Personalverantwortliche schwören auf sie, doch ihr Erkenntniswert ist etwa gleich gross wie der eines Horoskops: Persönlichkeitstests sind zu simpel, um Menschen gerecht zu werden. Das ist gefährlich.
Kürzlich begegnete mir wieder einmal die weit verbreitete Annahme, man könne die Persönlichkeit von Menschen mit Farben beschreiben. Ein Teilnehmer meines Seminars meinte: «Das ist eindeutig ein roter Typ.» Gerade kürzlich hatte er eine Schulung zu Persönlichkeitstypen erhalten. Innerlich verdrehte ich die Augen.
Die Menschheit hat eine lange Tradition, Menschen in Schubladen zu stecken. Schon in der Antike versuchte man, mit der Temperamentenlehre unterschiedliche Persönlichkeiten zu kategorisieren. Damals glaubte man, dass die Persönlichkeit von Körpersäften bestimmt wird. Die vier Körpersäfte sollten verschiedene Charaktere repräsentieren: Da waren die optimistischen Sanguiniker, die reizbaren Choleriker, die schwerfälligen Phlegmatiker und die nachdenklichen Melancholiker.
Rote, gelbe, grüne und blaue Typen
Heute lacht man über diesen Humbug, und doch werden in vielen Unternehmen ähnliche simple Persönlichkeitstests verwendet, allen voran das Disg-Modell. Dieses Modell unterscheidet zwischen dominanten, initiativen, stetigen und gewissenhaften Typen. In der Praxis wird dies oft auf die roten, gelben, grünen und blauen Typen verkürzt.
Dies ist problematisch, denn das komplexe Mosaik menschlichen Verhaltens lässt sich nicht in Kästchen pressen. Das Verhalten von Menschen ist nämlich nicht nur von der Persönlichkeit abhängig, sondern auch von der Situation. So können auch extrovertierte Menschen je nach Müdigkeit oder Menschenmasse eher zurückhaltend sein, und selbst gewissenhafte Menschen verlieren bei hoher Belastung den Überblick.
Doch warum werden in vielen Unternehmen immer noch so stark vereinfachte Persönlichkeitstests eingesetzt? Hinter der Kategorisierung von Menschen stehen zwei legitime Bedürfnisse: jenes, das gegenwärtige Verhalten zu verstehen, und jenes, zukünftiges Verhalten vorhersagen zu können. So erhoffen sich beispielsweise Personalverantwortliche, durch den richtigen Mix aus Persönlichkeiten eine produktive Teamkonstellation herbeizuführen.
Die Individualität wird ignoriert
Im Privatleben mögen solche horoskopähnlichen Typentests ja unterhaltsam sein, doch im Berufsleben können sie gravierende Folgen haben: Menschen werden aufgrund ihrer vermeintlichen Persönlichkeitseigenschaften von bestimmten Aufgaben oder Positionen ausgeschlossen, ohne dass ihre tatsächlichen Fähigkeiten und Entwicklungspotenziale berücksichtigt werden.
Diese Stereotypisierung verleitet zu Aussagen wie: «Für diesen Job muss man kreativ sein, das können Sie als blauer Typ nicht.» Demgegenüber steht das sogenannte Growth-Mindset oder Wachstumsdenken. Dieses geht davon aus, dass Menschen durch Anstrengung, Lernbereitschaft und Ausdauer Fähigkeiten entwickeln können. Anders gesagt: dass jeder Mensch einen Kopf voller eigener Ideen hat, wird ignoriert. Ein schwerer Fall von übermässiger Komplexitätsreduzierung.
Aber nicht nur Unternehmen lieben Persönlichkeitstests. Viele Menschen möchten sich selbst besser verstehen. Dazu gibt es verschiedene Wege. Das eigene Verhalten oder die eigene Persönlichkeit mittels Selbstreflexion kritisch zu hinterfragen, ist anstrengend, und oft sind Menschen überfordert und lassen es bleiben. Oder sie greifen zum Persönlichkeitstest. Dabei ist von aussen betrachtet absurd, was beim Ausfüllen von Persönlichkeitstests passiert: Da beantwortet jemand Fragen über sich selbst und freut sich, wenn er sich in den Ergebnissen wiedererkennt. Als wäre es ein Wunder, dass Selbstbeschreibung und Ergebnis übereinstimmen.
Wissenschaftliche Gütekriterien sind fragwürdig
Der Grund dafür, dass die Ergebnisse scheinbar stimmen, ist oft der Barnum-Effekt: Man erkennt sich in vagen Beschreibungen wieder und nickt eifrig. Das gilt für Horoskope genauso wie für typische Persönlichkeitstests. Die vielen anderen Einflüsse auf das eigene Verhalten, wie Prägungen in Kindheit und Jugend, Vorlieben oder die Stimmung, werden grosszügig ignoriert. Ebenso, dass die wissenschaftlichen Gütekriterien vieler simpler Persönlichkeitstests fragwürdig sind. Damit suggerieren sie eine Vorhersagbarkeit, die in der Realität selten Bestand hat.
Es ist verlockend, Menschen in sauber beschriftete Schubladen zu stecken. Aber die Wirklichkeit ist komplexer. So wie sich das Aussehen eines Menschen mit zunehmendem Alter leicht verändert, wandelt sich auch die Persönlichkeit im Lebensverlauf. So können einschneidende Lebensereignisse die Persönlichkeit beeinflussen, und in der Regel werden Menschen mit zunehmendem Alter emotional stabiler, gewissenhafter und verträglicher. Lasst uns also die Vielfalt feiern, die Neugierde beibehalten und unsere Mitmenschen als die komplexen Individuen schätzen, die sie sind – unetikettiert und unendlich faszinierend.
Nicole Kopp ist Arbeits- und Organisationspsychologin und Mitgründerin der Beratungsfirma GoBeyond.
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