Geht es weiter wie bisher, dürfte die Wirtschaft im Reich der Mitte bald nur noch mit 3 statt wie früher 8 bis 10 Prozent wachsen. Das ist eine schlechte Nachricht auch für den Rest der Welt.
Er ist eine der letzten internationalen Organisationen, die trotz allen geopolitischen Spannungen funktioniert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) verhindert grössere Krisen, indem er einspringt, wenn überschuldete Staaten zahlungsunfähig werden. Mit seinen jährlich erscheinenden technischen Analysen zur Wirtschaftspolitik der Mitgliedländer will er verhindern, dass es überhaupt zu grossen Krisen kommt.
Die USA sind das wichtigste Mitglied des in Washington beheimateten IWF, liegen aber im Clinch mit China, dessen Mitwirken beispielsweise bei den Bemühungen zur Sanierung überschuldeter Entwicklungsländer zentral ist. Was also macht der IWF, wenn es um die Beurteilung der Wirtschaftspolitik Chinas geht?
Diesen Mittwoch hat er es gezeigt: Er lässt seine Ökonomen arbeiten, lobt vor Ort höflich und veröffentlicht ein Mediencommuniqué, in dem er seine Vizedirektorin Gita Gopinath, eine international renommierte Ökonomin, technische Einschätzungen abgeben lässt, die es in sich haben.
Aufschwung so nicht nachhaltig
Gopinath lobt Chinas eindrückliche Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte, die angetrieben worden sei durch marktwirtschaftliche Reformen, Handelsliberalisierungen und die Integration in weltweite Lieferketten. Sie berichtet, dass der IWF seine Wachstumsprognosen für China angesichts jüngster wachstumsstützender Massnahmen Pekings für dieses Jahr um 0,4 Prozentpunkte nach oben auf 5,0 Prozent revidiert hat. Das dürfte die chinesischen Machthaber erfreuen – es entspricht exakt ihrem offiziellen Wachstumsziel für das laufende Jahr.
Doch für nachhaltig hält Gopinath diese Entwicklung unter den gegebenen Bedingungen eben gerade nicht. Sie geht davon aus, dass ohne weitreichende strukturelle Reformen das mittelfristige Wachstumspotenzial Chinas bis in fünf Jahren auf nur noch 3,3 Prozent sinken wird. Das mag für hochentwickelte, saturierte Wirtschaften wie Deutschland oder die Schweiz attraktiv tönen. Für das Land, dessen Wirtschaft in den nuller Jahren noch mit durchschnittlich 10 Prozent pro Jahr und in den 2010er Jahren mit 8 Prozent gewachsen war, bedeutet die Prognose aber das Ende des chinesischen Wirtschaftswunders. Es würde ziemlich sicher die sozialen Spannungen erhöhen, wenn breite Schichten nicht mehr erwarten könnten, dass es spürbar aufwärtsgeht.
Gopinath begründet ihre Prognose mit der Alterung der Gesellschaft und einem geringen Produktivitätswachstum. Sie sieht gar das Risiko, dass wegen der Immobilienkrise und des zunehmenden Drucks zur Fragmentierung der Weltwirtschaft die Wachstumsprognose des IWF eher zu optimistisch als zu pessimistisch ausgefallen ist.
Doch wieso soll das erwartete Produktivitätswachstum plötzlich so viel tiefer sein als früher? Auf dem chinesischen Arbeitsmarkt gibt es trotz der Alterung noch mehr als genügend nicht vollbeschäftigte Arbeitskräfte.
Auf das Wachstum und die Stimmung drücken die geplatzte, aber noch nicht verarbeitete Immobilienblase, die Überschuldung lokaler Regierungen und die fehlende Konsumlust. Die Zentralregierung sollte mit einmaligen Zuwendungen dafür sorgen, dass Häuser rasch fertiggestellt, aber der Immobiliensektor auch bereinigt und saniert wird. Vor allem aber müsste das chinesische Wachstumsmodell stärker auf inländischen Konsum ausgerichtet werden, etwa indem ein besseres soziales Sicherheitsnetz aufgebaut würde, statt die erwirtschafteten Ressourcen nur in Beton und in die Industrie zu stecken.
Es braucht einen Deal zwischen China und den USA
«Die Industriepolitik, mit der China priorisierte Sektoren unterstützt, kann zu einer Fehlallokation von Ressourcen führen und Handelspartner potenziell beeinträchtigen», warnt Gopinath dazu diplomatisch. «Diese Initiativen zu reduzieren und gleichzeitig noch bestehende Handels- und Investitionsbarrieren zu beseitigen, würde die Produktivität steigern und den Fragmentierungsdruck senken.»
Dazu hat die IWF-Vize aber auch eine Botschaft in Richtung Washington parat: Sie empfiehlt China, sich für eine Stärkung des multilateralen Handelssystems der WTO einzusetzen, das die USA gegenwärtig ignorieren.
Auch wenn es der IWF nicht so explizit sagt: Die Welt brauchte einen Deal zwischen China und den USA. Einerseits müsste dafür Peking seine Industriepolitik, mit der sie den Exporterfolg zukunftsgerichteter Branchen aktiv unterstützt, freiwillig etwas zurückfahren und stärker auf die Stärkung des Konsums ihrer Bevölkerung setzen. Andererseits müsste Washington im Gegenzug wieder nach internationalen Freihandelsregeln spielen und auf aggressiv-protektionistische Massnahmen verzichten.
Der ökonomische Befund ist eindeutig. Leider fehlt für so einen Deal wohl gegenwärtig auf beiden Seiten das Vertrauen. Solange das aber der Fall ist, bleibt nicht nur das chinesische Wirtschaftswunder Geschichte und die wirtschaftspolitische Bilanz des Partei- und Staatschefs Xi Jinping gefährlich mager. Auch die westliche Welt wird ohne eine solche Verständigung unter einem verschwenderischen Subventionswettlauf und eingetrübten Wachstumsaussichten zu leiden haben.