Steigende Löhne, kürzere Arbeitszeiten, politische Unsicherheit: Die deutsche Wirtschaft steckt in einer Formkrise. Die Folgen bekommen auch Schweizer Unternehmen zu spüren.
Man ist mittlerweile schon mit wenig zufrieden in Deutschland. Um 0,2 Prozent legte das BIP im ersten Quartal zu. «Für deutsche Verhältnisse ist das viel», schreibt der Chefvolkswirt des Vermögensverwalters DWS in einem Marktkommentar und lobt das «ordentliche Wachstum». Die Hoffnung liegt nun auf der Fussball-Europameisterschaft im eigenen Land: Die Fussballfans sollen die deutsche Wirtschaft aus ihrer Lethargie reissen.
Letztes Jahr schrumpfte Deutschland als einzige der grossen Volkswirtschaften. Auch dieses Jahr bleibt das Land gemäss der Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) das Schlusslicht unter den Industrieländern. Sogar Italien, jahrelang das Sorgenkind in Europa, ist dynamischer unterwegs. Die Schweiz sowieso.
Wenn Deutschland hustet, bekommt die Schweiz eine Grippe
Doch Schadenfreude ist fehl am Platz. Deutschland ist nach den USA der wichtigste Handelspartner der Schweiz, die Schweizer Exporte zum Nachbarn sind fast dreimal so gross wie jene nach China. Für die Maschinenindustrie ist Deutschland nach wie vor der wichtigste Absatzmarkt. Umso mehr leiden Schweizer Unternehmen unter der deutschen Formschwäche. Wenn Deutschland hustet, bekommt die Schweiz eine Grippe – für einzelne Branchen und Firmen gilt der Satz noch immer.
Im ersten Quartal brachen die Exporte der Schweizer Tech-Industrie nach Deutschland um 12 Prozent ein. «Für unsere Mitglieder ist nicht mehr der Fachkräftemangel das Hauptproblem, sondern die fehlende Nachfrage», sagt Jürg Marti, Geschäftsführer des Industrieverbandes Swissmechanic, der exportorientierte KMU vertritt. Die anämische deutsche Wirtschaft ist eine der wichtigsten Ursachen dafür. Der mittels einer Umfrage bei den Mitgliedern erhobene Geschäftsklimaindex von Swissmechanic zeigt seit einem Jahr einen negativen Wert an. Aufhellung ist nicht in Sicht.
Barend Fruithof, Chef und Mitbesitzer des Fahrzeugbauers Aebi Schmidt, betreibt unter anderem Fabriken in der Schweiz, Deutschland und den USA. «In Deutschland profitabel zu arbeiten, ist eine enorme Herausforderung», sagt er. Sein Unternehmen erziele in Deutschland zwar steigende Umsätze, doch die Profitabilität sei im Vergleich zu anderen Ländern deutlich tiefer. «Wir haben kein Wachstumsproblem in Deutschland, das Problem ist die Kostensteigerung durch höhere Löhne und Energiepreise sowie verkürzte Arbeitszeiten», sagt Fruithof.
Pfeiler des Erfolgsmodells Deutschland sind weggebrochen
Billige Energie und tiefe Löhne bildeten jahrelang die Basis des deutschen Wirtschaftsmodells. Sie machten Deutschland zum Exportweltmeister, bescherten dem Land milliardenschwere Überschüsse und trieben strukturschwache Euro-Länder in die Schuldenwirtschaft. Doch mit dem Ukraine-Krieg und der Inflation sind die Pfeiler des deutschen Erfolgsmodells weggebrochen.
Der Staat kann die Kosten für die Energiewende nicht mehr mit billigem russischem Gas kompensieren. Die arbeitende Bevölkerung will entschädigt werden für die Teuerung: Die Löhne stiegen letztes Jahr nominell um 6 Prozent, dieses dürften sie um knapp 5 Prozent zulegen. Damit wird die Kaufkraft im Inland gestützt, die deutsche Exportindustrie verliert aber an Wettbewerbsfähigkeit.
Deutsche Unternehmen investieren lieber im Ausland als zu Hause. Sogar die Schweiz sei günstiger als Deutschland, sagte der Motorsägenhersteller Nikolas Stihl unlängst in der ARD-«Tagesschau». «Die Mitarbeiter in der Schweiz verdienen zwar mehr Geld, aber die Gesamtkosten mit Abgaben, Energiepreisen und Steuern sind tiefer.» Der geplante Neubau eines Werks in Ludwigsburg hat Stihl auf Eis gelegt, stattdessen überlegt er sich einen Ausbau des Standorts in Wil im Kanton St. Gallen. Von dort aus beliefert Stihl bereits den Weltmarkt mit Sägeketten.
«Die deutsche Industrie steckt in einer Identitätskrise», sagt der Unternehmer Nicola Tettamanti. Mit seiner Firma Tecnopinz produziert er im Tessin hochpräzise mechanische Komponenten, trotz der Nähe zu Italien ist Deutschland der wichtigste Absatzmarkt. Doch das könnte sich ändern: Im letzten Jahr schrumpften die Bestellungen aus Deutschland um 10 Prozent, dieses Jahr geht es im gleichen Stil weiter. «Die deutschen Kunden sind ernüchtert, mit der Inflation haben sie einen enormen Schock erlebt, davon müssen sie sich erst erholen», sagt Tettamanti, der auch Präsident des Industrieverbandes Swissmechanic ist.
Firmen klagen über wirtschaftspolitische Unsicherheit
Die deutsche Wirtschaft habe sich zu lange auf den Erfolgen ausgeruht und es versäumt, vorzusorgen, sagt der Ökonom Klaus Wohlrabe, Leiter Umfragen beim Forschungsinstitut Ifo in München. «Es war schon lange absehbar, dass China nicht die Werkbank der Welt bleiben möchte und aktiver auf den Weltmärkten sein möchte. Darauf hat man sich nicht vorbereitet», sagt er. Mit den steigenden Preisen büsst die deutsche Industrie ihre Vormachtstellung ein. «Der Auftragsmangel ist evident, insbesondere in der Industrie», sagt Wohlrabe.
Auch die Ampelregierung trage eine Mitverantwortung am Niedergang der deutschen Industrie. «Es gibt keine klaren und vor allem keine verlässlichen Signale aus der Politik», sagt der Wirtschaftswissenschafter. Ein grosser Wurf fehle, die Firmen seien verunsichert. «Wenn es Initiativen gibt, starten sie gross und enden eher klein», sagt Wohlrabe. Als Beispiel nennt er das Wachstumschancengesetz, mit dem die Regierung Scholz die Unternehmen steuerlich entlasten und Investitionen fördern wollte. Das geplante Volumen von 6,3 Milliarden Euro wurde im parlamentarischen Prozess fast halbiert.
Die jüngste Ifo-Konjunkturumfrage ist ein Alarmsignal. Vertreter fast aller Industriebranchen gaben zu Protokoll, dass sich ihre Wettbewerbsposition verschlechtert habe. Bislang seien solche Klagen vor allem in der Politik geäussert worden, sagt Wohlrabe. «Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich nun auch Unternehmen Sorgen machen.» Mit ein Grund sind die schrumpfenden Arbeitszeiten bei gleichen Löhnen: «Über den Fachkräftemangel klagen und nur noch 35 Stunden arbeiten passt nicht zusammen», sagt ein Unternehmer.
Frankenstärke entpuppt sich als Glücksfall
Am stärksten trifft die Krise die Automobilindustrie, jahrzehntelang das Kronjuwel der deutschen Wirtschaft. Sie kämpft nicht nur mit konjunkturellen Schlaglöchern, sondern muss sich auch noch vom Verbrennungsmotor verabschieden. «Mein Eindruck ist, dass die deutsche Automobilindustrie die Entwicklung hin zur Elektromobilität verschlafen oder verschleppt hat», sagt Wohlrabe.
«Die deutsche Industrie muss sich neu erfinden», sagt Tettamanti. Sie müsse sich hin zu hochwertigeren Produkten und Branchen mit höherer Wertschöpfung entwickeln. Als Beispiel nennt er die Medizinaltechnik. «Für die Schweiz ist das auch eine Chance, sie wird weniger abhängig von der Automobilindustrie und ihrem unerbittlichen Preisdruck.» Durch den starken Franken sei die Entwicklung schon vorgespurt worden.
Der Frankenschock stürzte die Schweizer Wirtschaft 2015 in eine tiefe Krise. Heute erweist er sich als Glücksfall: Er hat die Resilienz der Unternehmen gestärkt.
Anja Schulze, Professorin für Mobilität und digitales Innovationsmanagement an der Universität Zürich, kann dies bestätigen. Innerhalb von fünf Jahren verfasste sie zwei umfassende Studien über die Schweizer Automobilindustrie. Ihr Befund: «Angesichts der Krisen, die sich in jüngster Zeit gejagt haben, ist die Stabilität bemerkenswert.» Die Schweizer Firmen hätten sich breiter aufgestellt und würden mit weniger Mitarbeitern mehr Umsatz erzielen. «Ob elektrisch oder Verbrenner spielt für viele keine Rolle. Sie haben beides im Portfolio.»
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