Jahrzehntelang verschleierten britische Regierungen die Verantwortung für HIV-Infektionen von Blutern. Jetzt spricht Premierminister Sunak von einer «Schande für den britischen Staat». Der Skandal ist kein Einzelfall.
Für die Opfer des grössten Medizinskandals der britischen Geschichte und für ihre Angehörigen war es ein Moment der Genugtuung nach jahrzehntelangem Kampf. Premierminister Rishi Sunak hat sich am Montag entschuldigt und von einem «Tag der Schande für den britischen Staat» gesprochen. Am Dienstag präsentierte die Regierung ein Paket zur Entschädigung der Opfer im Umfang von rund 10 Milliarden Pfund (11,6 Milliarden Franken).
Späte Aufklärung
Die Regierung versprach die speditive Auszahlung der Gelder. Und doch kommt die Genugtuung reichlich spät – zu spät für viele Opfer. Rund 30 000 Menschen, von denen viele an der Bluterkrankheit litten, erhielten in den siebziger und achtziger Jahren kontaminierte Blutprodukte und steckten sich mit HIV oder Hepatitis an. Mehr als 3000 Menschen starben wegen der Infektion – jede Woche kommen zwei weitere Todesopfer durch die Langzeitfolgen ihrer Ansteckung hinzu.
Auch in anderen Ländern kamen damals verseuchte Blutkonserven zum Einsatz. Doch Deutschland, die Schweiz oder Japan arbeiteten die Vorkommnisse bereits in den frühen neunziger Jahren auf, in Frankreich wurde 1999 nach einem Prozess ein Regierungsmitglied verurteilt. Nur in Grossbritannien versuchten die Verantwortlichen des Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS) und der Regierung selbst mehr als zwei Jahrzehnte später noch, ihre Verfehlungen unter den Teppich zu kehren.
In einem mehr als 2500 Seiten dicken Untersuchungsbericht arbeitet der ehemalige Richter Brian Langstaff die Vorkommnisse auf. Seine Ergebnisse wühlen die britische Öffentlichkeit auf. Langstaff wirft den NHS-Verantwortlichen vor, die Augen vor den Risiken der aus dem Ausland importierten Konserven verschlossen zu haben. Das Blut stammte teilweise von amerikanischen Drogenkranken und Gefängnisinsassen, die für ihre Spenden bezahlt wurden. Es genügte den britischen Sicherheitsstandards nicht.
Experimente im Knabeninternat
Geradezu zynisch muten die Aktivitäten von Ärzten in einem Internat in der Grafschaft Hampshire an, wo Knaben ohne Einverständnis der Eltern Blutkonserven erhielten. Die Beweislage ergab laut Langstaff, dass die Verantwortlichen durchaus um die Risiken einer HIV-Infektion wussten, aber das Programm zu Forschungszwecken weiterführten. Drei Viertel der infizierten Knaben haben die experimentelle Behandlung nicht überlebt.
Langstaff zeichnet in seinem Bericht auch nach, wie mehrere Regierungen und die Verantwortlichen des NHS versuchten, ihre Verfehlungen zu verschleiern. So seien innerhalb des Gesundheitsministeriums wiederholt Dokumente vernichtet worden, die ein schlechtes Licht auf Politiker und Beamte geworfen hätten.
Mehrere Experten warnten laut dem Bericht schon früh vor den Risiken der Blutprodukte, ohne dass die Verwaltung aktiv geworden wäre. Die Wahrheit wurde verschwiegen. Minister verbreiteten jahrzehntelang die unwahre Beteuerung, die Patienten hätten die beste medizinische Behandlung erhalten. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt seien Blutuntersuchungen eingeführt worden.
Verschleiern und verzögern
Laut Langstaff offenbart der Skandal einen «subtilen, allgegenwärtigen und erschreckenden Missbrauch des Vertrauens», das die Bevölkerung Autoritäten wie dem Staat oder der Ärzteschaft entgegenbringt. Neu ist dieser Befund nicht. Vielmehr haben sich in jüngerer Vergangenheit ähnlich gelagerte Fälle gehäuft. Die «Times» geisselt in einem Leitartikel die «Inkompetenz des britischen Staates», die immer wieder zu Skandalen führe. Begleitet würden diese von Verschleierungs- und Verzögerungstaktiken der Mächtigen – zulasten der Ansprüche der Machtlosen auf Transparenz und Gerechtigkeit.
Für Schlagzeilen sorgte Anfang Jahr etwa der Justizskandal um die Mitarbeiter der britischen Post. Die Buchhaltungen vieler Postfilialen wiesen wegen einer fehlerhaften Software grosse Defizite auf. Anstatt den Fehler einzugestehen, klagten die Verantwortlichen der Post die unschuldigen Mitarbeiter wegen Diebstahls an und trieben sie in den Ruin.
Andy Burnham, der Labour-Bürgermeister von Manchester, erklärte jüngst im Gespräch mit Journalisten, für ihn stehe die Hillsborough-Katastrophe von 1989 symptomatisch für die Arroganz der britischen Machtelite. Damals kamen bei einem Gedränge auf der Tribüne eines Fussballstadions in Sheffield 97 Personen ums Leben. Laut Burnham war es für die Behörden am bequemsten, die Schuld den Liverpool-Fans in die Schuhe zu schieben. Erst 27 Jahre später kam eine Untersuchung zu dem Schluss, Auslöser der Tragödie seien Fehler der Polizei und nicht –wie jahrelang behauptet – das Verhalten der Fans gewesen.
Als Reaktion auf den Blutkonserven-Skandal fordert Burnham nun eine Anklage gegen britische Ministerien wegen «institutionellen Totschlags». Ob der Skandal ein juristisches Nachspiel haben wird, ist allerdings fraglich. Der Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage erklärte in seinem Programm auf dem TV-Sender «GB News», allen britischen Skandalen sei gemeinsam, dass nie jemand zur Verantwortung gezogen werde. Sah Farage einst den Ursprung allen Übels in Brüssel, nimmt er heute London ins Visier: «Etwas ist ernsthaft faul mitten im Herzen des britischen Staates.»