Schönheitswettbewerbe sind umstritten – und doch verschwindet die Vermessung von Frauen nicht.
Als die Miss Teen USA Sofia Srivastava ihre Krone Mitte Mai zurückgab, zitierte sie Friedrich Nietzsche: «Es gibt keine schönen Oberflächen ohne schreckliche Tiefe.»
Srivastava solidarisierte sich mit einem vorhergehenden Abgang: Noelia Voigt ist die erste Miss USA, die in der 72-jährigen Geschichte des Wettbewerbs ihren Titel zurückgegeben hat. Die Rücktritte werfen nicht nur Fragen auf über die inneren Abläufe der Organisation, sondern auch über das zunehmend bröckelnde Image von Schönheitswettbewerben.
Seit Beginn gehören Kontroversen zu den Miss-Wahlen. Schliesslich erheben sie einen so kühnen wie unrealistischen Anspruch: eine Person bestimmen zu können, die eine idealisierte Vision von Schönheit oder Weiblichkeit repräsentiert, die für ein Land, die Welt, wenn nicht gleich das Universum gelten soll.
Nun legen selbst Frauen, die an diesem Spektakel teilgenommen haben, die Krone freiwillig ab. Ist die Zeit der «Fleischbeschau», wie die Wettbewerbe von Kritikerinnen genannt werden, endgültig vorbei?
Für Voigt wurde der Traum von Titel und Glamour zum Albtraum. Die «New York Times» zitierte aus dem achtseitigen Rücktrittsbrief von Voigt an die Miss-USA-Organisation. Darin beschreibt sie ein toxisches Arbeitsumfeld, schlechtes Management, Mobbing, Belästigung. Eine vertragliche Verschwiegenheitsklausel verbiete es ihr, ins Detail zu gehen.
Inzwischen haben weitere Titelträgerinnen Erklärungen veröffentlicht, in denen sie sich hinter Voigt stellen. So auch die Aargauerin Jastina Doreen Riederer. Sie wurde 2018 als letzte Miss Schweiz gekürt. Dann wurde der Wettbewerb wegen Konkurses eingestellt. Riederer berichtet nun in den sozialen Netzwerken von ähnlichen Erfahrungen. Als 19-jährige Frau habe es ihr an Mut gefehlt, ihre eigene Meinung zu vertreten. Sie habe in jener Zeit abgenommen und sei depressiv geworden.
Mit der Frauenbewegung im Wandel
Feminismus bedeutet, dass Frauen eine Wahl haben. In dieser Lesart steht der Schönheitswettbewerb für die Selbstermächtigung von Frauen.
Die Autorin Hilary Levey Friedman, die über die Geschichte der Miss-Wahlen in den USA ein Buch geschrieben hat, argumentiert, dass diese den Wandel der Frauenbewegung widerspiegelten. Dem gegenwärtigen Feminismus gehe es darum, dass Frauen sich organisierten und ihre Stimme erhöben, insbesondere wenn es um psychische Gesundheit, Belästigung und die Bedingungen am Arbeitsplatz gehe. Die neuesten Kontroversen um die Miss-USA-Wahl ständen in diesem Kontext.
Donald Trump, dessen Gewohnheit es war, hinter die Bühne zu gehen, um die Teilnehmerinnen zu begutachten, würde heute gemeldet. Trump gehörte von 1995 bis 2015 die Miss-USA-Organisation.
Wachsender Einfluss und zunehmende Selbständigkeit der Frauen ebneten Schönheitswettbewerben den Weg. Die erste Miss America wurde fast gleichzeitig mit der Einführung des Frauenwahlrechts in den USA gewählt. Damals waren konservative Kritiker noch der Meinung, dass Frauen ihren Körper bedecken sollten und an den Herd gehörten.
Die Wahlen verkörperten Jahre lang ein Schönheitsideal. Bald prangerten Feministinnen das Konkurrieren um das Aussehen als erniedrigend und objektivierend an. 1968, zur Blütezeit der Schönheitswettbewerbe, skandierten sie Botschaften wie «Alle Frauen sind schön» und kritisierten, dass Frauen wie Tiere auf einer Viehauktion beurteilt würden.
Abgeschafft wurden die Wettbewerbe nicht, sie haben sich angepasst. Heute geht es dabei nicht mehr nur darum, schön zu sein, sondern eine Stimme zu haben, eine Botschaft zu vermitteln. So kam zum Beispiel der humanitäre Auftrag dazu. Lauriane Sallin machte als Miss Schweiz 2015 den Lastwagenführerschein und fuhr mit einer Ladung Hilfsgüter nach Nordafrika.
Sichtbarkeit für gewisse Gruppierungen
Für weisse westliche Frauen scheint Ermächtigung kaum mehr nötig. Die heutigen Teilnehmerinnen an Misswahlen sind Nachkommen der Frauenbewegung. Sie haben mehr Macht und Ehrgeiz als die Generation ihrer Mütter. Zu den jüngsten Gewinnerinnen der Miss-America-Wahl gehören die U.S.-Air-Force-Pilotin und Harvard-Studentin Madison Marsh (2024), die Atomingenieurin Grace Stanke (2023) und die Komponistin Nia Imani Franklin (2019).
Tatsächlich wäre es vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen, dass an der Miss-Universe-Wahl eine unverschleierte saudische Frau teilnehmen würde. Seit 2017 hat Saudiarabien aber eine Reihe von Schritten zur Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter unternommen. Zum Beispiel dürfen Frauen seither Auto fahren. Mit der 27-jährigen Rumy al-Kahtani wird Saudiarabien diesen September erstmals für die Krone antreten.
Zuletzt haben auch Transfrauen Schönheitswettbewerbe für sich entdeckt und sie zu einem aktivistischen Anlass gemacht. Die Teilnehmerinnen wollen andere Transfrauen ermutigen, indem sie auf der Bühne ihre persönliche Geschichte über Diskriminierung, gesellschaftliche Ausgrenzung und Selbstakzeptanz erzählen.
Auf der Bühne zeigen sich die Transfrauen geschminkt, natürliche Schönheit ist nicht gefragt. Davon profitiert die Kosmetikindustrie. Erst 2022 verzichtete eine Frau bei der fast hundertjährigen Miss-England-Wahl gänzlich auf Make-up für ihren Auftritt. Unter die Top drei schaffte sie es nicht.
Schönheitswettbewerbe sind im Laufe der Jahre zwar diverser geworden. Doch zeigt sich weiterhin ein Zwiespalt zwischen der Idee der weiblichen Gleichberechtigung und der Objektivierung der Frauen.
Übernahme in andere populäre Formen
Zu jedem Wettbewerb gehört ein Bewertungssystem. Wer sich vergleicht, ordnet sich ein. Die Frau, die gewinnt, setzt den Massstab für alle anderen. In Zeiten von Individualität und Eigensinn hat Schönheit keine spezifische Haut- oder Haarfarbe, keine Grösse, kein Gewicht. Deshalb ist es nicht mehr zeitgemäss, einen Standard zu bestimmen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass solche Shows weniger populär sind. Seit 2022 nimmt die Schweiz wieder am Miss-Universe-Contest teil. Und gerade hat auch das Wäschelabel Victoria’s Secret angekündigt, zurückzukehren. Millionen Zuschauer schauten jeweils weltweit zu, wie sogenannte Engel in Dessous über den Laufsteg schritten. In Folge der #MeToo-Bewegung hatte die Show mit Vorwürfen von Übergriffen, Missbrauch, Frauenfeindlichkeit und unrealistischen Schönheitsidealen zu kämpfen. 2021 wurde sie eingestellt. Nun soll die Show vielfältiger werden. Lange weg war die Männerphantasie nicht.
Auch wenn sich jetzt die amerikanischen Missen auflehnen: Schönheitswettbewerbe halten sich hartnäckig, und das liegt auch an den Frauen, die daran teilnehmen. Jede von ihnen will die Schönste sein, aber nicht zu jeder Bedingung. Auch das ist eine Wahl.