Der Anwaltsverband kritisiert das Vorgehen der Behörden.
Häftlinge, die wochenlang auf ihren Übertritt in die Untersuchungshaft warten müssen, zu wenig frische Kleidung für die Insassen und eine Umquartierung von männlichen Häftlingen in ein Frauengefängnis: Die Lage in den Zürcher Untersuchungsgefängnissen hat sich in den letzten Monaten derart zugespitzt, dass die Justizbehörden zu einem Notfallregime übergehen mussten.
Der Grund für die Verhältnisse: Derzeit sind die Zürcher Untersuchungsgefängnisse bis auf den letzten Platz belegt. Im Moment stehen rund 500 Zellenplätze zur Verfügung. Auf Anfrage schreibt das zuständige Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung (Juwe), im Kanton Zürich befänden sich momentan rund 80 Personen mehr in Untersuchungs- und Sicherheitshaft als bei der letzten starken Beanspruchung im Jahr 2019.
Das gleiche Bild gibt es auch in anderen Kantonen. Das zeigt die Statistik des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug, das regelmässig die Belegungsquoten in den Gefängnissen erhebt. Diese Quote hat sich schweizweit von 90 Prozent im Februar 2023 auf 96 Prozent im Februar 2024 erhöht.
Die Ursache für die hohe Belegung: Es werden deutlich mehr Straftaten verzeichnet als in früheren Jahren. Diebesbanden, Kriminaltouristen, Betrüger und Gewalttäter: Sie alle tragen dazu bei, dass die Gefängnisse in der Schweiz überfüllt sind. Im vergangenen Jahr wurden im Land über 520 000 Straftaten begangen – der höchste Wert seit zehn Jahren. Das entspricht einer Zunahme von 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und der Trend hält bis jetzt auch in diesem Jahr an.
Im Kanton Zürich kommt noch etwas anderes dazu: Zwar ist das Gefängnis Zürich-West mittlerweile voll in Betrieb, doch das Gefängnis in Pfäffikon, in dem bis zu siebzig Untersuchungshäftlinge untergebracht werden könnten, ist wegen Umbauarbeiten geschlossen. Beteiligte sprechen deshalb von einem «perfekten Sturm».
Mit einer Reform sollte alles besser werden
Der Kanton Zürich stand in der Vergangenheit wegen des strengen Haftregimes und der veralteten Infrastruktur immer wieder in der Kritik. Zürichs Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) machte sich deshalb daran, die Untersuchungshaft zu reformieren. Den Entschluss fasste sie bei einem Gefängnisbesuch 2015, als sie erfuhr, dass die Insassen auch im Sommer nur einmal pro Woche duschen durften.
Weil 99 Prozent aller Häftlinge wieder auf freien Fuss kämen, sei die Wiedereingliederung von der ersten Minute nach der Verhaftung an zentral, sagte Fehr.
Die Untersuchungshaft ist für die meisten Tatverdächtigen ein Schock. Um eine Flucht, Absprachen oder das Zerstören von Beweismitteln zu verhindern, schränken die Behörden die Bewegungsfreiheit der Betroffenen stark ein.
Fehrs Plan lautete deshalb, die negativen Begleiterscheinungen so gut wie möglich abzufedern. Geschehen sollte dies unter anderem mit Gruppenvollzug und mehr Beschäftigungsmassnahmen. Auch das 2022 eröffnete Gefängnis Zürich-West sollte zur Verbesserung beitragen. Statt bloss eine Stunde sollen Untersuchungshäftlinge heute wochentags bis zu acht Stunden ausserhalb der Zelle verbringen können. Jeder Insasse soll arbeiten und Kurse besuchen können. Auch die Sportangebote wurden ausgebaut.
So zumindest lautet die Theorie.
Doch die Realität sieht derzeit anders aus, vor allem für jene Inhaftierten, die sich im Regime der vorläufigen Festnahme befinden. Die Institution sei «am Anschlag», sagen die Anwälte, die Insassen müssten tagelang dieselbe Kleidung tragen, weil Kleider nicht in genügender Kadenz gewechselt würden. Inhaftierte müssten zudem 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle verbringen.
Einzahlungen von Angehörigen würden blockiert, bis der Übertritt in die U-Haft erfolge. Weiter fehle es an Hygieneartikeln, weder der Kioskbesuch noch der Kontakt zu Angehörigen sei möglich. Dazu komme im Fall des neuen Gefängnisses Zürich-West die ungenügende Luftqualität, es sei heiss und stickig. Der offene Vollzug, viel gerühmt von Jacqueline Fehr selber, sei so bloss toter Buchstabe, sagt ein Anwalt.
Die Situation macht auch den Angestellten zu schaffen. Ein Mitarbeiter des Gefängnisses Zürich-West wiederum schildert gegenüber dem Newsportal «20 Minuten», das zuerst über die Situation berichtet hat, dass die Arbeit teilweise fast nicht zu schaffen sei. Die Belastung sei hoch und die Atmosphäre im Gefängnis schlecht. Alle, Aufseher und Insassen, seien am Anschlag.
Die Folgen: Inhaftierte befinden sich im falschen Setting
Das hat Folgen: Inhaftierte Personen, gegen die bereits Untersuchungshaft angeordnet wurde, befanden sich vorübergehend noch im Setting der vorläufigen Festnahme. Anwälte berichten der NZZ von Klienten, die bis zu drei Wochen in der «vorläufigen Festnahme» gesessen seien.
Das Vorgehen der Behörden weckt Kritik. Die Situation sei in den letzten Monaten für die betroffenen Personen gerade in der ersten Phase der Untersuchungshaft sehr schwierig gewesen, sagt Gregor Münch vom Vorstand des Zürcher Anwaltsverbands. «Das Regime in der vorläufigen Festnahme ist um einiges restriktiver als die bereits belastende Untersuchungshaft.»
Münch sagt, es sei zwar schwierig zu beurteilen, ob die aussergewöhnlich vielen Haftfälle oder auch Planungsfehler zu der angespannten Situation geführt hätten. Klar sei aber auch, dass die Haftpraxis in der Schweiz äusserst restriktiv sei und Untersuchungshaft häufiger angeordnet werde als in anderen europäischen Staaten. «Dabei gäbe es mildere Ersatzmassnahmen wie elektronische Fussfesseln, ein Kontaktverbot oder eine Fluchtkaution.»
Das Amt für Juwe selbst spricht von einer unerwünschten Situation, die man inzwischen aber bis auf wenige Fälle habe bereinigen können. Beim Amt heisst es aber auch, Versetzungen in die Untersuchungshaft im Gefängnis Zürich-West, in die Untersuchungsgefängnisse Zürich sowie in die angrenzenden Kantone seien derzeit immer noch nicht ohne weiteres möglich. Es brauche zudem sehr viel Fingerspitzengefühl bei der Besetzung von Mehrbettzellen und bei der Zusammensetzung der Inhaftierten in den Gefängnissen selbst.
Laut «20 Minuten» hat das zuständige Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung die Untersuchungsgefängnisse in einem Schreiben zu einem Sondereffort aufgefordert, bis sich die Situation wieder entspanne. Ausserdem müssten nach Möglichkeit zusätzliche Plätze geschaffen werden. So hat das auf weibliche Inhaftierte spezialisierte Gefängnis Dielsdorf eine Abteilung umfunktionieren müssen. Nun sind dort sowohl Männer wie Frauen getrennt untergebracht. Entsprechende Informationen liegen auch der NZZ vor.
Die Behörden haben auf die Situation reagiert
Das Juwe antwortet auf eine Anfrage der NZZ, es seien verschiedene Massnahmen ergriffen worden, um die Situation im Gefängnis Zürich-West zu verbessern. Dazu gehörten etwa das häufigere Anbieten von frischer Kleidung sowie der Zugang zu einem breiteren Kioskangebot. Mängelkontrollen hätten beim Lüftungssystem punktuelle Defizite in einzelnen Räumen aufgezeigt, Verbesserungsmassnahmen würden nun umgesetzt.
Wie das Juwe weiter mitteilt, ist die Untersuchungshaft im neuen Gefängnis seit diesem Februar mit 117 Plätzen nun erstmals voll in Betrieb. Der Regierungsrat sprach vergangenes Jahr ausserplanmässig 82 neue feste sowie 23 befristete Stellen für das Gefängnis Zürich-West. Inzwischen seien alle neugeschaffenen Aufsichts- und Betreuungsstellen besetzt worden, heisst es beim Juwe. Bei den Stellen für den Gesundheitsdienst sei die Besetzung noch im Gange.