Die Industrie trägt weit mehr zur deutschen Wertschöpfung bei als in den meisten Nachbarstaaten, wo der Anteil seit Jahrzehnten schrumpft. Auch wegen der Ausnahmestellung von Konzernen wie Volkswagen, Bayer und Siemens. Doch grobe Fehler der Führungskräfte gefährden diese Position.
Bald werden in Deutschland auch die Schlote mit dem Rauchen aufhören. Dieser Gedanke drängt sich auf beim Lesen der Unternehmensberichte und Manager-Interviews, und das nicht nur wegen der Klimawende.
Wer den scheidenden BASF-Chef Martin Brudermüller über seinen Stammsitz reden hört, möchte nicht Bürgermeister von Ludwigshafen sein. «In den vergangenen zwei Jahren hat die deutsche chemische Industrie mehr als 20% ihrer Nachfrage verloren und damit Ludwigshafen seine Auslastung. Darauf muss man reagieren.», sagte Brudermüller Mitte April.
Aufhorchen lässt vor allem, dass Brudermüller einen beträchtlichen Teil des Schrumpfens der europäischen Branche während der vergangenen Jahre für strukturell bedingt hält. «Ich schätze, dass rund die Hälfte des Rückgangs darauf beruht, dass die europäische Chemieindustrie nicht mehr wettbewerbsfähig genug ist, um aus Europa heraus zu exportieren. Dieses Volumen haben also andere Anbieter in der Welt übernommen, die billiger produzieren können», prognostizierte er. Soll heissen: Dieses Geschäft kommt nie mehr zurück.
Der Weltkonzern BASF investiert selbst stark in China, wo er günstig produzieren kann und wo auch ein erheblicher Teil der Nachfrage ist. Die Basischemie – das Massengeschäft, das inzwischen viele beherrschen – wandert ab. Das ist so lange kein Problem, wie die Unternehmen neue Geschäfte entwickeln, bei denen sie führend sind und gut verdienen.
Nachholender Strukturwandel wie in Frankreich und den USA
Lange Zeit ist es der Industrie in Deutschland gut gelungen, durch Innovationen führend zu bleiben, sagt Harald Preissler, Ökonom und Kapitalmarktstratege beim bankunabhängigen Vermögensverwalter Bantleon. «Deutschland hatte 30 bis 40 Jahre lang eine Sonderstellung, weil es sich dem Strukturwandel von der Industrie zu Dienstleistungen entzogen hat.»
Die Industrie trägt 27% zur deutschen Wirtschaftsleistung bei, ähnlich viel wie in Japan und nur wenig mehr als in Österreich und der Schweiz . Doch schon Spanien und die Niederlande kommen nur auf rund 20%, die USA, Frankreich und Grossbritannien auf weniger als 18%.
Doch die guten Zeiten für die deutsche Industrie scheinen vorbei zu sein. Für das laufende Jahr prognostiziert der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ein Minus in der Industrieproduktion um 1,5% im Vergleich zum Vorjahr. BDI-Präsident Siegfried Russwurm beklagte auf der Industriemesse in Hannover «zwei verlorene Jahre» durch die Ampelkoalition in Berlin und warnte: «Deutschland fällt 2024 voraussichtlich weiter zurück.»
Dass sich Deutschland dem anteiligen Schrumpfen des Fertigungssektors entziehen konnte, lag nicht zuletzt an der weltweiten Sonderstellung der heimischen Automobilindustrie. Volkswagen, Mercedes und BMW stützten auch die vielen Zulieferer bis hinein in die Chemieindustrie. Doch diese Sonderstellung der Autohersteller aus Stuttgart, München und insbesondere Wolfsburg scheint zumindest teilweise gefährdet zu sein. Die Elektrifizierung setzt das Geschäft der Deutschen absehbar unter Druck, gerade das Massengeschäft mit günstigen Autos.
«Der Strukturwandel weg von der Industrie beschleunigt sich, seit China 2016 den Wandel zur Elektromobilität beschlossen hat», konstatiert Bantleon-Ökonom Preissler. Die Folgen dieses Umbruchs lassen sich bei Volkswagen beobachten. Der Marktanteil des Konzerns auf seinem wichtigsten Markt China ist seit 2019 signifikant gesunken. Bei Elektroautos spielt der einstige Marktführer, der kürzlich vom einheimischen Rivalen BYD abgelöst wurde, bislang keine grosse Rolle.
Es wäre «sehr respektabel», bei Elektroautos in China einen Marktanteil von mehr als 10% zu erreichen angesichts des harten Wettbewerbs, sagte Volkswagen-Konzernchef Oliver Blume im April.
Der Preiskampf im Land ist hart. Chinesische Hersteller können ihn besser aushalten als die westliche Konkurrenz: Gemäss einer Studie der Grossbank UBS vom August 2023, bei der Techniker das Modell «Seal» des chinesischen Marktführers und Elektroauto-Spezialisten BYD zerlegten, liegen die Herstellungskosten um 25% unter denen westlicher Hersteller aus der Verbrenner-Ära wie Volkswagen. Die Chinesen «haben das Auto aus dem Herrschaftsbereich der westlichen Industrieländer herausgeholt», sagt Karl Haeusgen, Präsident des Maschinenbauerverbands VDMA.
Missmanagement verstärkt den Strukturwandel
Die Probleme von Volkswagen bei der Elektromobilität zeigen beispielhaft, wie die Misere von Teilen der deutschen Industrie durch Missmanagement mitverursacht worden ist. «Die deutschen Hersteller haben den Trend zu Elektroautos lange verschlafen», kritisiert Preissler. Als China mit dem 13. Fünfjahresplan für die Jahre 2016–2020 die Wende zu Elektroautos festlegte, waren die oft als Dieselmotor-Ingenieure aufgestiegenen Topmanager des Wolfsburger Konzerns gerade stark mit den Folgen des Diesel- und Abgasskandals beschäftigt.
Ein zweites Beispiel für Missmanagement ist Bayer. Der Fehlkauf des Agrarkonzerns Monsanto hat zu immer neuen Milliardenzahlungen an Schadenersatz geführt. Auch wenn die meisten wissenschaftlichen Studien keinen Zusammenhang zwischen den Pflanzenschutzmitteln von Monsanto und Krebserkrankungen sehen: Der Leverkusener Konzern ist durch die Übernahme zum Selbstbedienungsladen für die US-Klageindustrie geworden. Deshalb fehlt Kapital für dringend benötigte Investitionen in neue Medikamentenkandidaten für das Pharmageschäft von Bayer.
Ein drittes Beispiel für Missmanagement ist Siemens Energy. Die Siemens-Abspaltung fusionierte ihr Windturbinengeschäft mit der offenbar arg problembehafteten spanischen Gamesa. Seitdem haben wechselnde Manager die Qualitätsprobleme nicht in den Griff bekommen. Allein im Geschäftsjahr bis September 2023 schrieb Siemens Energy 4,6 Mrd. € Verlust.
Seit dem vergangenem August ist der Vertrieb von zwei Windkraftplattformen zur Aufstellung an Land (onshore) gestoppt. Die Manager, die den Nachnamen des Werner von Siemens im Firmenschild führen, der einst die Elektroindustrie geprägt hat, können bei der aktuellen Elektrifizierung der Wirtschaft also einiges nicht liefern. Nun tauscht Siemens-Energy-CEO Christian Bruch den Chef beim Windturbinenhersteller Siemens Gamesa erneut aus.
Mit guter Führung und Strategie können deutsche Unternehmen auch in der Industrie dagegen durchaus gegen die Konkurrenz aus China und anderen Ländern bestehen. In Deutschland gibt es weiterhin viele Maschinenbauer, die ihre Nische dominieren und Chinas günstigere Rivalen deshalb nicht zu fürchten brauchen. «Maschinenbauer dort suchen sich bewusst Standardmaschinen aus, die sie in grosser Zahl herstellen können», sagt VDMA-Präsident Haeusgen. «Dagegen liegt die europäische Stärke in einer effizienten Multi-Nischen-Strategie.»
In der Schweiz und in Österreich wächst die Industrie noch
Es lohnt sich, für innovative Geschäftsmodelle zu kämpfen, auch in der Industrie. Der Schweiz und auch Österreich ist das in den vergangenen zwei Dekaden besser gelungen. «Die deutsche Industrieproduktion liegt auf dem selben Niveau wie vor zwanzig Jahren», sagt Ökonom Preissler. «Seitdem ist sie in Österreich und der Schweiz um rund 40% gestiegen.»
Die Politik in Berlin sollte prüfen, was sie von den Kollegen in Bern und Wien lernen kann. Doch auch für manche Unternehmensmanager lohnt sich ein kritischer Blick auf das eigene Wirken. Dass Deutschland bald vielleicht nicht mehr das führende Autoland ist, liegt mindestens ebenso sehr an Fehlentscheidungen in Wolfsburg als an jenen in der Hauptstadt. Die Schwäche von Bayer ist ebenfalls zum grossen Teil hausgemacht. Und das Ringen um Marktanteile bei Windkraftanlagen wird schwer, falls Siemens Energy weiterhin vor allem mit den eigenen Problemen beschäftigt bleibt.