Über das vielleicht berühmteste Essen Indiens muss in Delhi nun ein Gericht entscheiden. Aus dem Fall lässt sich einiges über die Inder und ihr Verhältnis zum Essen lernen.
Wenn die Sauce samtig und glänzend ist, dick und schwer über das Fleisch fliesst, dann ist es ein gutes Butter-Chicken. Wenn die Hühnerknochen angekohlt sind vom Tandoor-Ofen und die Sauce leicht rauchig schmeckt, dann ist es ein gutes Butter-Chicken. Und, vielleicht das Wichtigste: Ein gutes Butter-Chicken lässt einen kurz innehalten – nach dem ersten Bissen plötzlich Stille am Tisch, um in einer Kindheitserinnerung zu schwelgen, der Erinnerung an ein erstes Date, an eine Hochzeit, an eine Mutter. Ein gutes Butter-Chicken ist Nostalgie.
Das Butter-Chicken ist das vielleicht indischste Gericht überhaupt. Es ist von der Hauptstadt Delhi aus in Restaurants in der ganzen Welt gereist. Und es ist in diesen Tagen ein Streitfall vor Gericht.
Ende Mai wird das Hohe Gericht in Delhi darüber beraten, wer das Butter-Chicken erfunden hat. Gegenüber stehen sich die Enkel zweier Männer, die einst zusammen ein Restaurant in Delhi führten, das «Moti Mahal», den Perlen-Palast. Kundan Lal Jaggi und Kundan Lal Gujral hiessen nicht nur fast gleich, sie sahen auch fast gleich aus. Beide trugen stolz einen gezwirbelten Schnurrbart und darunter ein verschmitztes Lächeln. Beide sind vor einigen Jahren verstorben.
Es ist nicht zu vermuten, dass der Fall schnell entschieden wird. Die indische Justiz lässt sich meist Monate, oft Jahre Zeit mit einem Urteil. Aber vielleicht lässt sich aus dem Fall immerhin etwas über Delhi, Indien und indisches Essen lernen.
Die Teilung des Subkontinents veränderte Delhi
Jaggi und Gujral gründeten 1947 mit einem dritten Partner das «Moti Mahal» in Delhi. Kurz zuvor hatten die Briten ihr indisches Reich in die Unabhängigkeit entlassen und es dabei in Indien und Pakistan geteilt. Von einem Tag auf den anderen wurde der Subkontinent zerrissen, Hindus und Sikhs strömten aus Pakistan nach Indien, Muslime hasteten nach Pakistan. Bei religiösen Unruhen an den Grenzen wurden Tausende ermordet.
Die Teilung des Subkontinents veränderte Delhi. Vor den Briten hatten die Moguln die Stadt geprägt, muslimische Herrscher, die in der Stadt ihre Grabmäler, Parks und Brunnen hinterliessen. Nach der Teilung waren es die geflüchteten Hindus und Sikhs aus Pakistans Region Punjab, die Indiens Hauptstadt prägten. Ein neuer Geschäftssinn erhielt Einzug, der Wille, es unbedingt zu schaffen, und eine Ruchlosigkeit, die bis heute nicht aus der Stadt verschwunden ist.
Der Schriftsteller Khushwant Singh, ein Chronist dieser Zeit, lässt in seinem Opus «Delhi» eine seiner Protagonistinnen sagen: «Alle diese Punjabis kamen nach Delhi ohne einen Penny in ihrer Tasche. Und schau sie jetzt an! Ihnen gehört die ganze Stadt. Sie haben sich Paläste gebaut. Sie leben von Tandoori-Chicken und trinken Whiskey. Sie fahren ihre fetten Frauen in importierten Autos spazieren.»
Auch Jaggi und Gujral kamen als Flüchtlinge nach Delhi. Zuvor hatten sie im pakistanischen Peshawar nahe der afghanischen Grenze zusammen in einem Imbiss gearbeitet. Mit ihrem Essen im «Moti Mahal» prägten sie das Lebensgefühl im neuen Delhi. Bald galt es als dessen prominenteste Adresse. Indiens Premierminister Jawaharlal Nehru ass bei ihnen und mindestens einmal auch Jacky Kennedy.
«Mein Grossvater war ein bescheidener Mann», sagt Monish Gujral, ein Enkel von Kundan Lal Gujral. «Ich erinnere mich daran, dass er sich vor jedem Gast verbeugte und seine Füsse berührte.»
«Das Restaurant hat um 15 Uhr eine Pause gemacht, dann habe ich mein Mittagessen gegessen, normalerweise ein halbes Naan, ein bisschen Sauce vom Butter-Chicken und ein bisschen Dal», sagt Raghav Jaggi, ein Enkel von Kundan Lal Jaggi. Seine Schule sei in der Nähe vom «Moti Mahal» gewesen, nach Schulschluss ging Jaggi manchmal ins Restaurant. «Zu meinen schönsten Erinnerungen gehören diese Freitagnachmittage mit meinem Grossvater und einem halben Naan.»
Der Enkel Gujral hat den Enkel Jaggi auf Schadensersatz von umgerechnet 220 000 Franken verklagt. Beide behaupten, ihr Grossvater habe das Butter-Chicken erfunden.
«Das originale Butter-Chicken»
Die Grossväter hatten das Restaurant «Moti Mahal» 1992 verkauft. Die Familie Gujral blieb im Restaurantgeschäft, der Enkel Monish betreibt heute das Restaurant «Moti Mahal Delux» mit Franchisenehmern in ganz Indien. Die Familie Gujral wandte sich anderen Dingen zu, bis der Enkel Raghav Jaggi, der als Finanzberater in New York lebt, 2019 zusammen mit einem Geschäftspartner die Restaurantkette Daryaganj gründete.
Beide, «Moti Mahal Delux» und Daryaganj, werben damit, die Heimat von Butter-Chicken und Dal Makhani zu sein, einem weiteren Original der nordindischen Küche: ein schwarzes buttriges Linsengericht. Beide bieten auf ihrer Karte das «originale Butter-Chicken» an. Gujrals Poulet ist wunderbar gewürzt und geröstet. Jaggis Sauce besteht aus zerquetschten, nicht pürierten Tomaten, sie sind das Geheimnis, das Restaurant will nicht verraten, woher es so süsse Tomaten bekommt.
«Ich bin sehr stolz auf mein Vermächtnis», sagt Monish Gujral. Er habe die Klage eingereicht, weil seine Kunden verwirrt gewesen seien. Dies sei ein klarer Fall von Diebstahl von geistigem Eigentum.
«Ich stehle nicht irgendjemandes Vermächtnis. Es ist mein Vermächtnis», sagt Raghav Jaggi. Er will die Klage nutzen, um den Beitrag seines Grossvaters zur indischen Küche zu verteidigen.
Wie Butter-Chicken genau entstand, darüber sind sich die zwei uneinig. Jaggi sagt, er könne beweisen, dass sein Grossvater im «Moti Mahal» die Küche geführt habe. Gujral glaubt beweisen zu können, dass sein Grossvater die Idee für das Butter-Chicken bereits aus Peshawar mit nach Delhi genommen habe. Beide berufen sich auf alte Zeitungsartikel und Fotos und sagen, sie hätten die Geschichte so von ihren Grossvätern gehört. Einig sind sie sich nur, dass das Rezept aus der Not geboren war.
Ihre Grossväter kochten in einem Tandoor-Ofen. Der Tandoor sieht aus wie eine grosse Urne. Meistens ist er aus Ton, manchmal in die Erde eingelassen, man findet ihn von Kabul bis Kalkutta. Am Boden wird ein Feuer gemacht, dann werden Spiesse mit mariniertem Fleisch hineingesteckt und der Ofen geschlossen. Das Resultat ist ein herrlich rauchiger, erdiger Geschmack. Weil Jaggi oder Gujral, je nach Erzählung, am Tagesende zu viele grillierte Pouletstücke übrig hatten, wollten sie diese haltbar machen. Die Lösung war eine Tomatensauce, in die sie das Fleisch kippten und am nächsten Tag als neues Gericht servierten.
Man kann Butter-Chicken auch ohne Tandoor kochen. Dann legt man am Ende ein glühendes Kohlestück in die Sauce für das Raucharoma. Aber man schmeckt den Unterschied.
Leidenschaftliche Essensdebatten
«Ich glaube, Butter-Chicken hat weltweit Erfolg, weil es ein raffiniertes und cleveres Gericht ist. Es ist süss und sauer, es hat etwas für jeden Geschmack», sagt Monish Gujral.
«In einer Punjabi-Familie aufzuwachsen, hiess, dass Essen von allergrösster Bedeutung war», sagt Raghav Jaggi. Beim Frühstück hätten sie darüber diskutiert, was es zum Mittagessen geben, beim Mittagessen, was man zum Abendessen kochen könnte. «Der ganze Haushalt drehte sich um die Küche und den Esstisch mit meinem Grossvater.»
Wahrscheinlich kann man in wenigen Städten dieser Welt so leidenschaftlich übers Essen debattieren wie in Delhi. Wer nicht übers Wetter reden will (es ist sowieso meistens heiss), redet übers Essen: Fast jeder Bewohner dieser Stadt glaubt, den besten Essensstand entdeckt zu haben, der ein bestimmtes Gericht besser kocht als alle anderen.
Wer fünf Menschen in Delhi nach dem besten Butter-Chicken der Stadt fragt, wird fünf verschiedene Antworten erhalten. Nicht wenige Menschen in dieser Stadt würden sich stundenlang durch den Verkehr zwängen, um an einer Strassenecke auf einem Pappteller das grossartigste Kichererbsencurry überhaupt zu probieren.
Das «Moti Mahal», das mittlerweile verkaufte Original, stand in Old Delhi, dem Stadtteil mit den engsten Gassen, den meisten Menschen, dem besten Essen. Die britische Autorin Pamela Timms hatte sich für ihr Buch «Korma, Kheer & Kismet» vorgenommen, die Rezepte der Essensstände in Old Delhi aufzuschreiben – und ist meist gescheitert.
Die Strassenköche verrieten ihr eine oder zwei entscheidende Zutaten nicht, sie glaubten, sonst würde die Konkurrenz das Gericht nachkochen. Denn aus einem erfolgreichen Strassenstand kann einmal ein Imbiss werden, dann ein Restaurant, dann eine Kette. Es gibt genug Beispiele dafür. Und den meisten wurde auf dem Weg mindestens einmal der Name von einem Konkurrenten gestohlen, der sein Restaurant gleich nannte, um die Kunden anzulocken.
Tomaten aus Amerika, Muskat aus Indonesien
Ende Mai beginnt vor Delhis Hohem Gericht die Verhandlung darüber, wer Butter-Chicken erfunden hat. Jaggi und Gujral glauben beide, im Recht zu sein. Sie kennen sich nicht persönlich, halten aber nicht viel voneinander. Jaggi sagt, er verdiene mit seinen Restaurants ein Vielfaches von Gujral, und lässt durchblicken, dass er die Klagesumme für einen Witz hält. Gujral hat kürzlich gegenüber dem «Wall Street Journal» Jaggi und seinen Partner Betrüger genannt. Sie haben ihn daraufhin verklagt, seither ist Gujral vorsichtiger geworden mit den Medien.
Es ist unklar, ob das Gericht in Delhi überhaupt entscheiden kann, wer Butter-Chicken erfunden hat. Vielleicht spielt das ausser für die Geschäftsmänner Jaggi und Gujral auch gar keine Rolle.
Der Muskat im Butter-Chicken kam in der Antike nach Indien, er gedieh nur auf einer vulkanischen Inselgruppe in Indonesien. Die Tomaten im Butter-Chicken brachten portugiesische Seefahrer im 16. Jahrhundert aus Amerika. Im 19. Jahrhundert liess sich Queen Victoria in London zweimal die Woche Curry von indischen Köchen aus der damaligen Kolonie servieren. Die Popularität von Curry in Grossbritannien hielt an, in den sechziger Jahren erfanden Emigranten das Chicken Tikka Masala, eine Abwandlung des Butter-Chicken, es wird heute in ganz England in Tausenden indischen Restaurants serviert und wurde zum neuen Nationalgericht erklärt. Die Emigranten kamen aus Pakistan.
So gesehen, ist das Butter-Chicken nur eine Station einer viel grösseren Reise: jener der Küche dieses Subkontinents, die niemandem gehört, sondern ein Geschenk ist an die Welt.
Die beiden Grossväter von Gujral und Jaggi waren übrigens dem Vernehmen nach ein Leben lang Freunde geblieben.