Tilman Slembeck von der ZHAW Winterthur sieht die Lösung für das Schweizer Gesundheitswesen in Versorgungsnetzen. Ihr einziges Interesse wäre, möglichst gesunde Patienten zu haben.
Herr Slembeck, Sie wohnen in Abtwil im Kanton St. Gallen. Wie viele Spitäler gibt es im Umkreis von fünfzig Kilometern?
Es gibt zehn Spitäler. Davon sind vier Kantonsspitäler. Hinzu kommen sechs Kliniken, die teilweise von privaten Unternehmen betrieben werden.
Was sagt uns das über das Schweizer Gesundheitswesen?
Die Schweiz legt seit langem grossen Wert auf eine gute Gesundheitsversorgung. Deshalb hat das Land ein dichtes Netz von Spitälern aufgezogen. Als Faustregel galt früher einmal, dass man mit dem Ross spätestens nach zwei Stunden in der nächsten medizinischen Versorgungsstation war. Dahinter stand der Gedanke, im Notfall eine schnelle Versorgung zu gewährleisten.
Inzwischen leben wir in Zeiten des Krankenwagens und des Helikopters.
Die Erkenntnis, dass man die Notfallversorgung von den sogenannten planbaren Eingriffen trennen muss, hat sich tatsächlich immer noch nicht durchgesetzt. Ich verstehe nicht, warum die Patienten nicht bereit sind, eine Stunde Fahrzeit zu jener Klinik in Kauf zu nehmen, wo sie beispielsweise die beste Hüftoperation bekommen. Während sie in ihrer Freizeit oft stundenlang unterwegs sind, empfinden es viele Menschen offenbar als Zumutung, für einen wichtigen medizinischen Eingriff eine etwas längere Anreise in Kauf nehmen zu müssen.
Die Kantone fördern mit ihrer Spitalplanung diese Anspruchshaltung noch.
In der ganzen Schweiz wird traditionell Kirchturmpolitik betrieben. Wer als Regionalpolitiker nur für das Spital in seinem Wahlkreis schaut, verwechselt die Krampfadern mit Notfällen. Was die Bevölkerung nahe vom Wohnort braucht, ist eine gute Rettung und Notfallversorgung. Diese bringt Notfälle dann auch nicht zwingend ins nächstgelegene Spital, sondern dorthin, wo die jeweils notwendige Versorgung stattfinden kann. Eine Vergiftung muss zum Beispiel woanders behandelt werden als eine Verbrennung oder ein Hirnschlag.
Was müsste die Politik stattdessen machen?
Die Kantone und Gemeinden sollten in gut ausgebaute Permanencen und Notfallstationen investieren. Das ist viel zielführender, als mit viel Geld möglichst viele Spitalstandorte zu erhalten. Es ist Aufgabe der Politik und der Ärzteschaft, der Bevölkerung zu erklären, dass den Bürgern eine exzellente Notfallversorgung mehr nützt als ein wohnortnahes Spital, das vieles kann, wo aber die Qualität aufgrund tiefer Fallzahlen geringer ist.
Aber viele Gemeinden wollen ihr Spital trotz allem behalten.
Das können sie gerne machen, doch dann sollen sie auch die Verantwortung und die Finanzierung übernehmen. Die Gemeinden oder die Regionen, die davon profitieren, sollen festlegen, wie das Leistungsangebot das regionalen Spitals aussehen soll, und dafür aufkommen. Im Gegensatz zu heute wäre damit das Äquivalenzprinzip gewährleistet. Die Versorgung ist nämlich nur dann optimal, wenn Nutzer, Entscheider und Zahler einer Einrichtung dieselben sind. Dabei macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob es sich um ein Hallenbad, ein Kunstmuseum oder eben ein Spital handelt. Die organisatorische und finanzielle Verselbständigung von Regionalspitälern würde also helfen, deren Angebot zu optimieren und Redundanzen zu vermeiden, ohne dass der ganze Kanton wie heute für die Defizite aus dem Überangebot geradestehen muss.
Führt das nicht zu Steuererhöhungen?
Das kann Steuererhöhungen bedeuten, muss es aber nicht, wenn aus Neuorganisation, Zusammenlegung oder allenfalls auch Schliessungen Effizienzgewinne resultieren. Angesichts der sich häufenden finanziellen Probleme oder gar Konkurse von Spitälern ist dieser Lernprozess allmählich im Gang.
Dann ist also momentan noch zu viel Geld im System.
Unser Spitalwesen scheint immer noch im Geld zu schwimmen, wenn man auf die Politik schaut. Zwar haben immer mehr Spitäler finanzielle Probleme im operativen Geschäft und können die Reinvestitionen nicht aus eigener Kraft stemmen. Gleichzeitig wollen Universitätsspitäler wie etwa Zürich und Basel aber Milliarden für Neubauten ausgeben oder tun dies bereits. Auch die Kantonsspitäler, wie etwa in Luzern und Aarau, stecken Milliarden in Aus- und Umbauten.
Warum ist das so?
Man hat den Eindruck, dass es dabei oft mehr um kantonales Prestige als um Notwendigkeiten der Gesundheitsversorgung geht. Doch Investitionen in Beton lassen sich für die Politik besser verkaufen als die Förderung von integrierten Versorgungsnetzen, Digitalisierung oder dem Einsatz von künstlicher Intelligenz, die auch im Gesundheitswesen eine immer wichtigere Rolle spielen wird. Aber das ist nicht das Schlimmste.
Was denn?
Der Bau ist schon teuer genug, aber das wirklich Teure ist der Betrieb. All die topmodernen Einrichtungen, die man jetzt hochzieht, werden oft nur bis an die Kantonsgrenze geplant und müssen dann über Jahrzehnte ausgelastet werden. Das ist wie bei einer Heirat. Das Hochzeitsfest scheint teuer zu sein, aber dann kommen erst die hohen Kosten.
Es braucht also eine Konzentration im Spitalbereich.
Daran führt kein Weg vorbei. Die kleinteilige Spitalstruktur mit vielen wenig spezialisierten Standorten ist ineffizient, aufgrund tiefer Fallzahlen ist es schwierig, eine hohe medizinische Qualität zu halten, und zudem ist sie wegen des Fachkräftemangels langfristig kaum zu betreiben.
Was ist die Lösung?
Ich plädiere für eine liberale Lösung, welche auf mehr Wettbewerb setzt und die Rolle der Kantone, gerade in der Spitalplanung, reduziert. Die Kantone haben heute als Spitaleigner, Finanzierer, Aufsicht, Schiedsstelle und eben auch Planer zu viele widersprüchliche Rollen. Das macht die Kooperation über Kantonsgrenzen schwierig bis unmöglich, wie wir beispielsweise in der Ostschweiz gesehen haben.
Wie soll das konkret aussehen?
Mein Vorschlag umfasst drei wesentliche Elemente. Die in staatlichem Besitz befindlichen Spitäler, Kliniken und so weiter sind weitgehend zu verselbständigen, um ihnen mehr Autonomie zu geben. Sodann sind grosse Versorgungsregionen zu definieren, innerhalb deren verschiedene integrierte Versorgungsnetze zueinander im Wettbewerb stehen und jeweils alle Leistungen der Grundversicherung aus einer Hand anbieten. Die Leistungen der Spitäler und Kliniken werden über Verträge in die Versorgungsnetze integriert. Spitäler können auch die Initiative ergreifen und selbst ein Versorgungsnetz in ihrer Versorgungsregion aufbauen.
Wie viele Spitalregionen wären sinnvoll?
In der ganzen Schweiz sollen etwa fünf bis sechs Versorgungsregionen mit jeweils mindestens einer Million Einwohner gebildet werden. Das Tessin würde aufgrund der Sprache eine eigene Region bilden. Es muss sich um vollständig integrierte Versorgungsregionen handeln.
Was heisst das?
Vollständig integrierte Versorgungsnetze bieten ihren Mitgliedern alle Leistungen der Grundversicherung an, indem sie diese entweder selbst erbringen oder über Verträge mit allen nötigen Leistungserbringern zukaufen, zum Beispiel mit Unispitälern. Die heutigen Versicherten werden also zu Mitgliedern und bezahlen dafür eine Kopfprämie, mit der das Netzwerk auskommen muss. Damit trägt dieses auch Kostenverantwortung, was bis anhin nicht der Fall ist.
Das klingt jetzt sehr abstrakt. Welche Vorteile hat der einzelne Patient konkret davon?
Das Netzwerk kennt seine Mitglieder und weiss, woher sie ihre Leistungen beziehen. Hier können Doppelspurigkeiten vermieden werden. So wird zum Beispiel verhindert, dass für ein und denselben Krankheitsfall unnötige Mehrfachuntersuchungen oder Eingriffe gemacht werden. Ein Netzwerk gibt den Mitgliedern auch wichtige Informationen und Hilfestellungen, zum Beispiel bei der Arzt- oder Spitalwahl. Eine solche Begleitung ist günstiger, als einen verzweifelten Patienten umherirren zu lassen. Dieser nimmt heute viele Leistungen in Anspruch, weil er auf sich allein gestellt die richtige Ärztin nicht findet. Auch ein Hausarzt kennt nicht in jedem Fall den besten Spezialisten.
Senken solche Netzwerke die Kosten?
Ja, wenn sie mit einer Kostenobergrenze pro Mitglied auskommen müssen. Das verhindert, dass sie mehr verdienen, wenn sie mehr Leistungen erbringen. Die Anreize werden umgekehrt. Je gesünder die Mitglieder sind, umso mehr verdient das Netzwerk. Ausserdem müssen die Netzwerke untereinander im Wettbewerb stehen. Die Mitglieder müssen die Möglichkeit haben, das Netzwerk zu wechseln, wenn sie unzufrieden sind. Das verhindert eine Unterbehandlung.
Kann es nicht sein, dass ein Netzwerk teure Patienten gezielt loswerden will?
Grundsätzlich ja, aber jedes Netzwerk wird sich das gut überlegen müssen. Es bekommt schnell einen schlechten Ruf und verliert auch gesunde Mitglieder, sobald bekannt wird, dass es Mitglieder loswerden will, wenn sie höhere Kosten verursachen.
Wie sieht es mit der Prävention aus?
Heute ist der Anreiz zur Prävention seitens der Krankenversicherer praktisch bei null. Vielleicht redet einem der Hausarzt ins Gewissen, dass man so gesund wie möglich leben soll. Aber eigentlich verdient der Mediziner daran, wenn ich erneut zu ihm in die Praxis komme. Im Netzwerkmodell ist der Anreiz umgekehrt. Dieses hat alles Interesse daran, dass ich Prävention betreibe und mit meinen Erkrankungen das begrenzte Budget nicht durch unnötige Untersuchungen und Eingriffe belaste. Eigentlich müsste der Werbeslogan lauten: Wir haben die gesündesten Mitglieder.
Wie entstehen Versorgungsnetze?
Dieser Prozess ist bereits im Gange. Die Initiative kann beispielsweise von Hausärzten ausgehen, die sich zunehmend mit Spezialisten, Therapeuten und Kliniken zusammenschliessen. Oder von Spitälern und Spitalgruppen. Im Ausland werden grosse Netzwerke auch von den Versicherern betrieben. Der Kostenträger ist dann auch der Leistungserbringer, da das Netzwerk auch der Versicherer ist. Das ist bei uns aufgrund der Rechtslage leider noch nicht möglich.
Verdienen Spital- und Spezialärzte zu viel? Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat den Ärzten bereits einen Imageverlust wie jenen der Banker vorausgesagt.
Die sogenannten Abzockerlöhne sind seit langem ein Thema. Ob Ärzte wirklich zu viel kassieren, ist von aussen nur schwer zu beurteilen. Ähnlich wie bei den CEO von grossen Firmen ist der Markt bei den Chefärzten relativ eng. Diese Ärzte haben häufig auch Managementaufgaben und müssen neben ihrer hohen Fachkompetenz auch viel von Ökonomie verstehen. Es ist klar, dass man diese Leute gut bezahlen muss. Ich masse mir nicht an, beurteilen zu können, ob sie zu viel verdienen. Stossender ist etwas anderes.
Und zwar?
Der Ärztetarif hat seit seiner Einführung 1996 einen massiven Konstruktionsfehler. Die Maschinenmedizin wird viel besser bezahlt als die sogenannte sprechende Medizin. Die Hausärzte, Kinderärzte und Psychiater stehen in der Nahrungskette weiter unten. Nun ja, mit einem Einkommen von gut 200 000 Franken sind Hausärzte ja auch nicht gerade am Verhungern. Sie wissen ja, wie dieser Name entstanden ist.
Nein.
Ein Hausarzt hiess früher Hausarzt, weil er sich ein Haus leisten konnte. Heute kann sich nicht mehr jeder Hausarzt ein Haus leisten. Chirurgen und Apparatemediziner wie Radiologen verdienen dagegen überdurchschnittlich viel. Das ist mit ein Grund, warum wir zu wenige Hausärzte haben und warum wir zu wenig für die psychische Gesundheit tun.
Wieso sind die Bemühungen gescheitert, hier einen Ausgleich zu schaffen?
Zum einen, weil sich die Ärzteschaft unter sich nicht einig ist, und zum anderen, weil Änderungen nur kostenneutral eingeführt werden können.
Mit dem von der Ärztegesellschaft FMH und den Krankenversicherern des Verbandes Curafutura ausgehandelten Tarif Tardoc liegt seit längerem eine Lösung auf dem Tisch.
Das würde kaum etwas ändern, sondern nur zu einem Hin- und Herschieben der Kosten führen. Letztlich helfen nur mehr Pauschalen im ambulanten Bereich, wie sie von Santésuisse, dem anderen Verband der Krankenversicherer, propagiert werden. Doch auch hier wären die von mir vorgeschlagenen unternehmerischen Netzwerke eine gute Lösung. In diesen Netzwerken müssten sich die Ärzte untereinander über die Verteilung der eingenommenen Überschüsse einigen.
Was halten Sie von der Kostenbremseinitiative der Mitte-Partei, die am 9. Juni zur Abstimmung kommt?
Mit der Annahme dieser Initiative würde ein Satz in die Verfassung geschrieben, dessen Auswirkungen nicht recht absehbar sind. Die Katze im Sack wäre ziemlich gross. Der vom Parlament ausgearbeitete Gegenvorschlag mit der Festlegung von Kostenwachstumszielen ist aber ein Schritt in Richtung Transparenz, auch wenn hier keine zwingenden Massnahmen bei übermässigem Kostenwachstum vorgesehen sind.
Welche Wirkung hätte die Einführung von solchen Kostenwachstumszielen?
Im Moment ist es im Schweizer Gesundheitswesen wie auf den deutschen Autobahnen. Jeder kann einfach Vollgas geben. Bildlich gesprochen würden wir damit Smiley-Geschwindigkeitsanzeigen aufstellen. Sie zeigen den Autofahrern im Quartier an, ob sie sich an ein vorgegebenes Tempolimit halten oder nicht. Wer zu schnell fährt, bekommt zwar keine Busse, aber man ist zumindest einmal gewarnt, und es wird transparent, wer zu schnell fährt im Quartier und wer nicht.
Wer würde im Gesundheitswesen gewarnt?
Die kantonalen Gesundheitsdirektoren müssen für vier Jahre die zu erwartende Kostenentwicklung aufzeigen und im Nachhinein begründen, warum es zu Abweichungen gekommen ist. Die Frage der Journalisten wäre dann nicht mehr: Wieso wollen Sie dieses Spital schliessen? Sie würde lauten: Warum bekommen Sie die Kosten nicht in den Griff? Es entstehen Transparenz und Druck, ohne dass man bereits Massnahmen ergreifen muss. Über solche kann dann die kantonale Stimmbevölkerung oder das Kantonsparlament jeweils entscheiden.