Abhängigkeit entsteht durch das Verlangen nach dem nächsten Kick und das Abschalten von Entzugserscheinungen. Nun ist klar: Diese Prozesse geschehen in unterschiedlichen Gehirnregionen. Somit können Schmerzmittel mit weniger Nebenwirkungen entwickelt werden.
Fentanyl ist eine der gefährlichsten Drogen überhaupt. Keine Droge wirkt so schnell. Zudem beschert Fentanyl einen sehr starken Kick. Schon ein Tausendstel Gramm dieses synthetischen Opiats macht innert weniger Minuten high. Aber bereits zwei Tausendstel Gramm sind tödlich.
Obwohl Fentanyl vor mehr als sechzig Jahren erstmals im Labor hergestellt wurde und für Operationen oder in der Notfallmedizin seit langem ein sehr wichtiges Schmerzmittel ist, ist es nach wie vor für biologische Überraschungen gut. Nun haben Forscher der Universität Genf herausgefunden, dass die Entzugssymptome in einem völlig anderen Gehirnbereich entstehen als zuvor angenommen.
«Wir wissen seit vielen Jahren, dass Fentanyl im Gehirn an sogenannte μ-Rezeptoren auf diversen Nervenzellen bindet», erklärt Christian Lüscher, Neurobiologe und Drogenexperte an der Universität Genf. Solche Andockstationen gibt es in vielen Regionen im Hirn. Gelangt Fentanyl in ein Areal, löst es dort eine Überflutung mit dem Botenstoff Dopamin aus.
Bekannt ist auch, dass die Euphorie, also das High-Sein, durch Fentanyl-Bindung an μ-Rezeptoren in einer Gehirnregion namens VTA entsteht. Hier sitzt unser inneres Belohnungssystem.
Gibt es kein Fentanyl mehr, versiegt die Dopaminflut. Doch entgegen den bisherigen Annahmen ist es nicht ein Dopaminmangel im VTA, der die Entzugssymptome auslöst. Vielmehr hat Lüschers Team nun bei Mäusen gezeigt, dass die Entzugserscheinungen in der Gehirnregion namens Amygdala entstehen. Die Amygdala ist für Gefühle und die emotionale Bewertung einer Situation zuständig.
Das wirkt auf den ersten Blick wie eine ganz interessante, aber doch recht fachspezifische Erkenntnis für Neurobiologen und Suchtforscher. Drogenabhängigen ist es sicher völlig egal, welche Gehirnregion was macht. Sie leiden immer nach dem Abbau des Fentanyls im Gehirn unter sehr starken Entzugssymptomen – bis zur nächsten Dosis.
«Aber dieser Puzzlestein öffnet ganz neue Wege, sowohl für die Schmerzmittelforschung als auch die Substitutionstherapie», betont Lüscher. So könnten neue opiathaltige Schmerzmittel entwickelt werden, die weniger Entzugserscheinungen auslösten. Dafür müsste man nach Substanzen suchen, die ganz gezielt jene Nervenzellen in der Amygdala blockieren, die die Entzugssymptome verursachten. Findet man ein solches Mittel, könnte man es dem Fentanyl oder auch anderen Opiaten beigeben. So liesse sich künftig eine Abhängigkeit zumindest stark verringern, weil nach dem Absetzen des Schmerzmittels die Entzugserscheinungen ausblieben.
Ein Drogendealer wird sicher nicht solch ein Kombipräparat anbieten. Doch auch Fentanyl-Süchtigen könnten die neuen Erkenntnisse helfen. «Wir können jetzt viel besser die unterschiedlichen Wirkungen von Heroin oder Methadon als Substitutionstherapie untersuchen», sagt Lüscher. Gelänge eine spezifische Blockade der Amygdalanerven, würde das eine Therapie insgesamt verbessern.
Lüscher treibt allerdings noch etwas anderes um: «Ich möchte mit meiner Forschung auch zeigen, dass anhaltender Drogenkonsum keine moralische Schwäche oder kein individuelles Versagen ist.» Drogen lösten viele verschiedene Prozesse und Veränderungen im Gehirn aus. Diesen könne niemand einfach mit dem reinen Willen etwas entgegensetzen. «Ich hoffe, alle neuen Erkenntnisse aus der Neurobiologie reduzieren auch das Stigma, das anhaltendem Drogenkonsum immer noch anhaftet.»