Vor dem Start in die Turniervorbereitung spricht der Nationaltrainer über die Kritik an seiner Person im letzten Jahr, stärkt mehreren Spielern den Rücken – und äussert sich erstmals über seine Beziehung zum angeklagten ehemaligen Hells-Angels-Mann Ertan Y.
Murat Yakin, Ihre Führungsspieler Yann Sommer, Manuel Akanji und Granit Xhaka wurden mit Inter Mailand, Manchester City und Bayer Leverkusen Meister in Italien, England und Deutschland. Welche Auswirkungen haben diese Erfolge auf das Nationalteam?
Vielleicht hat die Schweiz noch nie eine solche Qualität an herausragenden Einzelspielern auf diesem hohen Klublevel gehabt. Das stärkt das Selbstvertrauen der Mannschaft weiter und fördert ein bemerkenswertes Selbstverständnis. Nicht nur diese drei Spieler wissen, wie man bedeutende Begegnungen bestreitet und gewinnt. Das wird uns bei der Europameisterschaft helfen.
Murat Yakin
Der 49-jährige Basler ist seit August 2021 Schweizer Nationaltrainer. In den ersten Monaten seiner Amtszeit führte er das Team zur Qualifikation für die WM 2022 in Katar. Dort schaffte die Schweiz zwar den Sprung in die Achtelfinals, ging in der K.-o.-Phase aber mit 1:6 unter. Auch die Qualifikation für die EM 2024 in Deutschland gelang, doch in den letzten sieben Spielen dieser Phase gab es nur einen Sieg. Yakins Vertrag läuft bis zum Ende der EM.
Die Erwartungen an Ihr Team sind hoch: In der Gruppe mit Deutschland, Ungarn und Schottland sollte es mindestens Rang 2 sein. Wie sehen Sie die Ausgangslage für die EM?
Die Schweiz hat in den letzten Jahren stets die Gruppenphase an grossen Turnieren überstanden. Natürlich ist das auch diesmal unser erstes Ziel. Aber ich haue hier jetzt keinen ambitionierten Spruch raus, den ich dann an der EM die ganze Zeit hören muss. Wir werden gut vorbereitet sein, und ich bin sicher, dass es eine sehr spannende Gruppenphase wird. Wir wissen genau, wie unbequem Ungarn und Schottland sein können. Aber was auch klar ist: Die anderen Teams freuen sich nicht auf die Duelle gegen uns.
Wie stark schätzen Sie Deutschland ein?
Deutschland ist ein EM-Favorit, nicht nur wegen des Heimvorteils. Es gibt im deutschen Team einige herausragende Fussballer wie Florian Wirtz, Toni Kroos und Jamal Musiala, um nur ein Trio zu nennen. Es wird spannend zu beobachten sein, ob es dem Trainer Julian Nagelsmann gelingen wird, für alle Topspieler in der Offensive die passende Position zu finden.
Sie haben im Frühling entschieden, neu auf eine Art 3-5-2-System zu setzen. Wird das auch an der EM die bevorzugte taktische Ausrichtung Ihres Teams sein?
Ja, weil es ein System mit einer Dreierkette in der Abwehr ist, das viele Spieler auch aus ihren Vereinen wie Inter und Leverkusen kennen. Und weil wir in dieser Formation sehr flexibel auftreten können, um je nach Gegner und Spielverlauf zu reagieren. Unser Ziel war es immer, verschiedene Systeme zu beherrschen. Das haben wir geschafft.
In der Offensive ist die Schweiz nicht annähernd so stark besetzt wie zum Beispiel Deutschland. In den Tests im März wirkte Ihr Team in Dänemark (0:0) und in Irland (1:0) harmlos, einzig Xherdan Shaqiri traf mit einem Freistoss. Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass es an der EM besser wird?
Wir werden in diesem System zu Chancen kommen, weil wir variabel auftreten und im Sturm unterschiedliche Optionen haben. Wir können mit zwei zentralen Angreifern spielen oder mit einem Mittelstürmer und zwei Spielern dahinter, wir haben torgefährliche Mittelfeldspieler, wir möchten mit unseren schnellen Fussballern wie Dan Ndoye nach Umschaltaktionen personelle Überzahlsituationen kreieren.
Sie sagten, der Stürmer Breel Embolo sei unersetzbar. Er könnte nach einer erneuten Verletzung die EM verpassen. Seine Entwicklung stagniert ohnehin, zumal er sich immer wieder Eskapaden leistet wie das gefälschte Covid-Zertifikat, die Schlägerei im Ausgang und die Flucht während Corona vor der Polizei. Was läuft bei Embolo schief?
Das sind private Geschichten, die teilweise lange her sind. Breel ist reifer geworden, er ist ein herzensguter Mensch. Diese Dinge hinterlassen bei ihm keinen Schaden, er ist im Kopf parat und hat aus diesen Ereignissen gelernt.
Sie sagten auch, Breel Embolo müsse sein Umfeld besser organisieren. Auch Ihnen wurde oft vorgeworfen, eine komplizierte Entourage zu haben. Fühlen Sie sich mit Embolo speziell verbunden?
Das ist eine interessante Beobachtung. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie schnell man unverschuldet in einer schwierigen Situation stecken kann. Darum ist es für Breel entscheidend, dass er sich auf sich, seine Familie und seine Freunde konzentrieren kann. Er ist einer der beliebtesten und besten Schweizer Nationalspieler, alle wollen etwas von ihm, womöglich liess er sich manchmal zu leicht beeinflussen. Es würde mich sehr freuen, wenn er seine Klasse als Fussballer in den nächsten Jahren konstant beweisen kann. Weil es in der Schweiz keinen zweiten Spieler wie ihn gibt.
Gleiches gilt immer noch für Xherdan Shaqiri. Er ist der Spieler für magische Momente, das hat er an Turnieren stets bewiesen. Wir haben den Eindruck, dass Sie Shaqiri nicht total vertrauen, weil seine Fitness nicht ausreichend sein könnte, um defensiv hart zu arbeiten. Kann es sich die Schweiz wirklich leisten, auf die speziellen Aktionen Shaqiris zu verzichten?
Ich bin der grösste Fan von Xherdan. Und ich weiss genau, wie genial er sein kann. Mein Bruder Hakan war ein ähnlicher Spielertyp. Es ist gut, dass Xherdan früh zu uns ins Camp kommt und vor dem Turnier den Rhythmus aufnehmen kann. Das Ziel ist es, dass wir in Deutschland alle Spieler in Bestform haben. Am Ende sind wir ein Team, und ich als Trainer muss vor den Spielen entscheiden, was jeweils das Beste für das Team ist.
Im März wirkte es nicht so, als würde Xherdan Shaqiri verstehen, warum er gegen Dänemark nicht in der Startformation stand. Weiss er, was Sie mit ihm planen?
Wir besprachen damals seine Rolle, er hatte wenig Spielpraxis. Und wir werden auch vor der EM genug Zeit haben, um mit den Spielern alles ausführlich zu diskutieren. Wir kriegen umfangreiche Leistungsdaten von allen Nationalspielern und werden genau abschätzen können, wie belastbar sie sind.
Sie haben gleich 38 Spieler für die EM-Vorbereitung ab Montag aufgeboten. Ist es nicht schwieriger, einen Teamgeist aufzubauen, wenn über zehn Spieler noch aussortiert werden?
Das Nationalteam ist in den letzten Jahren gewachsen, wir müssen den Teamgeist nicht mehr neu entwickeln. Und wir möchten in der Vorbereitung ein paar jungen Fussballern die Gelegenheit geben, reinzuschnuppern. So können wir in der ersten Phase der Vorbereitung einen geregelten Trainingsbetrieb mit genügend Torhütern und Feldspielern durchführen, weil zahlreiche Nationalspieler wegen Begegnungen mit ihren Klubs erst später einrücken. Ich fände 3 Torhüter und 21 Feldspieler die ideale Besetzung für die EM. Aber weil wir nicht wissen, ob es Embolo und Denis Zakaria nach ihren Verletzungen reicht, dabei zu sein, werden wir vielleicht trotzdem mit 26 Spielern nach Deutschland reisen.
Es gab im letzten Herbst mehrere Zeitungen, die nach schwachen Leistungen des Nationalteams Ihre Freistellung forderten. Hat Sie das getroffen?
Kritik gehört dazu. Ich hatte damals auch persönlich eine traurige und schwierige Zeit wegen des Todes meiner Mutter. 2023 ging es für uns darum, die EM zu erreichen. Das haben wir geschafft. 2024 geht es nun darum, eine gute EM zu spielen. Womöglich haben einige Journalisten ein wenig übertrieben. Ich bin lange genug im Geschäft dabei und weiss genau, wie es funktioniert. Aber ich muss mir nicht alles gefallen lassen.
Auch wir haben Sie kritisiert, unter anderem, weil das Nationalteam 2023 keine Fortschritte erzielt hat. Und gerade die Zusammenarbeit von Ihnen mit dem Captain Granit Xhaka sorgt immer wieder für Schlagzeilen und Unruhe.
Es ist sehr gut, sprechen Sie das an. Wenn die Kritik sachlich und kompetent ist, kann ich damit sehr gut umgehen. Granit und ich haben mehrmals betont, dass wir uns damals nach dem Kosovo-Spiel ausgesprochen haben. Alles ist gut. Sehr gut sogar. Aber ihr Journalisten glaubt uns nicht. Granit reagiert manchmal emotional, weil er jedes Spiel gewinnen will. Er hat familiäre Wurzeln im Kosovo, ich in der Türkei, in unseren Kulturen wird auch mal laut und direkt geredet, das kann heftig rüberkommen. Für euch Medien ist das doch interessanter, als wenn wir alle langweilig wären.
Sie gelten als Gambler, der es manchmal auch etwas locker nimmt. Wie sehr hilft Ihnen diese Einstellung als Nationaltrainer, den bald wieder die ganze Nation beurteilen wird?
Ich habe bereits als Kind viel Verantwortung übernommen, da war nicht immer alles rosarot. Das hat mich geprägt. Ich nehme mich nicht zu ernst und versuche immer einzuordnen, was wirklich wichtig ist im Leben. Diese Gelassenheit ist mein Vorteil. Und noch einmal: Ich bin seit über drei Jahrzehnten im Fokus der Medien und habe gelernt, auch einmal im Gegenwind zu stehen. Das kann ich aushalten. Aber mit Social Media und all diesen Breaking News im Internet ist es heute manchmal schon sehr wild, was alles an Polemik verbreitet wird. Es hilft mir, eine tolle Familie zu haben und gute Freunde. Und ich kann das Leben geniessen und ganz gut abschalten, beispielsweise beim Golfen oder beim Padelspiel.
Stehen Sie auch über den Dingen, weil Sie finanziell unabhängig sind und Ihr Geld geschickt in Immobilien investiert haben?
Meine Gelassenheit und meine Ruhe haben nicht primär mit Geld zu tun. Wenn wir an der WM im Achtelfinal 1:6 gegen Portugal verlieren und in der Schweiz gefühlt die Welt zusammenbricht, dann weiss ich, dass es solche Tage und Spiele geben kann. Und ich weiss auch, dass es einen nächsten Tag geben wird. Ein nächstes Spiel. Ein nächstes Turnier. Und hier sind wir jetzt.
Über Ihre geschäftlichen Aktivitäten kursieren interessante Geschichten. Jene, wonach Sie den FC Schaffhausen besitzen sollen, hält sich äusserst hartnäckig. Wie sehr stört es Sie, dass solche Gerüchte immer wieder erzählt werden?
Auch hier bin ich froh, sprechen Sie dieses Thema an, damit ich die Sachlage erklären kann. Ich hätte den FC Schaffhausen übernehmen können, wenn ich das gewollt hätte. Aber ich setze andere Prioritäten. Ich war beim FC Schaffhausen Trainer und habe dem Klub in einigen Bereichen geholfen, weil dort Menschen arbeiten, die ich schätze. Und wer mich kennt, der weiss, dass ich für meine Freunde immer da bin, wenn sie Unterstützung benötigen.
Das ist ein weiterer spannender Punkt. Ihr neuer Assistent Giorgio Contini hat sich daran gestört, dass wir geschrieben haben, er gehöre zu diesem vielzitierten und weitverzweigten «Yakin-Clan». Dabei finden wir seine Anstellung sinnvoll und meinten das nicht negativ.
Jaja, dieser «Yakin-Clan». Das begleitet mich meine ganze Karriere. Sie würden als Nationaltrainer auch mit Menschen zusammenarbeiten, denen Sie vertrauen. Das ist doch völlig normal. Giorgio kenne ich sehr lange, aber wir sind keineswegs enge Freunde und gehen gemeinsam in die Ferien oder so. Wir hatten vor vielen Jahren beim FC Luzern eine tolle Zeit in der gleichen Konstellation. Und mit seinen Fähigkeiten, seiner Erfahrung, seiner Vielsprachigkeit und seiner motivierenden Art ist er die ideale Verstärkung für unseren Trainerstab, das haben die letzten Monate bewiesen. Er gehört aber nicht zum «Yakin-Clan», unsere Familie ist schon so gross genug, dass es nicht immer einfach ist, den Überblick zu behalten. Ich habe mich daran gewöhnt, dass es Berichte über mich gibt, die ich nicht beeinflussen kann.
Jüngst standen Sie unerwartet im Fokus, als es vor Gericht um die mutmasslichen Delikte im Prozess gegen das ehemalige Hells-Angels-Mitglied Ertan Y. ging. Sie sind Nebenkläger, weil Sie freundschaftlich und geschäftlich mit dem Mann verbunden gewesen und finanziell geschädigt sein sollen. Wie eng war Ihre Beziehung zu Ertan Y.?
Vorab: Ich bin nicht Nebenkläger, sondern habe lediglich zuhanden des Strafgerichts Basel-Stadt beantragt, dass sechs beschlagnahmte Uhren herausgegeben werden. Der Anwalt des Hauptbeschuldigten hat im Rahmen einer schriftlichen Stellungnahme deklariert, dass zwei dieser Uhren bereits verkauft wurden. Der Hauptbeschuldigte hatte Ende 2020 aktiv Kontakt zu mir gesucht, weil er wusste, dass ich eine kleinere Uhrensammlung besitze. Er hat mir angeboten, beim Verkauf einzelner Uhren behilflich zu sein, da er entsprechende Erfahrung und Kontakte habe. Darüber hinaus hatten wir keine anderweitige geschäftliche Beziehung. Bis heute habe ich die ausgehändigten Uhren nicht zurückerhalten, weshalb ich über meinen Anwalt die Herausgabe meines Eigentums beantragte. Die damals zum Verkauf ausgehändigten Uhren stehen in keinem deliktischen Zusammenhang des laufenden Strafverfahrens.
Ertan Y. hatte von Ihnen Bargeld in der Höhe von rund 150 000 Franken und war auch im Besitz einer Luxusuhr von Ihnen im Wert von 80 000 Franken, die er auf Social Media präsentierte. Warum haben Sie Ertan Y. so stark vertraut?
Ich habe von Natur aus eher Vertrauen in andere Menschen. Aber ich hatte keinerlei Kenntnis über die Verfehlungen, welche dem Hauptbeschuldigten vorgehalten werden. Ich habe diesem nie Geld gegeben oder geliehen. Ebenso habe ich weder mit diesen vorgeworfenen Verfehlungen gegen den Hauptbeschuldigten noch mit den Hells Angels etwas zu tun gehabt.
Sie sagten an einer Pressekonferenz kürzlich, es soll einzig um Fussball gehen. Verstehen Sie nicht, dass diese Geschichte von öffentlichem Interesse ist?
Ich verstehe, dass es interessiert, wenn mein Name im Rahmen eines Prozesses auftaucht. Aber ich bin Geschädigter, der einzig und allein als Privatperson sein Eigentum zurückverlangt. Und da habe ich kein Verständnis dafür, wenn Unwahrheiten und falsche Tatsachen verbreitet werden, die dem Nationalteam und meiner Person schaden. Dies insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kontakt zum Hauptbeschuldigten vier Jahre zurückliegt und vor meinem Engagement als Nationaltrainer stattfand.
Menschen, die Sie gut kennen, sagen, Sie seien gutmütig und würden auch ausgenutzt. Welche Lehren haben Sie aus dieser Geschichte mit Ertan Y. gezogen?
Es ist mir wichtig, auch künftig nahbar zu sein, denn ich schätze den Kontakt zu anderen Menschen sehr. Seit meinem Engagement als Nationaltrainer bin ich jedoch kritischer geworden im Hinblick auf neue Kontakte. Der Hauptbeschuldigte wurde 2021 verhaftet. Damals konnte ich nicht wissen, an wen ich die Uhren aushändige. Hätte ich das gewusst, hätte ich dies nicht getan.
Ist es für Sie nach den vielen Debatten in den letzten Monaten überhaupt vorstellbar, auch nach der EM weiter Schweizer Nationaltrainer zu sein?
Mein Vertrag läuft aus. Und es geht jetzt nur um die Europameisterschaft, dann schauen wir in Ruhe weiter. Verlieren wir dreimal in der Vorrunde, würde auch ein Vertrag bis 2040 aufgelöst werden. Gelingt uns ein sensationelles Turnier, würden einige wohl einen Vertrag bis 2040 für mich fordern. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie schnell es im Fussball in alle Richtungen gehen kann.
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