Mehrere Fälle von extremer Gewalt erschüttern Frankreich. Es geht um schlecht integrierte Jugendliche, archaische Ehrvorstellungen und die Kontrolle der Sexualität.
Über 1000 Personen versammeln sich am 12. April in Viry-Châtillon, um dem getöteten Jugendlichen Shemseddine zu gedenken. «Ruhe in Frieden, Shemseddine», ist auf Transparenten zu lesen, «Gerechtigkeit für Shems». Die Mutter hat nicht die Kraft, den Trauermarsch für ihren Sohn zu begleiten. Die Medien sind mit einem Grossaufgebot vor Ort.
«Ich habe Angst», so wird eine Schülerin von der Zeitung «Le Figaro» zitiert, «wenn ich einen Freund habe und man mich sieht, könnte ihm etwas zustossen». Tatsächlich musste der 15-jährige «Shems» wohl sterben, weil er mit einem Mädchen befreundet war und sich mit diesem, wie es nach ersten Ermittlungen hiess, «über sexuelle Themen ausgetauscht» haben soll. Er wurde am 4. April von vier vermummten Jugendlichen aus dem Quartier überfallen und derart verprügelt, dass er seinen Verletzungen einige Stunden später erlag.
Selbst linke Politiker sprechen von «neuen Inquisitoren»
Zu den Tatverdächtigen gehören zwei ältere Brüder des Mädchens, die schon andere Jugendliche aufgefordert haben sollen, den Kontakt zu ihrer Schwester abzubrechen. Sie hätten sich, so drückte es der Staatsanwalt aus, um den Ruf des Mädchens und ihrer Familie gesorgt. Der mutmassliche Mord an Shemseddine ist in den Medien als «Ehrenverbrechen» bezeichnet worden. Es war nicht der einzige Kriminalfall, der in letzter Zeit mit schlecht integrierten Jugendlichen und archaischen Ehr- und Religionsvorstellungen zu tun hat.
So wurde am 27. April in Châteauroux der 15-jährige Matisse Marchais nach einem Streit erstochen. Der mutmassliche Täter, ein junger Afghane aus Matisse’ Bekanntenkreis, war wenige Tage zuvor wegen eines Raubüberfalls verhaftet worden. In den sozialen Netzwerken zelebrierte er laut Medienberichten seine Gewaltphantasien; seine Mutter wurde nach Matisse’ Tod ebenfalls verhaftet, weil sie den Jungen mit Ohrfeigen traktiert haben soll. In dem Streit ging es je nach Darstellung um gegenseitige Beschimpfungen oder um einen Rap-Song des Tatverdächtigen, den Matisse kritisierte.
Gerade Fälle wie jener von Shemseddine sorgen über Parteigrenzen hinweg für grosses Aufsehen. Élisabeth Badinter, die Grande Dame des französischen Feminismus, sagte der Zeitschrift «Le Point», sie verstehe, wenn die Leute in manchen Quartieren Angst hätten. Die Gesellschaft sei bei der Integration vieler Einwanderer gescheitert. Statt die Emanzipation zu fördern und demokratische Werte zu vermitteln, habe gerade die Linke zugelassen, dass sich in manchen Quartieren ein islamistischer Kommunitarismus ausbreite. Doch selbst linke Politiker wie Guillaume Lacroix und der Kommunistenführer Fabien Roussel sprechen mittlerweile von «neuen Inquisitoren», von Puritanismus, Konservatismus und religiösem Extremismus.
Erstochen, weil er Alkohol während des Ramadans trank
Frankreich hat schon lange Probleme mit Salafisten, Muslimbrüdern und anderen islamistischen Influencern, die einen rigiden und radikalen Islam verbreiten. Hinzu kommt eine anhaltende Migration aus Ländern, die von rigiden Glaubensvorstellungen geprägt sind. Marokko, Algerien und Tunesien sind seit Jahren die drei wichtigsten Herkunftsländer in der französischen Migrationsstatistik. Von den über 323 000 Personen, die im letzten Jahr einen Erstaufenthaltstitel erhalten haben, stammten laut einem Bericht des «Figaro» 72 Prozent aus mehrheitlich muslimischen Staaten.
Der Journalist Saïd Mahrane, dessen Vater für die algerische Widerstandsbewegung FLN tätig war, ortet in der muslimischen Bevölkerung Frankreichs einen zunehmenden Backlash. Damals habe keine der Schauspielerinnen ein Kopftuch getragen, der Vater keinen Bart. Heute dagegen sei das «Rascheln des Schleiers» dominant. Jugendliche pflegten eine konservative Moral, die sich für überlegen halte und von zwei Worten geprägt werde: «hshouma» (Schande, Scham) und «haram» (unrein, verboten).
«Man kann sich nicht vorstellen, wie viel Leid diese beiden Worte verursacht haben», schreibt Mahrane. «Verräter» an der eigenen Religion und Kultur seien von diesem Rigorismus besonders gefährdet, wie ein Vorfall in Bordeaux zeige. Dort hat ein Afghane am 10. April zwei algerische Männer mit dem Messer attackiert und einen von ihnen tödlich verletzt. Der Angreifer hatte die beiden kritisiert, weil sie im Fastenmonat Ramadan Alkohol tranken, worauf sie ihn mit Bierdosen bewarfen. Das kränkte ihn offenbar so sehr, dass er mit dem Messer zurückkehrte.
«Ich habe sie geraucht», prahlte der Mörder
Am 2. April schlug eine Gruppe Jugendlicher die Schülerin Samara Radjoul in Montpellier bewusstlos. Eine der Hauptverdächtigen ist eine Mitschülerin aus einer konservativen Familie, die ein Kopftuch trägt. Sie soll Samara als «Ungläubige» und «Nutte» gemobbt haben, weil sie sich schminkt und westlich kleidet. Das zumindest behauptet Samaras Mutter.
Die Gewalttat sehen viele Kommentatoren und Politiker als Beweis, dass in manchen Quartieren eine neue «Inquisition» um sich greife. Allerdings sind die Hintergründe bis heute weniger klar, als es manche Medienberichte vermuten lassen. Ein kürzlich publizierter Untersuchungsbericht des Bildungsministeriums konnte die Mobbingvorwürfe von Samaras Mutter nicht bestätigen. Zudem behauptet die mutmassliche Rädelsführerin der Attacke, Samara habe sie in den sozialen Netzwerken verleumdet, und der Konflikt habe nichts mit Religion zu tun gehabt.
Selbst der Anwalt von Samara räumt auf Anfrage der NZZ ein, gewisse Aspekte seien übertrieben worden, hält jedoch daran fest, dass der Konflikt kulturelle Ursachen habe. Die juristische Untersuchung ist erst angelaufen.
Dass ein derartiger Vorfall zu voreiligen Schlüssen verleitet, ist jedoch kein Zufall. Die Gesetze der Republik gelten in manchen Quartieren tatsächlich weniger als jene der «grands frères», der grossen Brüder. Bereits vor 20 Jahren berichteten Lehrer im Buch «Les Territoires perdus de la République» von einer sexistischen, ausgrenzenden Kultur in Banlieues. Schüler hätten keinen Respekt vor Lehrerinnen, Mädchen würden wegen eines Jupes als «Nutten» beschimpft oder von grossen Brüdern aufgefordert, nicht mit Franzosen zu spielen und ein Kopftuch zu tragen.
Immer wieder kommt es zu Ehrenmorden, vor allem an Frauen. Die dreifache Mutter Chahinez Daoud wurde 2021 von ihrem Ehemann auf offener Strasse niedergeschossen, angezündet und verbrannt, weil sie sich von ihm emanzipieren wollte. In Creil, wo Islamisten 1989 erstmals eine Machtdemonstration inszenierten – drei Mädchen weigerten sich, ihr Kopftuch abzulegen –, sticht ein Jugendlicher 2019 auf seine Freundin Shaïna ein, überschüttet sie mit Benzin und zündet sie bei lebendigem Leibe an. «Ich habe sie geraucht», prahlt er nach der Tat, er habe sie getötet, weil sie schwanger von ihm gewesen sei. Er wolle nicht «Vater eines Hurensohns sein».
«Sexistische Ghettos», in denen Frauen gefährlich leben
Die «Charlie Hebdo»-Journalistin Laure Daussy hat den Fall in einer einjährigen Recherche in Creil aufgearbeitet und darüber ein Buch geschrieben, «La Réputation». Gemäss ihrer Darstellung wurde Shaïna Opfer von Verleumdungen und Gerüchten, wonach sie ein «leichtes Mädchen» und eine Hure sei. Zwei Jahre vor ihrem Tod vergingen sich mehrere Jugendliche aus dem Quartier an ihr, sie wurde gefilmt und gedemütigt. Weil sie zur Polizei ging, wurde sie verprügelt, die Justiz unternahm nichts, um sie zu schützen.
«#MeToo hat an den Grenzen mancher Quartiere aufgehört», sagte Daussy in einem Interview mit der Fondation Jean-Jaurès, es seien «sexistische Ghettos» entstanden. Femizide gebe es in allen gesellschaftlichen Milieus, aber das Problem der sozialen Kontrolle und der Überwachung, das vor allem muslimische Mädchen unterwerfe, sei spezifisch. So würden die Jugendlichen selber von einer «Moralbrigade» sprechen, Mädchen zögen es vor, ein Kopftuch zu tragen, um nicht belästigt zu werden. Sie lebten in Angst, in sozialen Netzwerken als «fille facile» markiert zu werden, wenn sie sich mit einem Jungen träfen oder einen eigenen Kleidungsstil pflegten.
Ein in Saudiarabien ausgebildeter Imam, den Daussy in Creil traf, erklärte ihr, das Tragen eines Rocks sei aus religiösen Gründen verboten. Der Mörder von Shaïna ist laut Daussy kein Islamist – aber er sei gefangen gewesen in einem «religiösen Rigorismus». Dieser Rigorismus habe sich erst in der zweiten und dritten Einwanderergeneration akzentuiert. Daussy wirft besonders jüngeren Feministinnen vor, diese Probleme mit einem «bleiernen Diskurs» zu verwischen: Sie behaupteten, derartige Phänomene gebe es überall, und stellten die Bewohner der betroffenen Quartiere kollektiv als Opfer einer rassistischen Gesellschaft dar. Damit würden Frauen allein gelassen.
Wie das Beispiel Shemseddine zeigt, richtet sich die Gewalt mancher «grands frères» nicht nur gegen Frauen. Gemäss einem Bericht der Zeitung «Le Figaro» sprach der Bürgermeister von Viry-Châtillon am Trauermarsch für den ermordeten Jugendlichen viel über die Gefahr sozialer Netzwerke und über Videospiele, über dringend benötigte Finanzen für die öffentliche Sicherheit. Die «grands frères» habe er nicht angesprochen. Das oben erwähnte Mädchen Samara wird nach Auskunft ihres Anwalts künftig eine katholische Schule besuchen. Der Mörder von Shaïna ist kürzlich zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Laure Daussy: La Réputation. Enquête sur la fabrique des «filles faciles». Editions Les Échappés, Paris 2023. 220 S., € 19.50.