Der Weltmeister Max Verstappen wird in Imola auf den letzten Runden hart gefordert und zittert sich zu einem knappen Sieg. Die Konkurrenten liegen auf der Lauer, allen voran jene von McLaren und Ferrari.
Zuerst war nur ein Seufzer zu hören, dann folgte lediglich ein Wörtchen: «Fast». So beschrieb der McLaren-Fahrer Lando Norris aus dem Cockpit heraus, wie es sich anfühlte, als er um die Kleinigkeit von 0,725 Sekunden hinter Max Verstappen ins Ziel gekommen war. Das Votum des Briten am Schluss des Formel-1-Grand-Prix der Emilia Romagna zeigte zugleich, wie sich die Machtverhältnisse in der Königsklasse rapide verändert haben. Verstappen und Red Bull Racing spüren den heissen Atem der Angreifer.
Noch ist nicht geklärt, ob das Weltmeisterteam aufgrund von schwankenden Reifenleistungen schwächelt oder ob es tatsächlich ins Wanken geraten ist. Dass es zu einem Zusammenrücken an der Spitze gekommen ist, beweist auch die Punktevergabe an der siebten WM-Station: McLaren errang in Imola 30 Zähler, Red Bull 29, Ferrari 25.
In Monte Carlo und Montreal werden Kopf-an-Kopf-Rennen kaum möglich sein
Die letzten zehn Rennrunden im Autodromo Enzo e Dino Ferrari waren die vielleicht aufregendsten der Saison, auch wenn sich kein entscheidender Überholvorgang ereignete. Max Verstappen konnte sich mit abgenutzten Pneus, einer leeren Batterie und einem rutschenden Auto nur dank seinen aussergewöhnlichen Fähigkeiten zum fünften Saisonsieg retten. McLarens Teamchef Andrea Stella, der Vater der Aufholjagd von Lando Norris, frohlockte: «Es ist gut für die Formel 1, dass es jetzt mehr als einen Rennstall gibt, der gewinnen kann.»
Lots to unpack here. 😅 Worth every second of the 3-minute watch. 📺#ImolaGP 🇮🇹 pic.twitter.com/qXol2LaXxU
— McLaren (@McLarenF1) May 19, 2024
Norris, der jüngst in Miami seinen ersten Sieg in der Formel 1 gefeiert hatte, drückte den Wandel an der Spitze so aus: «Frustriert über einen zweiten Platz zu sein, das fühlt sich für mich noch komisch an.» Ein, zwei Runden noch, glaubte der britische Shooting-Star, und er hätte Verstappen überholt. Nur, auch das zeigte Imola: Mit Nah-dran-Sein ist man noch lange nicht vorbei. Doch die Chance ist da, die Bullen bei den Hörnern zu packen.
McLarens zweiter Fahrer, Oscar Piastri, der in der Qualifikation Verstappen bis auf die Winzigkeit von 74 Tausendstel nahe gekommen war und im Rennen Vierter wurde, potenziert das Selbstbewusstsein, indem er prognostiziert, dass sein Rennstall unterdessen auf allen Strecken um den Sieg kämpfen könne.
Aus neutraler Sicht ist es etwas schade, dass nun im WM-Kalender mit Monte Carlo und Montreal zwei Rennen folgen, in denen aufgrund der Streckencharakteristik Kopf-an-Kopf-Rennen kaum möglich sind.
A special Pole 👊 Equalling a special record 💪#F1 || #ImolaGP 🇮🇹pic.twitter.com/Y1I4ZWPDCm
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Spitzenfahrer können sich wie Bluthunde verhalten
Der Trend ist aber gesetzt mit den Weckrufen von Miami und Imola. Red Bull ist nach den technischen Upgrades der Konkurrenten nicht mehr überlegen und verrennt sich häufiger bei der Fahrzeugabstimmung. Genau das war auch das Ziel von Ferraris Teamchef Fred Vasseur, der vor dem Heimpublikum in Imola mit dem dritten Platz von Charles Leclerc einen Achtungserfolg einfahren konnte. Vasseur ist es wichtig, Red Bull auf Augenhöhe zu begegnen. Mit viel positiver Energie soll der Druck jetzt erhöht werden. Die dramatische Schlussphase in der Emilia Romagna lieferte besten Anschauungsunterricht.
Ciao Imola, grazie di tutto 💚🤍❤️#ImolaGP #F1 pic.twitter.com/lb7Ml4Hwh6
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Tatsächlich könnte es in der WM bereits im zweiten Saisonviertel zu einem Umschwung kommen. Auch weil sich Rivalen in der Formel 1 wie Bluthunde verhalten. Sie besitzen ein besonderes Gespür dafür, Schwächen und Ängste von anderen zu erkennen. Neu an der Situation ist nur, dass Red Bull sich fortgesetzt Blösse gibt.
Max Verstappen aber ist einer, der an Herausforderungen wächst. Der souveräner agiert, je mehr sich die Dinge zuspitzen. Während seines Verteidigungskampfes in Imola über die letzten Runden, in denen der orangefarbene Fleck des McLaren in seinem Rückspiegel immer grösser wurde, drohte ihm auch noch eine Zeitstrafe, nachdem er zu Beginn des Rennens dreimal über die Seitenmarkierungen der Piste geräubert war. Die hohe Konzentrationsfähigkeit trieb den Titelhalter dann zur stärksten Performance des Jahres.
Dass noch reichlich Kapazitäten beim 26-Jährigen vorhanden sind, zeigt der Umstand, dass er am vergangenen Formel-1-Wochenende parallel zum richtigen Rennen auch an einem Simulator-Wettkampf teilnahm – und dort ebenfalls den Sieg davontrug.
Pushed all the way to the line 😱 You had us worried at the end there, @McLarenF1 😅#F1 || #ImolaGP 🇮🇹 pic.twitter.com/gjl8IqjThM
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Red Bull Racing muss nach Kapriolen im Personalbereich seinen Teamgeist beschwören
Durch die Generalüberholung der Rennwagen von McLaren und Ferrari sehen die Topmodelle nicht nur immer ähnlicher aus, sie haben sich auch leistungsmässig angeglichen. Es ist ein Dreikampf am Limit geworden. Deshalb spricht Verstappen von harter Arbeit als Basis seines Erfolges. Trotz allen Beschwerden über eine mangelhafte Fahrzeugbalance vermittelt er den Eindruck, dass er sich endlich wieder herausgefordert fühlt. Die Siegquote des Niederländers in seiner Karriere ist mit 30,7 Prozent nun die höchste von allen Formel-1-Fahrern.
Doch Hundertstel um Hundertstel schleifen die Angreifer bei den Rundenzeiten ab, der Ehrgeiz und die Chancen wirken offenkundig selbstbeschleunigend. Bei Ferrari wie bei McLaren beginnt sich die Aufrüstung in den Rennfabriken auszuzahlen. Und Red Bull Racing muss nach den Kapriolen im Personalbereich zum Saisonstart seinen Teamgeist beschwören. Noch scheint das gut zu gelingen, auch wenn ausgerechnet jetzt Verstappens Beifahrer Sergio Perez wieder unzuverlässiger wirkt. Der Spanier wurde in Imola nur Achter.
Lando Norris hingegen hat sich endgültig als Herausforderer emanzipiert und positioniert sich entsprechend. «Wir sind vielleicht noch nicht ganz auf dem Niveau von Red Bull. Aber wir wissen, dass wir auf dem richtigen Weg sind», sagte der Fast-Sieger.