Dass der ICC Haftbefehle gegen demokratisch gewählte Regierungsmitglieder beantragt hat, sorgt über Israel hinaus für Empörung. Verantwortlich dafür ist ein Chefankläger, der nicht vor Kontroversen zurückschreckt.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Karim Khan, schreckt vor explosiven Entscheiden nicht zurück. Vor gut einem Jahr erliess das Gericht erstmals einen Haftbefehl gegen den Staatschef einer Grossmacht, weil Khan dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Kriegsverbrechen in der Ukraine vorwarf. Noch viel umstrittener sind nun die Anträge auf Haftbefehle gegen drei Hamas-Führer sowie den israelischen Regierungschef Benjamin Netanyahu und dessen Verteidigungsminister Yoav Gallant. Sie schlugen ein wie eine Bombe – juristisch, politisch und diplomatisch.
Der erfahrene britische Völkerstrafrechtler wusste das natürlich. Er erläuterte sein Vorgehen am Montag deshalb nicht nur in einer detaillierten schriftlichen Erklärung sowie in Video-Stellungnahmen in den sozialen Netzwerken, sondern gleichentags auch in einem halbstündigen Interview auf CNN. Dabei nannte er stets zuerst die Vorwürfe gegen die Beschuldigten der Hamas und betonte, Israel habe «jedes Recht», sich gegen die Terroristen militärisch zu verteidigen.
In a world-exclusive interview, ICC Chief Prosecutor @KarimKhanQC explains why he’s seeking arrest warrants for leaders of Hamas and Israel, and breaks down the legal process leading to today’s announcement. pic.twitter.com/VpMnNL7KEB
— Christiane Amanpour (@amanpour) May 20, 2024
Warum ging Khan schon so früh an die Öffentlichkeit?
In einem ungewöhnlichen Schritt hatte Khan zudem im Vorfeld ein prominentes, achtköpfiges Expertengremium mit der Prüfung der gesammelten Beweise betraut. Dieses kam in einem ebenfalls am Montag veröffentlichten Bericht einstimmig zu dem Schluss, dass es «hinreichend Gründe zur Annahme» gebe, dass die Vorwürfe berechtigt seien und die Beschuldigten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hätten.
Die Völkerrechtler konnten das Material, das den Haftanträgen zugrunde liegt, über Monate prüfen. Einer war einst selbst Richter am ICC; ein anderer ein früherer Präsident des Jugoslawien-Tribunals, Holocaust-Überlebender und früherer Rechtsberater sowohl der israelischen wie der amerikanischen Regierung. Khan bezeichnete die Experten als Giganten der Menschenrechte.
Es gibt Stimmen, die in diesem Vorgehen ein Misstrauensvotum gegen die eigenen Ermittler sehen. Offenkundig wollte sich der seit drei Jahren amtierende Chefankläger damit gegen Kritik absichern. Die dreiköpfige Vorverfahrenskammer wird sein Ersuchen wohl bewilligen und die Haftbefehle erlassen. In der Geschichte des ICC war das fast immer der Fall. Sicher ist es aber nicht, was Khan mehrfach betonte.
Insofern erstaunt, dass der Chefankläger schon in einem so frühen Stadium des Verfahrens an die Öffentlichkeit getreten ist. Die Haftbefehle gegen Putin wurden erst bekannt gemacht, als das Gericht sie beschlossen hatte. Warum er nun anders vorging, erläuterte Khan nicht. Angesichts der Brisanz des Falls wollte er möglicherweise die Glaubwürdigkeit durch ein hohes Mass an Transparenz stärken, wie etwa die Völkerstrafrechtlerin Stefanie Bock, Professorin an der Universität Marburg, in einem Aufsatz für den «Verfassungsblog» nahelegte.
Denkbar ist aber auch, dass der Chefankläger sich mit Blick auf die erwartete Offensive auf Rafah einen mässigenden Einfluss auf die Kriegsführung erhofft. Das wäre eine politische Überlegung, die nicht seine Aufgabe ist.
«Das Recht muss für alle gleich angewandt werden»
Weit kontroverser sind indes andere Punkte – allen voran die scheinbare Gleichsetzung der demokratisch gewählten Regierung Israels mit der Terrorbande Hamas. Netanyahu erklärte, der Vergleich erfülle ihn mit Abscheu. Es ist auch die Hauptkritik der USA und von diversen Regierungen, die den ICC unterstützen. Das deutsche Aussenministerium schrieb, durch die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle entstehe der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung.
Tatsächlich sind es die ersten Haftanträge überhaupt gegen Vertreter eines demokratischen Rechtsstaats. Die Herkunft darf aber für den ICC gar keine Rolle spielen, will er sich nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit aussetzen. Zum einen geht es anders als beim ebenfalls in Den Haag ansässigen Internationalen Gerichtshof stets um die Verantwortlichkeit von Individuen, nicht von Staaten. Zum anderen ist das Grundprinzip des Kriegsrechts, dass sich alle Konfliktparteien daran halten müssen – der legitime Verteidiger ebenso wie der geächtete Aggressor.
Khan nahm dazu bei CNN ausführlich Stellung. Es gehe nicht um eine Gleichsetzung der Beschuldigten, sondern um diejenige der Opfer. Ein von der Hamas ermordetes Baby sei genauso eine Tragödie wie eines, das infolge der Blockade Gazas verhungert sei. Das Recht müsse deshalb für beide gleich angewandt werden. Die Opfer stünden im Vordergrund und die Frage, ob hinreichend Beweise für eine Straftat vorlägen – nicht Nationalitäten, sagte er. Sie verdienten Gerechtigkeit.
Die konkreten Vorwürfe des Chefanklägers sind unterschiedlich und betreffen die zentrale Kritik, die seit Monaten gegen beide Seiten geäussert wird. Im Fall der Hamas stehen Delikte im Zusammenhang mit dem barbarischen Überfall am 7. Oktober und die Geiselnahme im Fokus, bei Israel geht es primär um die Blockade des Gazastreifens und um ein «Aushungern als Mittel der Kriegsführung».
Khan fokussiert damit auf Aspekte, die einfacher nachweisbar sind und die in besonderem Mass für das immense Leid dieses Konflikts stehen, wie Stefanie Bock schreibt. Dagegen erwähnt er etwa israelische Luftangriffe gegen zivile Einrichtungen wie Spitäler in Gaza nicht – diese werden oft von der Hamas für ihre Operationen missbraucht.
Auch der von propalästinensischen Aktivisten in offenkundiger Unkenntnis der Voraussetzungen erhobene Vorwurf des Genozids findet sich nicht in den Anträgen gegen die Israeli – entgegen einer entsprechenden Aussage des amerikanischen Präsidenten Joe Biden. Erstaunlicher ist, dass der Chefankläger ihn auch gegen die Hamas-Führer nicht vorbringt. Die Terroristen erklären nicht nur offen, das jüdische Volk auslöschen zu wollen, sondern haben dieses Ziel sogar in ihre Gründungscharta geschrieben. Für die für einen Völkermord erforderliche Vernichtungsabsicht liesse sich bei der Hamas also durchaus argumentieren.
Khan soll Israels Wunschkandidat gewesen sein
Der ICC darf als komplementäres Gericht nur aktiv werden, wenn ein Staat nicht willens oder fähig ist, selbst zu handeln. Auch das wirft im Fall Netanyahus und Gallants Fragen auf, verfügt Israel doch über eine funktionierende Justiz, die schon einen ehemaligen Regierungschef zu Haft verurteilt hat. Ihm wäre lieber, Israel würde die Vorwürfe selbst prüfen, erklärte Khan dazu auf CNN. Wenn es gegen Netanyahu und Gallant für das gleiche Verhalten selbst ermittle, könne es die Zuständigkeit beim ICC anfechten.
Khan erläutert all dies eloquent und gelassen. Niemand kann dem pakistanischstämmigen Juristen vorwerfen, kein profunder Kenner der Materie zu sein – auch Israel nicht, das sich vor drei Jahren laut einem Bericht der «Times of Israel» hinter den Kulissen für seine Wahl zum Chefankläger starkgemacht haben soll. Der 54-Jährige befasst sich seit Jahrzehnten mit Kriegsverbrechen, er war schon Ankläger an den Uno-Tribunalen für Rwanda und Jugoslawien.
Es gehe nicht um Politik und nicht um die Schwierigkeit, die ein Entscheid hervorrufen könne. Es gehe nur darum, ob die Beweise ausreichend seien, sagte er am Montag zu seinem Entscheid. Das mag in der Theorie so sein, nicht aber in der Praxis eines derart aufgeladenen Konflikts. Seit Wochen schon stand Khan unter Druck, von seinem durchgesickerten Vorhaben abzusehen. Ein Dutzend amerikanische Senatoren drohten dem Chefankläger in einem Schreiben persönlich Sanktionen an.
Just in der nächsten Woche war Khan zu einem Besuch in Israel erwartet worden, bei dem Massnahmen zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts und die laufende Untersuchung besprochen werden sollten. Mit den nun schon zuvor ergangenen Haftanträgen erzürnt der Chefankläger die Regierung zusätzlich. Es gehe um das Vertrauen in die Gerechtigkeit, sagte er bei «Amanpour». Ob er das mit seinem Vorpreschen erreicht hat, ist fraglich.