Auslandschweizer finden im Taunus über Frankfurt am Main ein Stück Heimat, während sie sich auf das EM-Spiel Schweiz – Deutschland einstimmen.
An einem Sonntagvormittag im Mai macht Bruno Streit an einer Strassenecke klar, was Schweizer von Deutschen unterscheidet. An diesem Tag trifft sich ein Grüppchen Exilschweizer zu einer Wanderung im hessischen Städtchen Oberursel, 13 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main. Bruno Streit, emeritierter Professor für Ökologie, ruft: «Es ist elf Uhr, gehen wir los.»
Gemurmel in der Gruppe, leiser Widerspruch vom Präsidenten der veranstaltenden Schweizer Gesellschaft Frankfurt: «Es ist jetzt wirklich gerade erst Punkt elf, ich finde, wir sollten noch kurz warten, es wollten noch einige kommen.»
In diesem Moment nähert sich ein Paar in den Vierzigern von hinten der Gruppe. «Wir sind schon länger da, wir haben nur noch unsere Räder abgeschlossen!»
Die sprichwörtliche Schweizer Pünktlichkeit wird hier im Land der notorischen Schludrigkeit – wo Züge mit 5 Minuten und 59 Sekunden Verspätung als pünktlich gelten – vielleicht noch stärker gepflegt als zu Hause. Deutsch-schweizerische Beziehungen und die Mentalitätsunterschiede werden während des Ausflugs ein wiederkehrendes Thema sein.
Der Taunus ist ein Mittelgebirge nördlich von Frankfurt. Von der Grossstadt aus gut zu erkennen ist dessen höchste Erhebung, der Grosse Feldberg mit 879 Metern. Er ist ein beliebtes Ausflugsziel und ein Aussichtspunkt. Da Frankfurt lediglich auf 113 Metern über dem Meer liegt, schätzen Radsportler ihn als Trainingsgebiet
Für die 770 000 Menschen, die in Frankfurt leben, ist der Taunus das am schnellsten erreichbare Ziel mit bewaldeter Berglandschaft. Der Startpunkt Oberursel ist in zwanzig Minuten von der Innenstadt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Daher beginnt hier auch der Ausflug der Schweizer Gesellschaft Frankfurt, eines Vereins für Exilschweizer und andere Freunde der Eidgenossenschaft, gegründet 1875.
Das Konsulat weist auf den Schweizerverein hin
Wer mit einem Schweizer Pass nach Frankfurt kommt, wird vom Konsulat auf die Aktivitäten des Vereins hingewiesen. Etwa alle vier Wochen veranstaltet dieser einen Anlass, zum Nationalfeiertag wird eine Feier organisiert, ab und zu eine Wanderung, und einige wollten sich auch während der Fussballeuropameisterschaft treffen. Immerhin spielt die Schweiz ihr letztes Gruppenspiel in Frankfurt – gegen Deutschland. «Mein Göttikind kommt», sagt einer. «Mein Bruder auch – zum ersten Mal seit Jahren», sagt eine andere.
Bruno Streit spricht laut und deutlich, man kann sich gut vorstellen, wie seine Stimme einen Hörsaal füllt. «Ich schlage vor, dass wir zügig gehen und wenig reden bis zum ersten Stopp.» Diese Ansage läuft allerdings ins Leere. Natürlich wird geschwatzt und geplaudert. Um die Sprache geht es vielen. «Schweizerdeutsch zu sprechen und zu hören, fehlt mir», sagt Theresa Kraft, gebräuntes Gesicht einer Rentnerin, die viel in den Ferien ist, auf dem Kopf eine rote Mütze mit Schweizerkreuz vorne und der Inschrift «Switzerland since 1291» auf der Rückseite.
Vögel zwitschern, die Sonne scheint durch die hellgrünen Blätter. Der Weg, den die Gruppe einschlägt, geht zunächst fast eben entlang eines Baches, der über kleine Steine gluckert und plätschert.
«Das ist alles künstlich», ruft Bruno Streit. Die sich hier und da teilenden Bachläufe wurden angelegt, um zu Beginn des Industriezeitalters Wasserkraft zu gewinnen, als in Oberursel Baumwollspinnereien betrieben wurden. Bruno Streit hat für die Wanderung den sogenannten Alten Feldbergweg ausgewählt, eine Route, die heutzutage kaum von Wanderern genutzt wird – vermutlich aus gutem Grund, wie sich noch zeigen wird.
Schon «Heidi» plagte in Frankfurt das Heimweh
Bruno Streit läuft mit strammem Schritt voran, kaum einer will dieses Tempo mitgehen. Schliesslich treffen hier Bekannte aufeinander, die sich zu erzählen haben, was seit dem letzten Treffen passiert ist. Zudem lernen sie neue Menschen kennen. «Wie bist du hierhergekommen?» und «Was machst du hier?» sind Fragen, die man häufig aufschnappt. Sie sind gerechtfertigt, insbesondere bei Schweizern, die ausgerechnet an dem Ort leben, an dem schon Johanna Spyris Heidi an Heimweh erkrankte.
Remo Geiss, ein grossgewachsener Mann von 44 Jahren aus Köniz bei Bern, zog vor 21 Jahren nach Frankfurt. Der gelernte Grafiker kam für ein Praktikum. «Die Buchmesse, dazu die vielen Verlage hier: Das hat mich fasziniert», erzählt er. «Und die Szene für elektronische Musik. Das war spannend damals.»
2004 öffnete etwa der Cocoon Club, gegründet von der Techno-Legende Sven Väth; heute erinnert in Frankfurt das Momem – Museum of Modern Electronic Music – daran, dass Frankfurt in Sachen Techno einst ein internationales Zentrum war. «Das Grossstädtische hat mich damals angezogen. Auch dass es hier raue Ecken gibt, nicht alles so geleckt ist wie in der Schweiz.»
Wie kommt es, dass er nun mit Landsleuten, die er kaum kennt, durch einen Wald streift? «Nach sieben Jahren in Frankfurt habe ich Heimweh bekommen», erzählt Remo Geiss. «Wenn ich über die Grenze fahre, geht mir das Herz auf. Die Bildsprache in Grafiken und auf Plakaten ist eine andere, die Umgangsformen sind freundlicher.» Ende der nuller Jahre habe er zurück in die Schweiz gewollt, sich bereits beworben.
Ein Liebesbeweis aus Stein
Der erste Stopp – bei einer Gewölbebrücke aus Bruchstein, die über den Urselbach führt. Sie gehört zu einem Fahrweg, den sich Königin Victoria, Frau des preussischen Königs Friedrich des Dritten, bauen liess. Dieser war – Bruno Streit rattert Historisches über die preussische Königsfamilie herunter – 1888 zum deutschen Kaiser gekrönt worden, starb aber nach 99 Tagen auf dem Thron an Krebs. Seine Frau Victoria zog daraufhin in den Taunus.
Um hierdurch mit der Kutsche vom Schloss Homburg zum Schloss Friedrichshof zu gelangen, liess sie unter anderem diese Brücke errichten. Auf dem steinernen Rundbogens ist ein F (für «Friedrich») zu sehen, um den sich ein V (für «Victoria») rankt wie eine Kletterpflanze, unzertrennlich, auch nach dem Tod. «Das muss noch richtige Liebe gewesen sein», sagt Bruno Streit. Schmunzeln in der Gruppe, denn Streit klang gerade etwas spöttisch. Aber was bedeutet schon ein Ornament als Liebesbeweis im Vergleich dazu, die Schweizer Heimat zu verlassen, wie es einige hier getan haben?
Remo Geiss lernte, just als er seine Rückkehr vorbereitete, seine heutige Frau kennen. Die beiden haben zusammen zwei Kinder, seine Frau ist Hessin, will nicht aus Deutschland weg, und für ihn gibt es kein Zurück mehr in die Heimat. Was bleibt, sind Besuche in – und aus – der Schweiz.
«Ich habe mittlerweile viele Schweizer Freunde, die Frankfurt-Fans geworden sind», erzählt er. «Sie kommen jedes Jahr zu Besuch, weil sie eben auch das grossstädtische Flair mögen.» Wenn sie nicht da sind, dann gibt es gelegentliche Treffen wie diese. Und Landschaften, die an zu Hause erinnern.
Remo Geiss wohnt mit seiner Familie in Frankfurt – am Fuss des Lohrbergs, des Hügels mit der besten Aussicht auf die Stadt direkt am Stadtrand. «Auch der Taunus kann helfen», sagt er. «Man kann hier Schlitten fahren.» Mehr als fünf Tage pro Winter liegt hier selten Schnee.
«Die Brücke müsste dringend saniert werden, aber die Gemeinde hat kein Geld – na ja, einstürzen wird sie wohl heute nicht», sagt Bruno Streit. Gelächter in der Gruppe – die marode deutsche Infrastruktur. In der Schweiz gäbe es das wohl nicht. Einige, auch Remo Geiss, machen mit ihrem Smartphone ein Foto. Sie können nicht ahnen, dass es das letzte Motiv gewesen sein wird an diesem Tag.
Alte Wege für Ochsen, Esel und fitte Wanderer
Der Weg führt sanft bergauf. Bruno Streit erklärt, dass dies die Steigung sei, «die ein Adhäsionszug bewältigen kann». Er führt die Gruppe wie eine pünktliche SBB-Lok von Station zu Station entlang der Lernziele. «Die alten Wege hat man so angelegt, sonst hätten Ochs und Esel es nicht nach oben geschafft.» Auch für einige Wanderer ist diese Steigung heute wohl das Maximum. Ein Mann mit weissem Bart schnauft. «Verrückt, dass ich hier schon so aus der Puste komme – früher habe ich auf der Kleinen Scheidegg gelebt und die grossen Bergtouren gemacht.»
Der Laubwald schwindet, Nadelhölzer dominieren nun – oder was davon übrig ist. Etwa einen Kilometer nach der Victoria-Brücke liegen die Fichten wie Mikadostäbe um den Urselbach verteilt. «Das sieht ja aus, als hätte Rübezahl hier gewütet», murmelt Bruno Streit. «Das war eine falsche Art von Nachhaltigkeit, die man hier gepflegt hat.» Einst pflanzte man schnell wachsende Fichten, um rasch Holz verarbeiten zu können. Jetzt sterben sie zu Tausenden, da sie sich nicht an das sich verändernde Klima anpassen können: Trockenheit, Borkenkäfer und Stürme haben markante Schneisen und Lichtungen gerissen. Manches wird anscheinend der Natur überlassen, noch ist unklar, welche Pflanzen sich durchsetzen werden.
Reisen in die Schweiz sind teuer für die Exilanten
Bruno Streit, der aus Basel stammt, machte in Frankfurt Karriere. Er hätte schon zurückgewollt in die Schweiz. «Eher aus egoistischen Motiven wie dem Lohn und den Altersbezügen», sagt er. Aber eine Professur war nicht zu bekommen in der Schweiz, viel zu wenige Stellen gab es in seinem Forschungsgebiet – und die waren alle besetzt.
Das Einkommensgefälle zwischen der Schweiz und Deutschland ist für viele ein Thema. Reisen in die Heimat sind teuer für die Exilanten. «Wir gehen jetzt mit der Familie immer in die Jugendherberge – wobei: 180 Franken pro Nacht, dafür würde ich mir schon eher ein gutes Hotel vorstellen», sagt Remo Geiss.
Theresa Kraft hat es aufgegeben, mit deutschen Freundinnen in die Schweiz zu fahren. «Für eine deutsche Rentnerin ist das zu teuer. Ich reise jetzt immer allein – die ganzen Touristenattraktionen wie der Glacier-Express, herrlich.» Sie selbst kann ihre Rente als Reisegeld nutzen, wie sie sagt, weil ihr Mann als niedergelassener Arzt auch im Rentenalter sehr viel arbeite.
«Die Migros, die fehlt mir!», sagt sie. «In Deutschland bekommt man ja keinen Luzerner Birewegge.» Remo Geiss stimmt zu, auch kulinarisch wird die Heimat vermisst. «Ich kaufe mir in der Schweiz oft einen Hefezopf und esse den auf der Rückfahrt komplett auf – so etwas gibt es in Deutschland nicht, hier ist er immer gesüsst.»
Auf einmal greift Theresa Kraft in ihren Rucksack und verteilt der Gruppe Mini-Toblerone. «Wir stehen hier im Taunus – und dann das!», jubelt einer. «Die Belohnung funktioniert auch bei Erwachsenen.» Und dann sind sie vereint im Schoggi-Kauen, auch wenn diese Toblerone wohl aus der Slowakei kommt und das Matterhorn deshalb nicht mehr als Symbol tragen darf.
Imposante Motive von Frankfurts Skyline
Kurze Zeit später ist der Höhepunkt der Wanderung erreicht, die Passhöhe namens Fuchstanz auf 662 Metern. Es ist eine Gabelung von Feldwegen, daneben zwei Imbissbuden und zwei Restaurants, mitten im Wald, auch hier keine Aussicht. Stattdessen zeigt Bruno Streit ein paar Meter weiter noch einen Weg mit den Resten von Steinplatten: die einst gepflasterte Römerstrasse zu einem Kastell auf dem Kleinen Feldberg.
Die Wanderung folgt historischen Wegen, so dass sie kaum Instagram-taugliche Bilder liefert. Dabei könnte man die Motive dazu im Taunus durchaus finden – etwa die Burgen Königstein, Falkenstein und Kronberg, die durch den Drei-Burgen-Wanderweg verbunden sind und von denen es beeindruckende Aussichten über volle Wälder hinweg auf die Skyline von Frankfurt gibt.
Einkehr in einem Selbstbedienungsrestaurant am Fuchstanz, Currywurst oder Linsensuppe an Bänken und Tischen aus ganzen Baumstämmen. Ein junges Paar, er Schweizer, sie Deutsche, hat hier auf die Gruppe gewartet – mit der vierwöchigen Tochter im Kinderwagen. «In dem Alter wird es natürlich Zeit für die erste Wanderung, die Kleine soll sich schon dran gewöhnen», sagt der Vater. Nachwuchs für die deutsch-schweizerische Gesellschaft, es herrscht sofort eine plauschige Vertrautheit. «Wie lange bist du schon hier?», fragt der junge Vater Theresa Kraft. «Sehr lange», antwortet sie und schaut dabei, als meinte sie: viel zu lange.
Einige sind noch am Essen, als Bruno Streit bereits neben dem Tisch steht. «14 Uhr 15, es ist jetzt eigentlich Zeit, aufzubrechen», sagt er. «Ein paar Minuten können wir noch warten, mein Radler ist auch noch halb voll», sagt der Präsident Jürgen Kaufmann – im Gegensatz zum Rest der Gruppe ist dem Steuerberater beim besten Willen kein schweizerdeutscher Einschlag anzuhören, er klingt eher hessisch. «Meine Familie ist seit 1892 in Frankfurt – aber einen deutschen Pass hat noch keiner von uns beantragt.» Die meisten hier haben ihren Schweizer Pass behalten.
Der Weg bergab zurück nach Oberursel führt grösstenteils wiederum durch zerstörte Fichtenwälder. Vielleicht ist die Landschaft an diesem Tag ohnehin nicht so wichtig. «Jetzt ist die Tour fast zu Ende, und ich habe gar nichts gesehen, weil ich nur geschwatzt habe», sagt eine Frau. Remo Geiss sagt: «Der Taunus, wirklich schön, ich sollte doch öfter herkommen.» Mit etwas Phantasie und viel Heimweh erinnert das an die Alpen.
Zurück am Ausgangspunkt, bilanziert Bruno Streit: «Vier Minuten später hier als geplant, ich finde, das kann man noch durchgehen lassen.» Jeder pflegt die Schweizer Identität in Frankfurt auf seine Weise, aber auch in der Fremde ist sie noch da.