Die Schweiz beginnt ihr WM-Abenteuer mit einem ungefährdeten 5:2-Sieg gegen Norwegen, eine Eishockey-Nation, die am Abgrund steht. Schon jetzt macht sich bemerkbar, wie stark die Schweiz von der Präsenz der Lichtgestalt Roman Josi profitiert.
Norwegen ist die Weltnummer 12 im Eishockey – und doch irgendwie ein Exot. Seit 2013 hat die Nation nie mehr einen WM-Viertelfinal erreicht, unter den knapp 5,5 Millionen Staatsbürgern gibt es 1942 lizenzierte männliche Eishockeyspieler. Die Zürcher Gemeinde Wila hat mehr Einwohner.
Das Eishockey in Norwegen liegt darnieder, der Verband schrieb so viel Verlust, dass er 2023 sämtliche Aktivitäten einstellen musste; alle Teams spielten monatelang keine Partien, weil sich Norges Ishockeyforbund Austragungen und Reisen nicht leisten konnte. Es war eine internationale Peinlichkeit für eines der reichsten Länder der Welt.
Es lohnt sich, diese Umstände im Hinterkopf zu behalten, wenn es um die Einordnung des Schweizer WM-Auftakts geht. 5:2 siegten die Schweizer gegen einen überforderten Gegner in Prag; es war über weite Strecken das erwartete Schaulaufen.
Roman Josi bestreitet bereits seine neunte WM
Die Schweiz ist mit grossen Hoffnungen und dem besten Kader der Neuzeit nach Tschechien gereist. Die Addition der Lichtgestalt Roman Josi hat eine Euphorie ausgelöst und die ohnehin hohen Erwartungen weiter geschürt. Der Captain der Nashville Predators absolviert seine erste WM seit 2019. Es spricht für Josis Demut, dass er sich der Schweiz noch einmal zur Verfügung stellt, zum neunten Mal schon. Spieler seines Renommees tun das in den wenigsten Fällen, dafür ist der Stellenwert von Weltmeisterschaften in Nordamerika zu gering. Viele begnügen sich damit, einmal anzureisen, Gold zu gewinnen und die internationale Karriere dann zu beenden.
Wobei der Entscheid, dass die NHL-Spieler ab 2026 wieder an den Olympischen Spielen teilnehmen, eine neue Dynamik entfacht hat: Die WM 2024 ist deutlich besser besetzt als jene im Vorjahr; es gibt Spieler, die sich heute schon in Stellung bringen wollen, um 2026 in Italien dabei zu sein. Schweden zum Beispiel ist mit 18 NHL-Spielern angereist, etwa mit den Weltklasseverteidigern Victor Hedman (Tampa Bay) und Erik Karlsson (Pittsburgh), die sich in der gleichen Sphäre wie Josi bewegen.
Für die Schweiz ist die Präsenz Josis fraglos von höherer Bedeutung als jene von Hedman und Karlsson für Schweden. Josi, 33, ist ein Superstar, wie die Schweiz ihn sonst noch nie hatte. Und der Trainer Patrick Fischer lag mit seiner Einschätzung bestimmt richtig, als er sagte, dass Josis Präsenz den Effekt habe, «jeden Mitspieler ein paar Zentimeter grösser» zu machen.
Gegen Norwegen brauchte es keinen Josi von intergalaktischem Format, es handelte sich um einen Aufbaugegner, der dem Schweizer Tempo wenig bis nichts entgegenzusetzen hatte. Ohnehin ist die Gruppenphase nicht mehr als überdimensioniertes, fast zweiwöchiges Geplänkel, welches in erster Linie dazu dient, dem Weltverband IIHF Einnahmen zu bescheren. Es ist jedenfalls unvorstellbar, dass die Schweiz mit diesem Kader hinter Norwegen, Österreich, Grossbritannien oder Dänemark landet. Eigentlich geht es einzig darum, sich im Duell mit Finnland, dem Gastgeber Tschechien und Kanada in eine möglichst vorteilhafte Position für den Viertelfinal vom 23. Mai zu bringen. Fraglos käme es den Schweizern gelegen, hiesse der Widersacher dort nicht Schweden. Wie die Schweiz warten die Schweden seit 2018 auf eine Teilnahme am Finalwochenende – gemessen an ihren Möglichkeiten ist das ein Armutszeugnis.
Zuletzt scheiterten die Schweizer zwei Mal als klar favorisierter Gruppensieger
Es hat sich in den letzten Jahren regelmässig gezeigt, wie unbedeutend die Gruppenphase ist. Die Schweiz dominierte sie oft nach Belieben, was ihr aber bei der Überwindung ihres tiefsitzenden Viertelfinal-Komplexes nicht half: 2022 und 2023 scheiterten die Schweizer jeweils als Gruppensieger und klare Favoriten. Kanada unterlag 2023 Norwegen und der Schweiz – und wurde dann trotzdem Weltmeister.
Der unter einigem Druck stehende Trainer Patrick Fischer hat seinen Staff unter anderem um einen «Performancecoach» erweitert, einen ehemaligen Profi-Wrestler. Er soll dabei helfen, sicherzustellen, dass die Schweizer in diesem Frühjahr am «Tag X» bereit sind. Fischer sagt: «Unter höchstem Druck als Favorit zu reüssieren, ist der schwierigste Schritt. Die Kunst besteht darin, auch dann alles auszublenden, wenn jeder auf dich schaut. In einem Mannschaftssport sollten das alle können, das erschwert das Ganze.»
Wichtiger dürfte Josi sein, er ist der Mann, der die Blockade aufbrechen kann. Es ist bestimmt kein Zufall, dass er bei den Silbermedaillen von 2013 in Stockholm und 2018 in Kopenhagen jeweils dabei war und eine Schlüsselrolle einnahm. Sechs Vorrundenspiele verbleiben, um den kollektiven Rhythmus zu finden. Nächster Gegner ist am Sonntagabend Österreich, bei dem ein alter Bekannter an der Bande steht: Die Ikone Arno Del Curto wirkt mit 67 als Assistent des Cheftrainers Roger Bader.