Seit drei Jahrzehnten regiert die frühere Freiheitsbewegung ANC Südafrika mit dem absoluten Mehr. Die Wahlen vom kommenden Mittwoch dürften das ändern. Das sei gut für die Stärkung der Demokratie, sagt der südafrikanische Politologe Ongama Mtimka.
Am 29. Mai wählt Südafrika die Nationalversammlung und alle neun Provinzparlamente neu. Laut den Prognosen wird die frühere Befreiungsbewegung Afrikanischer Nationalkongress (ANC) ihre absolute Mehrheit auf nationaler Ebene verlieren. Die Partei regiert seit den ersten freien Wahlen im April 1994, die den jahrzehntelangen Kampf gegen das Apartheidregime beendeten.
Südafrikas Wähler wollen offenbar einen Wandel. Sie sind unzufrieden mit der katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Lage im Land. So bewegt sich das Wirtschaftswachstum seit Jahren um die null Prozent. Ein grosser Teil der schwarzen Bevölkerung lebt weiterhin in Armut. Wichtige Teile der Infrastruktur sind marode. Die Arbeitslosenquote ist mit den offiziell ausgewiesenen gut 30 Prozent verheerend hoch. Und nicht zuletzt ist der soziale Graben zwischen Arm und Reich nach wie vor massiv.
Zum wachsenden Unmut in der Bevölkerung beigetragen haben Korruptionsskandale und Misswirtschaft an der Staatsspitze sowie Vetternwirtschaft bei der Besetzung hoher politischer Ämter. Die Verfehlungen unter Präsident Jacob Zuma (2009–2018) waren so gross, dass er schliesslich vom ANC fallengelassen und zum Rücktritt gedrängt wurde. Aus Rache an seinen einstigen Parteifreunden gründete er dieses Jahr eine eigene Partei – die dem ANC nun entscheidende Stimmen abzunehmen droht.
Der prekären Lebensverhältnisse eines grossen Teils der rund 60 Millionen Südafrikaner wegen steigt aber auch die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Arbeitsmigranten aus den umliegenden Ländern an. Drei Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid kann man sich so nur schwer vorstellen, wie der Staat, der lange Zeit ein Wirtschaftsmotor des afrikanischen Kontinents war, wieder auf die Beine kommen soll.
Herr Mtimka, könnte Südafrika heute, 30 Jahre nach dem Aufbruch in eine parlamentarische Demokratie, besser dastehen, als es das tatsächlich tut?
Südafrika hat wirklich grosse Fortschritte erzielt, wenn wir als Ausgangspunkt die frühen neunziger Jahre nehmen, als das System der Rassentrennung endete. Aber natürlich könnte das Land heute in einem viel besseren Zustand sein, wären unsere politischen Führer nicht vom Weg abgekommen und immer egoistischer geworden.
Wann denn haben sie den richtigen Weg verlassen?
Korruption hat es in Südafrika schon immer gegeben, aber die starken Bemühungen ab 1994, sie einzudämmen, schienen einigermassen erfolgreich zu sein. Bis zu jener verhängnisvollen Konferenz 2007, bei der die Regierungspartei ANC den Beschluss fasste, die als «Scorpions» bekannte Polizeieinheit zur Eindämmung der organisierten Kriminalität aufzulösen. An der gleichen Konferenz stellte der ANC eine direktere Verbindung zwischen Parteiamt und Staatsdienst her; künftig sollten hohe politische Führer in der Regierung aus entsprechenden Führungsstrukturen der Partei von der lokalen bis zur nationalen Ebene rekrutiert werden. Damit wurde ein im ANC bis dahin gültiger Mechanismus aufgehoben, der «zwei Zentren der Macht» genannt wurde. Die Konferenz 2007 öffnete der Plünderung der Staatskasse Tür und Tor. Wir konnten danach zusehen, wie der ANC die Regierung ausnutzte und den Weg in die zügellose Korruption einschlug.
Wie kann diese Entwicklung gestoppt werden?
Auf Ebene der Verwaltung läuft es heute gut, Mitarbeiter werden über öffentliche Personalvermittlungsbüros eingestellt. Anfälliger für Korruption sind die Posten, die innerhalb der Partei vergeben werden. Der Regierung von Cyril Ramaphosa ist es in den letzten Jahren immerhin gelungen, das Auswahlverfahren für Parteiführer zu verbessern, so dass es für korrupte Personen schwieriger wurde, in Spitzenämter aufzusteigen.
Das klingt doch gut.
Aber es ist nicht genug. Als Nächstes gilt es, eine auf Kompetenz basierende Besetzung öffentlicher Ämter sicherzustellen. Zudem suchen viele von den Reformen Betroffene ihr Glück nun ausserhalb des ANC: Sie sagen sich von ihm los und gründen Splitterparteien.
Ist es nicht auch ein Teil des Problems, dass korrupte Politiker viel zu selten juristisch belangt werden?
Es ist klar: Korruption in hohen Ämtern darf nicht länger ungestraft bleiben. Diesbezüglich hat Präsident Ramaphosa bisher wenig erreicht. Hilfreich wäre sicherlich auch eine Reform des Parteiensystems. Wie heisst es doch so schön: Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. Ich bin aber zuversichtlich, denn wir erleben gerade, wie sich Südafrikas politische Landschaft von der Herrschaft einer dominierenden Partei zu einem Mehrparteiensystem wandelt. Das wird am Ende auch zu einer besser funktionierenden Regierung führen.
Sie gehen demnach davon aus, dass der ANC bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit verlieren wird. Warum halten Sie das für eine gute Entwicklung?
Es ist für das Land und den ANC insofern ein Problem, als Entscheide in einem System mit einer klar dominierenden Partei rascher gefällt werden können. Die Entwicklung hin zu einem Mehrparteiensystem ist jedoch vorzuziehen, wenn man bedenkt, dass der Staat in den vergangenen Jahren von einer Partei quasi übernommen wurde. In einem Mehrparteiensystem gibt es weniger Spielraum für Machtmissbrauch. Darüber hinaus wird der jahrelang dominierende ANC seine Erfahrungen zu nutzen wissen, um Konsens herbeizuführen und als wahrscheinlicher Koalitionsführer Spannungen zu lösen. Der ANC wird also nur kompetenter werden, wenn seine Macht angefochten wird, denn er möchte ja an der Macht bleiben.
Das möchte sicher auch Präsident Ramaphosa. Wie lautet seine Bilanz sechs Jahre nach der Amtsübernahme?
Schlimm ist, dass er der Wirtschaft keinen Schub verleihen konnte. Es ist ihm nicht gelungen, staatseigene Unternehmen, die in unserer Logistikkette sehr wichtig sind, von Leuten zu befreien, die sich als schädlich erwiesen haben. Auch nach seinem Vorgänger, dem ehemaligen Präsidenten Zuma, sind Wölfe im Schafspelz aufgetaucht. Einige von ihnen hatten nicht wirklich die Absicht, staatliche Unternehmen zu verbessern. Vielmehr versuchten sie, diese durch korrupte Geschäfte zu privatisieren und sich dabei zu bereichern.
Sie denken besonders an den Energiesektor, richtig? Seit 2007 kommt es in Südafrika regelmässig zu massiven Stromausfällen, die den privaten Alltag und die Wirtschaft stark behindern.
Ja, das trifft die Wirtschaft enorm und ist ein grosser Fehler der halbherzig agierenden Regierung. Ein weiteres Problem ist, dass es auf internationaler Ebene einen starken Druck gibt, sich hin zu sauberer Energie zu entwickeln und dabei nationale Interessen zu gefährden. Obwohl Südafrika derzeit zu 70 Prozent auf veraltete Kohlekraftwerke angewiesen ist, sollte unsere Priorität darin bestehen, deren Funktionalität zu verbessern und gleichzeitig erneuerbare Energien einzuführen. Unsere Führungskräfte dürfen das Tempo des Übergangs nicht auf Kosten der unmittelbaren Energiesicherheit antreiben.
Was tut die Regierung gegen die massive Arbeitslosigkeit?
Auch da hat sie versagt. Sie hat sich als völlig unfähig erwiesen, Arbeitsplätze zu schaffen.
Werden sich die Bedingungen nach den Wahlen verbessern?
Ja, denn wenn der ANC seine Vorherrschaft verliert, werden wir ein Regierungssystem bekommen, das sich seiner Verantwortung bewusster ist. Wir sehen ja in Deutschland und anderen Ländern, dass Koalitionsregierungen funktionieren. Ich warne aber zugleich vor allzu grossen Hoffnungen. Der ANC wird in einer Koalitionsregierung nicht plötzlich die viel gefürchtete Politik einführen, gegen die er sich wehrte, als er über die absolute Mehrheit verfügte.
Kann die Regierung allein viel ausrichten?
Nein, die unhaltbare Situation, in der wir uns befinden, kann nicht nur von Politikern korrigiert werden, und sie sind auch nicht allein dafür verantwortlich. Alle Südafrikaner und im Land tätigen Unternehmen müssen in den Wandel eingebunden werden. Die Bekämpfung von Armut und Korruption ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Zum Beispiel der Unternehmen in der Gold- und Diamantenindustrie. Sie beuten Südafrika seit Ende des 19. Jahrhunderts aus und haben lange Zeit von den fehlenden Arbeitnehmerrechten und den billigen Arbeitskräften profitiert.
Südafrika steht vor grossen Herausforderungen. Hilft es da, wenn das Land eine Führungsrolle in der Gruppe der aufstrebenden, den Westen herausfordernden Brics-Staaten einnimmt (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika)?
Wir dürfen in unseren Möglichkeiten, Allianzen zu bilden, nicht eingeschränkt werden. Das Gute ist, dass es Südafrika gelingt, seine Handelsbeziehungen mit Westeuropa und den USA aufrechtzuerhalten und gleichzeitig weitere Allianzen zu bilden. Kürzlich zum Beispiel hat Deutschland grosse Investitionen angekündigt. Es ist aber auch gut, wenn sich Südafrika neue Märkte erschliesst. Wer handelt denn schon nicht mit China? Westeuropa jedenfalls schon, und lange Zeit hat es billige Energie aus Russland bezogen. Auch die USA haben grosse Probleme, weil ihre Wirtschaft zu eng mit der von China verwoben ist. Länder wie Südafrika oder Brasilien werden kritisiert, wenn sie mit einem Land wie China Handel treiben, alle andern jedoch dürfen dies tun, ohne international angeprangert zu werden. Und nur weil ein afrikanisches Land «Guten Tag» zu Russland sagt, heisst das nicht automatisch «Auf Wiedersehen, Westeuropa».
Politischer Analyst
dbu. · Ongama Mtimka wurde 1983 in Kwazakhele, einer Township in der Stadt Gqeberha (früher: Port Elizabeth) ganz im Süden des Landes, geboren. Nach einem Studium der politischen Ökonomie und der südafrikanischen Politik sammelte er praktische Berufserfahrung in den Bereichen Kommunalverwaltung und Gemeindeentwicklung. Heute arbeitet der promovierte Politikwissenschafter als Dozent für südafrikanische Politik, Demokratisierung und Staatstransformation sowie internationale politische Ökonomie an der Nelson-Mandela-Universität in Gqeberha. Mtimka ist ausserdem Chefredaktor des «African Journal of Political Risk» und sitzt im Vorstand der South African Association of Political Studies.







