Eine Reise in den Dschungel führt in die verborgene Welt der Pygmäen, einem der ältesten Urvölker Afrikas.
Der Weg zu den Pygmäen führt im Südosten Kameruns über den Fluss Dja und aus der Brandrodungszone hinaus, hinein in einen dichten Hochwald. Dort führt ein Pfad in eine andere Welt. Auf einer Lichtung lagern Pygmäen vom Stamm der Baka.
Sie sind nicht so klein wie angenommen. Grösser jedenfalls als die 1 Meter 50, die oft als Durchschnittsgrösse genannt werden. Vielleicht sollte man sie statt als Zwergvölker besser als Waldmenschen bezeichnen. Sie leben im Wald und sind weniger durch eine gemeinsame Physiognomie charakterisiert als durch ihre Lebensweise.
Die Baka wohnen in einem Dutzend mit Laub gedeckten Hütten. Diese haben einen Durchmesser von vielleicht zwei Metern, sind eineinhalb Meter hoch und haben einen Eingang aus Palmwedeln. Davor sitzen Gruppen von Männern, Frauen und Kindern auf Baumstämmen am Feuer.
Die Waldmenschen von Dja wirken entspannt, in ihre Arbeiten versunken, die sie ohne Hast und Eile verrichten. Sie befassen sich mit den essenziellen Dingen des Lebens. Sie machen nur, was sie machen müssen, um zu leben, nichts extra, wie der Führer sagt. Sie hätten nicht la vie moderne, le développement, ihm würde das fehlen.
Schon bei der Seife fängt die lange Reihe der Güter an, die man als Nicht-Waldmensch kaufen würde. Doch dazu müsste man Zeit und Organisation aufbringen, um Geld zu verdienen, das man für das Kosmetikmittel brauchte. Lebensnotwendig sind solche Güter nicht, und die Baka setzen andere Prioritäten.
Sie sitzen lange vor ihren Hütten und plaudern. Sie wirken nicht so, als gingen ihnen wesentliche Teile des Lebens ab. Insofern kann man sie nicht als «arm» bezeichnen.
Buben lernen jagen, Mädchen sammeln
Gegenüber den Blicken der Besucher, die ein paar Schritte nebenan verweilen und von denen sie Welten trennen, bleiben sie unbefangen. Das Leben im Hüttendorf ist arm an ungewohnten Ereignissen, deswegen sind die Waldmenschen lebhaft interessiert an Computern und deren Bildern, an Verrichtungen wie Zähneputzen oder an einem Zelt als Schlafstätte.
Niemand von ihnen kann lesen und schreiben oder weiss sein Alter. Das sind Kenntnisse, die fürs Jagen und Sammeln nicht wesentlich sind.
Die Kinder gehen nicht zur Schule. Stattdessen lernen die Buben von klein auf jagen, die Mädchen sammeln. Die Buben machen sehr bald die Arbeiten ihrer Papas nach, sie werden allesamt Jäger. Seit neuestem gehen allerdings frühmorgens drei, vier Kinder mit einem Stück Maniok in der Hand in die Schule in das nächste grössere Dorf, eine gute Stunde Fussmarsch von hier entfernt. Das ist der Versuch eines Bildungsprojekts.
Die Eltern entscheiden, wer in die Schule geht und wer nicht. Die grosse Mehrheit bleibt im Lager. Diese Kinder schwärmen morgens mit den Erwachsenen aus, um die Nahrung für den Tag zu sammeln und zu erjagen sowie Holz und Blätter für Feuer und Laubhütte zu holen. Diejenigen, die in der Siedlung bleiben, unterhalten sich andauernd angeregt in einem langsam rhythmisierten Singsang.
Besucher können wählen, ob sie in einer Laubhütte oder in einem mitgebrachten Zelt übernachten möchten.
Der verlockende Genuss eines fetten Wurms
Die Waldmenschen haben gemäss unserem Entwicklungsdenken zwei Entwicklungen der Jungsteinzeit nicht mitgemacht: Sie säen nicht, sie ernten nicht, und sie halten keine Nutztiere. Und finden doch ihr Auskommen. Sie sind Jäger und Sammlerinnen geblieben. Unglaublich, was sie aus dem Wald herausholen. Hier ein Insekt. Dort eine Wurzel. Blätter werden eingesammelt. Ein paar Fischlein, Krebse, eine kleine Schildkröte dazu. Auch ein fetter weisser Wurm wird noch aus einem modernden Baumstamm hervorgeholt, ein Leckerbissen.
Stolz hat sich ein junger Mann eine schwarze Schlange um den Hals gelegt, die er erlegt hat. Auch sie wird die Vielfalt im Kochtopf erweitern.
Auf dem Weg in den Wald gibt es eine Kleintierjagd. Ein Stachelschwein ist aufgespürt worden und in seinen unterirdischen Bau geflüchtet. Vor den beiden Ausgängen werden Kinder postiert, und vor einem wird ein Feuer entfacht. Der eindringende Rauch nötigt das Tier zur Flucht aus dem anderen Ausgang, wo es abgepasst wird. Gleich wird ihm die Gurgel durchgeschnitten – das ist in dieser Jahreszeit am Ende der Trockenzeit im Februar eine reiche Beute.
Schätze der Bakas: Naturheilkunde im Urwald
Ein fester Bestandteil des Besuchsprogramms ist ein Waldrundgang, in dem wir nach medizinalen Baumrinden, Wurzeln und Blättern suchen, die von den Waldmenschen zur Behandlung verschiedener Beschwerden wie Augenkrankheiten, Magenprobleme und Impotenz sowie zur Blutstillung verwendet werden. Ein muskulöser junger Mann klettert an einer Liane einen Baum hoch, um nach dem Honig wilder Bienen zu suchen.
Gold des Regenwalds: Ein Baka-Mann presst Honig für die Zubereitung von Coco in Blätter und bindet sie danach für den Transport ins Dorf zu Bündeln zusammen.
Eine Gruppe von Menschen macht sich auf eine Exkursion in den tiefen Wald. An der Spitze geht der Führer, der mit der Machete den Weg freischlägt. Dahinter folgen junge Männer und Kinder. Es ist Trockenzeit. Der Wald ist durchzogen von kleinen, kaum kenntlichen Spuren, die eher Wildfährten als Wegen gleichen.
Das Laub raschelt unter den Schritten. Der Ausflug in den Wald ist nie Selbstzweck oder Erbauung der Seele. Er führt nicht in die europäische Empfindungswelt von Eichendorff oder Schumann. Der Wald wird zum Sammeln von Wurzeln, Pflanzen und Kleingetier genutzt.
Die erstaunliche Gabe der Lianen als Wasserquelle
Die Baka sind gewandte Waldwanderer. Das Tempo des Führers ist zügig. Auch die Kinder gehen flott und halten Schritt. Ihr Gezwitscher weist den Weg, denn im Blättermeer des Unterholzes kann man nicht weit sehen. Für den Weissen, auch den wandererprobten, gibt es einige Beschwernisse. Er stolpert über verdeckte Wurzeln, verfängt sich in Lianen, die ihn zu Boden reissen, aus herabhängenden Ästen lassen sich Ameisen, Würmer und andere lästige Insekten auf ihn fallen, Ameisen beissen sich fest, so schnell man auch über ihre Strassen hinwegschreitet; vor allem aber ist es drückend schwül.
Die Waldmenschen gehen barfüssig und mit nacktem Oberkörper. Niemand stürzt, niemand flucht, niemand schwitzt. Kein Zeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung. Wasser braucht man keines mitzunehmen. Der Wald ist voller Wasserlianen. Mit einer scharfen Machete hackt der Führer ein Stück heraus, und sobald man es senkrecht hält, rieselt reichlich Wasser heraus.
Die ökonomische Dynamik des Waldtourismus
Wenn man am ersten Tag einer Expedition zu den Pygmäen im Lager der Waldmenschen ankommt, ist man am Ende einer Dienstleistungskette angelangt. Man wird begleitet von einem Führer sowie von einem Ranger und einem Träger. Die örtlichen Führer sind meist ehemalige Mitarbeiter des Nationalparks aus den umliegenden Dörfern. Sie haben es geschafft, eine eigene Agentur zu gründen, die das letzte Glied der Dienstleistungskette «Besuch bei den Pygmäen» anbietet: direkten Kontakt und Aufenthalt bei den Waldmenschen.
Die Pygmäen erhalten dafür etwas Geld und reichlich Palmschnaps als Abgeltung. Allerdings würde ein grösserer Geldeinschuss ihr Leben so gründlich ändern, dass sie als touristische Attraktion an Interesse einbüssten.
Der Führer übersetzt und vermittelt zwischen den Besuchern und den Waldmenschen. Er ist für die Gaben an die Baka-Gemeinschaft verantwortlich, der Besucher gibt Gastgeschenke drauf. Manche tun das reichlich und, weil es so am einfachsten ist, in Form von Geld. So bringt der Tourismus die Geldwirtschaft in den Wald.
Die Aussenwirtschaft der Waldmenschen beruht auf Tausch. Sie tauschen gegen die Ausbeute ihrer Jagd- und Sammeltätigkeit extern erzeugte Produkte ein, wie die unentbehrlichen Macheten, die Kochtöpfe, das Plastikgeschirr, die Plastikkanister oder Maniok – und: von den Dörflern gebrannten Palmschnaps.
Im Tausch für Maniok arbeiten einige Frauen auf den Feldern der Dörfler, wenn die Jagdausbeute ausserhalb der Regenzeit knapp ist. Die Gaben des Führers bestehen aus Geld und zahlreichen Flaschen Palmschnaps.
Der Alkohol ist die unentbehrliche motivation für die abendlichen Tanzvorführungen der Baka. Daran nehmen alle teil, Frauen, Männer, Kinder. Bizarre Tanzfiguren und jodelähnliche Gesänge, unterlegt von unablässigem Tamtam-Getrommel, mitten im Wald erzeugen eine eindrückliche Abendstimmung.
Die ursprüngliche Lebensweise ist bedroht
Die Nachbarn in den Dörfern am Rande des Waldes werden als «Grands Noirs» bezeichnet. Sie sind grösser gewachsen als die Waldmenschen und blicken auf diese herab. Manchmal ist diese Herablassung gutmütig, zuweilen geht sie in Verachtung über. Sie fühlen sich zivilisatorisch überlegen, auf einer höheren Entwicklungsstufe als die Waldmenschen.
Ein Mädchen aus den Dörfern würde niemals in einen Baka-Clan einheiraten, da es das Leben dort als rückständig empfindet. Wenn man es danach fragt, erntet man nur Gelächter. Das Dorfmädchen möchte sich ein solches Leben nicht antun. Umgekehrt heiraten Baka-Mädchen schon in die Dörfer der «Grands Noirs» ein. Es kommt auch vor, dass Männer von diesen Dörfern in den Wald kommen, um dort eine Baka-Frau zu finden. Manchmal versuchen angetrunkene Dorfburschen dort auch Mädchen gewaltsam zu entführen. Dann ist eine Intervention der jeweiligen Chefs und gegebenenfalls der Nationalparkautorität erforderlich.
Die Waldmenschen und die «gross-schwarzen» Dörfler pflegen einen Austausch, der trotz der Ungleichheit der Austauschverhältnisse für beide Seiten von Nutzen ist. Die grösste Bedrohung für die Waldmenschen sind diejenigen, die den Wald abholzen.
Die Strassen Kameruns sind voll von Lastwagen, die riesige Baumstämme abtransportieren. Die Fläche an Wald, von dem die Waldmenschen leben, verringert sich stetig. Die Logik der wirtschaftlichen «Entwicklung» ist immer die gleiche: Wir können den Wald effizienter nutzen als die Jäger und Sammler. Wir verkaufen das wertvolle Holz und nutzen die gewonnenen Flächen für intensive Landwirtschaft. Davon können viel mehr Menschen leben.
Der Tourismus könnte zu einer höheren Wertschätzung für die Baka beitragen. Die Beobachtung, dass Menschen aus wohlhabenden Regionen der Welt der Lebensweise der Waldmenschen Interesse und Respekt entgegenbringen, mag dazu führen, dass diese nicht als «rückständig» oder «unterentwickelt» angesehen wird.
Eine weitere Begegnung im Dschungel
Ein einfacher Tagesausflug führt in Kamerun zu einer weiteren Begegnung mit Pygmäen in den Siedlungen Kribi und Lobé, die recht nahe beieinander liegen.
Der Ort, an dem sich der Fluss Lobé in einem spektakulären Wasserfall ins Meer wirft, ist eine Haupttouristenattraktion. Etwas oberhalb des Wasserfalls kann man sich in der Piroge stromaufwärts rudern lassen. Von beiden Seiten neigt sich eine Wand grünen Waldes in den Fluss. Äffchen hüpfen von Ast zu Ast, Tukane rufen einander zu. Das ist, wie man sich eine Fahrt im Dschungel vorstellen mag, wäre da nicht ein fernes Dröhnen im Hintergrund. Es hört auch nach der nächsten Flussbiegung nicht auf. Die ganze Zeit hört man das ferne Autobahngedröhne der unzähligen Lastwagen, die zu dem neuen Containerhafen an der Atlantikküste fahren – und von dort kommen.
Wir landen bei einer ersten Pygmäensiedlung. Die Pygmäen hier sind erwartungskonform kleinwüchsig. Sie wohnen nicht in Laubhütten, sondern in Holzbaracken, die einen etwas heruntergekommenen Eindruck machen, und sie betreiben auch schon ein wenig Landwirtschaft. Sie sind also nicht mehr nur Jäger und Sammlerinnen. Sie haben sich den umliegenden Dörfern angepasst. Auf dem Weg zum campement finden sich etliche Plastikbeutel, mundgerechte Kleinbeutel von rund einem Deziliter, die aufgebissen wurden, um den darin abgefüllten Rum auszusuckeln.
Der zweischneidige Charakter des Alkohols im Urwald
Alkoholkonsum ist ethnien- und zivilisationsübergreifend ein Problem. In ganz Kamerun trifft man vormittags schon Angetrunkene an. Der junge kräftige Chef der Siedlung gibt kurz und routiniert den rasch aufeinanderfolgenden Besuchergruppen grundlegende Informationen. Wie man Chef wird: als ältester Sohn des vorherigen Chefs; wie man eine Frau findet: Da alle Bewohner dieser Siedlung miteinander verwandt sind, muss man mindestens ins nächste campement gehen. Stört der ferne Autobahnlärm nicht? Doch, den empfinde man als lästig, und der Stamm überlege deswegen auch, die Siedlung weiter in den Wald hinein zu verlegen. Allerdings würden dorthin auch weniger Touristen kommen, und die sind mittlerweile eine Haupteinnahmequelle der Gemeinschaft. Wieso sind ausser ihm fast keine Jungen zu sehen? Alle Jungen seien auf der Jagd im Wald.
Wir beschliessen kurzerhand, unsere Flussreise dorthin fortzusetzen. Eine Flussfahrtstunde entfernt liegt die zweite Pygmäensiedlung am Ende einer Erdpiste. Der alte Chef dort freut sich sehr, dass nach längerer Zeit wieder einmal Besucher gekommen sind. Fast alle Touristen begnügen sich aus Zeitgründen mit einem Besuch im ersten campement. Mit den mitgebrachten Geschenken ist er aber nicht zufrieden und gibt deutlich zu verstehen, dass er mehr Geld erwartet.
In dieser Gegend sind die Pygmäen, zumindest die nahe lebenden, Attraktionen, die zum touristischen Standardprogramm gehören. Sie sind aus dem Wald an den Rand der touristischen Routen hervorgekommen und haben ihre charakteristische Lebensweise als Jäger und Sammlerinnen zum Teil aufgegeben.
Touristische Attraktion aber nicht Akteure in der Tourismusindustrie
Die Tauschwirtschaft ist zu einem guten Teil von der Geldwirtschaft abgelöst worden. Entsprechend werden Gastgeschenke in Geldform erwartet. Der Bootsmann und Übersetzer, wiederum kein Pygmäe, sondern ein Dörfler, bestreitet das Endmodul einer Dienstleistungskette, das man separat buchen kann, wenn man den Weg dorthin findet, das aber zumeist von Tourismusunternehmern grösserer Reichweite in ihr Programm eingebaut wird. Das ist eine andere Form des Pygmäentourismus als jene im Reservat des Dja. Aber auch hier sind die Pygmäen Attraktion und nicht Akteure der Tourismusindustrie. Im Vergleich zu ihren Nachbarn im Dorf erscheinen sie als «arm».
Im benachbarten Campo-Reservat nutzt ein Tourismusprojekt ihre speziellen Fähigkeiten im Wald, die sie am meisten auszeichnen: Sie arbeiten am Aufspüren von Gorillas und an deren Gewöhnung an die Begegnung mit Menschen. Führer und Vermittler von Begegnungen im Wald: Vielleicht ist das die adäquateste Beteiligung der Waldmenschen am Tourismus in einem massentouristisch wenig erschlossenen Land.