Das Individuum hat ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Ein Staat kann diesem Verlangen umso mehr gerecht werden, je stärker er ideelle Identifikationen ermöglicht.
Obwohl beim ersten Hinhören meist unklar bleibt, wovon genau die Rede ist, wenn das Wort «Nation» heute in einem Gespräch auftaucht, weckt es unter gebildeten Zeitgenossen fast ausnahmslos Reaktionen von Unbehagen und Distanznahme. Mit Fremden-, Fortschritts- oder Demokratiefeindlichkeit verbinden wir seine Bedeutung und mit einem Geist der Enge, der ebenso auf Grenzen wie auf ererbte Privilegien besteht.
Doch seit einigen Jahren tauchen Anzeichen für eine neue Wertschätzung des Nationenbegriffs auf, die allerdings aufgrund der seit langem eingespielten Vorbehalte kaum je explizit zur Sprache kommt. Wo liegen die Gründe für die etablierte Nationen-Phobie, und sollte man ihrer beginnenden Auflösung widerstehen?
Geschichtlich gesehen haben sich der Ursprung und die frühe Geschichte des Wortes weitab von Zonen scharf rivalisierender Polemik vollzogen. Der Bedeutung des lateinischen Verbs «nasci» folgend galten an mittelalterlichen Universitäten als «nationes» die nach dem Ort ihrer Geburt eingeteilten und untergebrachten Gruppen von Studenten, zu denen auch die Hörer aus den Regionen der jeweiligen Hochschulen zählten.
Besondere Rechte, Pflichten oder gar kulturelle Identitäten kamen dabei nicht ins Spiel. Ähnlich wertneutral, aber mit einer grundsätzlich anderen Funktion wurde das Wort in den Dokumenten des Westfälischen Friedens von 1648 gebraucht. Nach dem Trauma der über hundert Jahre andauernden Religionskriege sollten Nationen als selbstverwaltet-autonome Gebiete mit wohlumschriebenen Grenzen damals den militärischen Interventionen ein Ende setzen.
Phantasien kollektiver Einheit
Erst in der Zeit um 1800 begann ein neuer kultureller und dann auch politischer Antagonismus den Begriff mit kollektiver Spannung aufzuladen. Einerseits entstand aus den Diskursen der Aufklärung und den von ihnen ermutigten bürgerlichen Revolutionen ein Intellektuelle bis heute antreibender Impuls, lokale Schritte positiver Veränderung auf Fortschritte im Menschheitsformat zu projizieren. Über die Vermittlung von Karl Marx hat dieser Habitus in den kommunistischen Programmen der «Weltrevolution» hartnäckig weitergelebt.
Anderseits machten sich vor allem in Staaten auf dem Gebiet des heutigen Deutschland, wo es zu einer bürgerlichen Revolution nicht gekommen war, zum ersten Mal Tendenzen bemerkbar, in der mittelalterlichen Vergangenheit nach einer Identität der Nation zu suchen, deren Sprache, Kultur und Sitten der gegenwärtigen Gemeinschaft kollektive Einheit vorgeben sollten. Dieser romantische Nationenbegriff, wie ihn der Philosoph Johann Gottlieb Fichte um das Konzept des «Volkes» entfaltete, hat seither als «rechte» politische Gegenposition zu den vielfältigen «linken» Hymnen einer Menschheitserfüllung gewirkt.
Zwischen dem frühen 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts verhärteten sich die Vorbehalte gegen einen an Identitätsvorstellungen gebundenen Nationenbegriff. Dies geschah in Reaktion auf spezifische Versionen des Kolonialismus («Am deutschen Wesen soll die Welt genesen»), auf den als Auseinandersetzung zwischen Nationen geführten Ersten Weltkrieg und vor allem auf die Faschismen mit ihren Mythologien gewaltsamer Erlösung bestimmter Völker.
So gab es permanenten Anlass zu Initiativen, den Einfluss des National-Gedankens mit der Gründung transnationaler Institutionen aufzuheben oder mindestens zu neutralisieren. Zu ihnen gehörten seit 1920 der Völkerbund und seit 1945 die Vereinten Nationen oder die von wirtschaftlicher Zusammenarbeit ausgehenden kontinentalen Projekte wie die Europäische Union oder der südamerikanische Mercosur. Auch die zustimmende Resonanz auf Francis Fukuyamas 1989 formulierte Prognose vom «Ende der Geschichte» als Ende nationaler Konfrontationen reflektierte diesen Optimismus.
Nicht eines dieser Versprechen hat sich in der politischen Wirklichkeit erfüllt. Den Vereinten Nationen fehlt wie schon dem Völkerbund ein militärischer Arm, um ihre gutgemeinten Friedensvisionen verbindlich zu machen. Und dem bescheidenen wirtschaftlichen Erfolg der EU stehen Erfahrungen von kulturellem Konturenverlust und Proteste gegen die Explosion administrativer Kosten gegenüber. Solche Entwicklungen erklären das Aufkommen eines neuen Interesses an Vorstellungen von räumlich und demografisch begrenzten Gemeinschaften, die allerdings den Nationenbegriff vermeiden müssen, um nicht als «nationalistisch» gebrandmarkt zu werden.
Anhaltende Faszination
Angesichts dieser diskursiven Blockade wird die gegenwärtige Ambivalenz zwischen traditioneller Ablehnung und einer Rückkehr zu positiv eingeschätzten Aspekten nationaler Gemeinschaften zwar kaum je explizit, aber legt uns umso dringender zwei Fragen auf: Warum lassen sich die Gewaltdrohungen der Nationen-Realität nicht restlos aufheben, und worin besteht die offenbar nicht zu unterdrückende Faszination der mit dem tabuisierten Wort «Nation» verbundenen Inhalte?
Philosophisch gesehen hat die Gewalt mit dem Raum als einer dominanten Dimension zu tun. Wenn wir mit Edmund Husserl sagen können, dass sich Zeit aus der Struktur des menschlichen Bewusstseins ergibt, wo jedes Jetzt von Momenten der Erinnerung und der Vorwegnahme umgeben ist, dann entsteht Raum aus den Positionen unserer Körper und der jeweils von ihnen abhängigen Reichweite.
Doch während sich Zeit ohne Widerstand in eine global akzeptierte Struktur von Zeitzonen umsetzen liess, sind alle – etwa vom Völkerbund oder von der Uno lancierten – Vorschläge zur Errichtung einer universellen Raumordnung gescheitert. Denn Raumordnungen bringen unvermeidlich Körper ins Spiel und mithin Impulse von Gewalt als der Energie, Räume mit Körpern gegen den Widerstand anderer Körper zu besetzen. Keine politische Strategie führt sicher an diesem Risiko vorbei.
Trotzdem ist eine Sehnsucht nach Leben in räumlich und demografisch konturierten Gemeinschaften zurückgekehrt. Sie wird zentral von unserer alltäglichen Überforderung durch Kommunikation in ihrer elektronischen Form angeschoben, die alle räumlichen, nationalen und seit der Entwicklung von Übersetzungsprogrammen auch sprachlichen Grenzen ignoriert. Ich freue mich an der Möglichkeit, jederzeit mit einem anderen Baseball-Fan in Osaka und einer anderen Kleist-Liebhaberin in Brisbane Kontakt aufnehmen zu können, doch möchte ich nicht permanent Studenten mittelalterlicher Literatur in Peru oder karibischen Tourismusunternehmen zur Verfügung stehen.
Für eine übergreifende Lösung dieses Komplexitätsproblems mag es schon lange zu spät geworden sein, doch es illustriert die zunehmende Frustration angesichts globaler Präsenz. Zu wahrhaft konkreten Formen von Furcht kondensiert sich derzeit vor allem die Tatsache, dass die fortschreitende Durchlässigkeit territorialer Grenzen uns wieder anfälliger für militärische Expansionsbewegungen gemacht hat.
Zugleich halten nur abgeschlossene Räume und Gemeinschaften die Chance von Intensitätserfahrungen bereit, wie es die psychische Dynamik von Sport- oder Konzertereignissen veranschaulicht. In Stadien kommen Prozesse in Gang, die aus zufällig nebeneinanderstehenden Individuen kollektive, sich ohne alle Massnahmen der Koordination gemeinsam bewegende Körper machen. So hat der französische Denker Gilles Deleuze Identität definiert.
Charismatische Momente
Woodstock oder das immer noch nostalgisch erinnerte «Sommermärchen» der Fussball-WM 2006 in Deutschland hätten in offen globalen Strukturen nicht zu ikonischen Verdichtungen der Existenz werden können. Oft gehören zeitlich begrenzte Phasen rückkehrender National-Euphorie zu den Bedingungen und Folgen solcher charismatischen Momente.
Ganz verschiedene Gründe sprechen also dagegen, die Aufhebung von Nationen und ihren Grenzen weiterzuführen. Doch welcher Begriff und welche Praxisform der Nation sind so nüchtern, dass sie die unvermeidliche Bedrohung durch Gewalt möglichst gering halten?
Aus historischer Perspektive wurde deutlich, wie die Gewaltkomponente der Nation aus einer auf Identitätsdifferenzen und Hierarchien beruhenden Auffassung hervorgegangen ist, aus Vorstellungen von «Leitkultur», sagte man bis vor kurzem. Der ursprüngliche Nationenbegriff hingegen verwies bloss auf Zufallsbedingungen der Geburt und auf ihre immergleiche existenzielle Konsequenz.
Entweder durch den Ort der Geburt oder durch die Staatsangehörigkeit der Eltern fällt uns als Individuen die Mitgliedschaft in einer bestimmten Nation zu. Wir können diese primäre Mitgliedschaft nicht wählen und erleben sie deshalb oft als Zumutung. Gerade in der Legalisierung des Zusammenhangs von individuellem Zufall und Nationalität jedoch liegt eine selten erwähnte Leistung der frühen Neuzeit.
Solange es bei einem rein gesetzlichen und mithin auch gesetzlich auflösbaren Zusammenhang ohne kollektive Identitätszuschreibungen bleibt, sichert uns Nationalität die Vorteile der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und hält Gewaltbedrohungen auf Abstand. Deshalb hat sich der Begriff der Nation in Ländern bewährt, die ihn an strikt gesetzlich aufgefasste Zufallsvoraussetzungen binden. Unter dieser Prämisse bleibt er nüchtern genug, um von den sonst begründeten Vorbehalten ausgenommen zu werden.
Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature Emeritus an der Stanford University, Distinguished Emeritus Professor an der Universität Bonn und Distinguished Professor of Romance Literatures an der Hebrew University Jerusalem.