aus dem Nichts aufgetretenen Korrektur zum Einsatz, um nicht überstürzt zu handeln und im dümmsten Zeitpunkt verkaufen zu müssen.
Mehr zur Verwendung der Bollinger-Bänder erfahren Sie hier.