Im Bündner Ferreratal tobt ein Streit um das international bekannte Klettergebiet Magic Wood. Die Gemeinde ist gespalten und pleite. Dem langjährigen Pächter droht der Rauswurf. Eine Berg-Saga.
Bisher ist der Förster ruhig geblieben und hat dem Gemeindepräsidenten zugehört. Jetzt platzt ihm der Kragen. «Mir rücken die Ämter auf die Pelle, und ihr seid zu blöd, euch gemeinsam an einen Tisch zu setzen.» Er steht auf, dreht sich zum Pächter um und sagt: «Und du, hör auf zu trötzeln, und bring die Kohle!» Dann stürmt er aus der Turnhalle.
Sechs Stunden zuvor, Parkplatz des Bodhi Camping. Es ist Ende April. Markus Niederdorfer, Gemeindepräsident von Ferrera, biegt auf den schneebedeckten Platz ein. Von hier aus führt ein Weg in den Magic Wood; das sind über 300 zum Klettern geeignete Felsen in einer paradiesischen Bach- und Waldlandschaft. Zum Bouldern braucht man kein Seil, man klettert nicht höher als drei Meter.
Der Magic Wood zählt zu den zehn beliebtesten Boulder-Gebieten der Welt. In den 1990er Jahren begannen Pioniere aus Österreich in der Val Ferrera zu klettern. Nach der Jahrtausendwende kamen jährlich mehrere tausend Boulderer aus der ganzen Welt in den Magic Wood. Im vergangenen Jahr waren es 20 000.
Die Entwicklung führte dazu, dass die Infrastruktur heute völlig überlastet ist: Die Kläranlage beim Camping ist zu klein, es fehlt an Parkplätzen, und die einzige Brücke, die in den Magic Wood führt, wurde im Sommer 2022 durch ein Unwetter beschädigt.
Die marode Infrastruktur gehört der Gemeinde. Weil ihr das Geld für Renovationen fehlt, hat sie Ende April ein Crowdfunding gestartet. Das Ziel ist es, 250 000 Franken bis Ende Jahr zu sammeln. «Die Boulderer sollen etwas spenden», sagt Niederdorfer, «sonst müssen wir den Camping leider schliessen.»
Das Konzept fürs Crowdfunding will Niederdorfer am Abend in der alten Turnhalle vorstellen. Er fragt sich, ob der Pächter auftauchen wird.
In der Dorfbeiz wird laute Musik gespielt
Thomas Saluz entdeckt Anfang der 2000er Jahre den Magic Wood für sich. Damals ist die Szene klein, alle kennen sich. Saluz hat eine Idee: auf dem Camping Sandwiches und Bier zu verkaufen. Er geht damit zur Gemeinde. Der Vorstand schlägt ihm vor, den Camping gleich als Pächter zu führen. Saluz willigt ein.
Zuvor hat die Gemeinde den Camping selber geführt. Unter der Leitung von Saluz steigen die jährlichen Übernachtungszahlen sprunghaft von 4000 auf 9000. Nicht weil mehr Gäste kommen, sondern weil Saluz kontrolliert, dass auch bezahlt wird. «Ich brachte Ordnung ins Chaos», sagt er.
2012 übernimmt Saluz auch die Pacht für das Gasthaus Edelweiss und die Gruppenunterkunft Generoso beim Dorfeingang. Er haucht Ausserferrera neues Leben ein: Im Hochsommer ist es schwierig, hier ein freies Zimmer zu finden.
Die Entwicklung missfällt den Alteingesessenen im Dorf. Sie meiden ihre alte Dorfbeiz, weil dort jetzt laute Musik gespielt wird. Saluz hat sich Feinde gemacht. «Das Dorf ist gespalten», sagt er.
Mit der ersten Corona-Welle erfährt der Magic Wood einen Schub. Die Kletterhallen sind geschlossen, der Wald lockt. Das führt zu Chaos: Boulderer hinterlassen Abfall und Fäkalien im Wald, sie parkieren kreuz und quer entlang der Talstrasse, die Polizei schleppt Autos ab. Die Gemeinde hat genug. 2020 kündigt sie Saluz den Pachtvertrag.
Doch dieser gibt nicht auf. Für Saluz steht zu viel auf dem Spiel. Der Campingplatz ist sein Lebenswerk; er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern im Dorf. Saluz geht gerichtlich gegen die Gemeinde vor. Die Szene unterstützt ihn: 6000 Boulderer fordern in einer Petition, dass Saluz Pächter bleibt. Dieser einigt sich schliesslich mit der Gemeinde aussergerichtlich: Die Pacht wird zu neuen Konditionen verlängert.
Ende Jahr läuft dieser Vertrag aus. Die Gemeinde denkt darüber nach, den Camping selber zu führen oder einen anderen Pächter einzustellen.
Saluz hat ein eigenes Konzept. Er will, dass der Camping künftig von einer Trägerschaft aus Gemeindemitgliedern und Vertretern der Boulder-Szene geführt wird. Dafür würde er 4 Franken pro Übernachtung an die Gemeinde abtreten. So kämen jedes Jahr 60 000 Franken zusammen. Mit diesem Geld könnten eine neue Brücke, neue Parkplätze oder eine neue Kläranlage finanziert werden.
Ferrera ist pleite
Zwei Stunden vor der Informationsveranstaltung geht Niederdorfer in seinem Büro die Powerpoint-Folien durch. Seit einem Jahr ist er Gemeindepräsident von Ferrera, das aus den beiden Dörfern Ausser- und Innerferrera besteht. Er ist der vierte in sechs Jahren. Der Verschleiss an Präsidenten in Ferrera ist auch wegen des Streits mit der Boulder-Szene so hoch.
Aus eigener Kraft kann Ferrera die Projekte beim Magic Wood nicht finanzieren: Die Gemeinde ist pleite. 2022 regnete es kaum, und darum blieben die Stauseen fast leer. Der Wasserzins brach zusammen, der normalerweise 90 Prozent der Einnahmen von Ferrera ausmacht. Die Gemeinde beschäftigt sieben Mitarbeitende und führt eine Sägerei. Die 80 Einheimischen zahlen zu wenig Steuern, um diese Ausgaben zu finanzieren.
Um das Loch in der Kasse zu stopfen, verzichtete Niederdorfer, der zu 30 Prozent bei der Gemeinde eingestellt ist, auf einen Drittel seines Lohns. Er strich alle externen Beratungen und geplanten Investitionen zusammen, das Weihnachtsessen wurde in die alte Turnhalle verschoben. Die Gemeinde schrieb zwei Maiensässe zum Verkauf aus.
Tscholi und Tschätta verteilen Preise
Das Crowdfunding ist Niederdorfers Baby. Eigenhändig hat er das Projekt aus dem Boden gestampft. Die Berner Werbeagentur The Buddies hat die App entwickelt, worüber man spenden kann. Kostenpunkt: 15 000 Franken. Niederdorfer und die Gemeindekanzlistin Melanie Jörg bewirtschaften die App.
Jörg und Niederdorfer führen zudem einen Blog auf Instagram, der die Mitglieder über den Spendenverlauf informiert. Dort erzählen sie als «Steinkatzen»-Maskottchen Tscholi und Tschätta Geschichten aus dem Magic Wood.
Die Boulderer werden mit Preisen zum Spenden animiert. Für 30 Franken gibt es eine Tasse, für 50 Franken eine Bürste zum Putzen der Griffe an den Felsen. Wer 500 Franken spendet, wird vom Gemeindepräsidenten höchstpersönlich in seinem Maiensäss bekocht. Ein Viertel der Einnahmen fliesst an die Boulder-Szene zurück und kommt dem lokalen Gewerbe zugute.
Mit Saluz’ Konzept wären der Gemeinde jährliche Einnahmen für Projekte beim Magic Wood garantiert. Doch Niederdorfer will davon nichts wissen: Würde die Gemeinde den Camping selber betreiben, könnte sie 25 Franken pro Übernachtung verlangen und damit doppelt so viel Umsatz wie Saluz erzielen. Zudem will sich die Gemeinde nicht in eine Trägerschaft einbinden lassen.
Für Niederdorfer ist der Weg deshalb klar: Er will, dass die Gemeinde den Camping ab nächstem Jahr selber führt oder die Pacht neu ausschreibt. Falls das Crowdfunding scheitert, behält er sich vor, den Camping zu schliessen und einen Zaun um den Magic Wood zu ziehen.
«Kindergarten» am Info-Abend
In der Ecke der alten Turnhalle in Ausserferrera steht ein Tisch mit Flyern, Bürsten, Tassen, Tscholi- und Tschätta-Plüschtieren. Die Spaltung des Dorfs zeigt sich an der Sitzordnung: Links sitzen die Boulderer, rechts die Gemeindevertreter und Alteingesessenen. 18 Einheimische sind gekommen, zuhinterst links sitzt Saluz.
Niederdorfer stellt die Kampagne vor und erklärt, warum es sie braucht. Er präsentiert sein Konzept für die künftige Betriebsführung. Bis hierhin verläuft der Abend gesittet.
Dann kommt die Fragerunde. Es beginnt mit einer Frau, die fragt, wofür man überhaupt spende: Man wisse ja nicht, ob Saluz im nächsten Jahr Pächter bleibe. «Das hängt vom Erfolg des Crowdfundings ab», sagt Niederdorfer.
Die Boulderer fühlen sich durch diese Aussage erpresst. Sie beharren auf dem Konzept von Saluz. Hätte man diesem im vergangenen Jahr zugestimmt, wäre bereits heute Geld an die Gemeinde geflossen. Sie sagen: «Tassen und Maskottchen sind zwar herzig, aber kein Konzept.»
Jetzt läuft der Kopf des Gemeindepräsidenten rot an. Er, der so viel in die Kampagne investiert hat, sagt, dass sich die Boulderer nur beklagten, während er etwas auf die Beine stelle. Saluz will zum Konter ansetzen. Doch ihm verschlägt es wortwörtlich die Sprache.
In diesem Stil geht es weiter. Boulderer und Alteingesessene holen alte Geschichten hervor und decken sich gegenseitig mit Vorwürfen zu. Es fällt mehrmals das Wort «Kindergarten». Seit fünfzehn Jahren führe man die gleiche Diskussion. Schliesslich nimmt der Förster Reissaus.
Der Schnee ist weg
Ein paar Tage später: Boulderer pilgern mit ihren Sturzmatten in den Magic Wood. Der Schnee ist geschmolzen. Ein Hoffnungsschimmer für Saluz, der wegen des kalten Wetters einen schlechten April hatte.
Die Diskussionen am Info-Anlass lösten bei ihm etwas aus. Er ist bereit, die Preise im Camping um zwei Franken zu erhöhen. Den Betrag will er Ende Jahr ans Crowdfunding spenden. Unter einer Bedingung: dass er auch im nächsten Jahr Pächter bleibt.
Derweil streift Niederdorfer durch den Magic Wood und spricht die Boulderer direkt aufs Crowdfunding an. Bisher wurde er enttäuscht: In den ersten zwei Wochen sind nur 1500 Franken zusammengekommen. Geht es in diesem Tempo weiter, wird das Ziel klar verpasst.
Immerhin wird die neue Brücke gebaut, sie soll im Juli eingeweiht werden. Auch die Parkplatzplanung komme voran, sagt Niederdorfer. Wie es mit der Pacht weitergeht, wird die Gemeindeversammlung im August entscheiden. Schon jetzt werden im Tal die Messer gewetzt.