Karin Hofer / NZZ
Besuch bei einer ungewöhnlichen Ärztin, einer Krebsaktivistin und beim Gründer der Cancer Dudes. Eine Schweizerin lernt von Amerika.
Ihre Hoffnung, wieder ganz gesund zu werden, endet an einem frühen Vormittag im März 2022 auf der Badezimmermatte. Nach dem Duschen blickt Nicole an ihrem Körper nach unten. Ihr linkes Bein ist plötzlich viel dicker als das rechte. Sie weiss gleich, was das bedeutet. Nicole hat damals aus dem Spital die Broschüren der Krebsliga nach Hause genommen, dort steht es drin, und auch die Ärzte haben sie gewarnt. Ein Lymphödem kann die Nebenwirkung ihrer Therapie sein, dann sammelt sich Flüssigkeit im Gewebe an, weil das Lymphsystem nicht mehr richtig funktioniert. Acht Monate zuvor haben Chirurgen Nicole die Gebärmutter und dreissig Lymphknoten entfernt, sie musste zur Chemotherapie und sich bestrahlen lassen. Nicole war immer optimistisch, sie vertraute darauf, das alles gut zu überstehen. Was sie damals noch nicht ahnte: Ganz gesund würde sie nie mehr werden.
Als Nicole im Frühling 2021 erfuhr, dass an ihrem Gebärmutterhals ein bösartiger Tumor wächst, war sie «irgendwie auch erleichtert». Sie hatte über Wochen Ausfluss gehabt, der sie verunsicherte. Sie war regelmässig in der gynäkologischen Kontrolle gewesen und hatte Abstriche machen lassen. Nicole ging zuerst zur Apotheke. Nachdem eine Freundin ihr ins Gewissen geredet hatte, bat sie um einen Termin vor der nächsten regulären Jahreskontrolle. «Nach der Untersuchung war alles voller Blut, überall, es war mir sehr unangenehm.» Der Gynäkologe reichte ihr Servietten, um das Blut abzuwischen, und sagte: «Ich schicke das Gewebe express ein.» Ein paar Tage später erhielt Nicole die Diagnose, «dann konnte ich wenigstens einordnen, was es war».
Dass Nicole Krebs hatte, erfuhr ich auf Instagram. In meinem Bilder-Feed entdeckte ich zwischen pastellfarbenen Hochzeitsfeiern und anderen Höhepunkten des Lebens die Nahaufnahme einer Narbe. Das war einen Monat nach der Operation, im Juli 2021. Nicole ist eine Freundin von mir, ich sehe sie alle paar Monate. Sie schrieb: «Weiter im Kampf gegen den Krebs.» Sie habe Vertrauen in die Ärzte. «Diese Extrameile schaffe ich auch noch.» Ich bewunderte sie für ihre Offenheit, für ihren Mut und ihre Zuversicht. Als sie jedoch realisiert habe, was das Lymphödem bedeute, «hatte ich ein richtiges Tief». Sie habe sich gefühlt, «als ob mir jemand kurz vor dem Ende eines Rennens sagte, das Ziel sei auf unbestimmte Distanz nach hinten verschoben».
Nicole ist heute 42 Jahre alt und chronisch krank. Sie muss Kompressionsstrümpfe tragen, zweimal in der Woche in die Lymphdrainage und sich das betroffene Bein regelmässig bandagieren. Sie versucht, Hautverletzungen zu vermeiden, weil ihr Immunsystem geschwächt ist und sie deshalb anfällig ist für bakterielle Infektionen, die rasch bedrohlich werden können. Jede noch so kleine Hautverletzung kann eine Blutvergiftung zur Folge haben.
Sieben Mal war Nicole schon mit hohem Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit und roten Hautflecken auf der Notfallstation des Berner Inselspitals. Danach blieb sie jeweils mehrere Tage, um sich intravenös mit Antibiotika behandeln zu lassen. Bei ihrer Arbeit in einer Kaderposition für einen politischen Dachverband musste sie sich immer wieder krankmelden. Für Nicole war das eine «völlig neue Welt», von der sie zum Zeitpunkt der Diagnose nicht einmal eine dumpfe Ahnung gehabt hat.
Nicole gehört zu den 500 000 Menschen in der Schweiz, die mit Krebs und dessen Folgen leben – und es werden immer mehr. Das hat verschiedene Gründe: Häufiger als früher erkranken junge Menschen, aber die Krankheit lässt sich auch besser behandeln. Zwar ist Krebs noch immer die zweithäufigste Todesursache, doch mehr als die Hälfte der Patienten werden heute geheilt. Nur, was heisst das?
Niemand, der an Krebs erkrankt, lebt jemals wieder wie vor der Diagnose. Die meisten leiden in irgendeiner Form an den Folgen der Therapie, die Krankheit verändert sie körperlich, mental, emotional. Während der Krebsbehandlung im Spital ist das aber meistens kein Thema. «Als ich nach meiner letzten Bestrahlung entlassen wurde, galt meine Behandlung als abgeschlossen», sagt Nicole. Danach hatte sie das Gefühl, sie falle «medizinisch zwischen Stuhl und Bank». Niemand begleitete sie mehr.
Nicole knüpfte über Instagram Kontakte zu anderen Betroffenen auf der ganzen Welt. Bald fiel ihr auf, dass es im englischen Sprachraum, besonders in den USA, andere Behandlungsansätze gibt und eine andere Art, über Krebs zu sprechen. In der Schweiz ist man krank oder wieder gesund, viele Menschen empfinden selbst ihren engsten Verwandten und Freunden gegenüber Scham, über den Krebs und dessen Folgen zu sprechen. Sie fürchten sich davor, dass man sie bei der Arbeit nicht mehr für voll nimmt oder bei der nächsten Bewerbungsrunde jemand anderes bevorzugt. Auch Nicole sagt, sie wisse nicht, ob «ihr Outing» irgendwann bei der Suche nach einer neuen Stelle schaden könnte. Deshalb nenne ich sie in diesem Text nur beim Vornamen.
In Amerika gibt es einen Begriff für die 20 Millionen Menschen, bei denen irgendwann in ihrem Leben Krebs diagnostiziert wurde: Cancer-Survivor. Was ihre Bedürfnisse sind, untersuchte der nationale Forschungsrat 2006 in einem Bericht. Seither hat sich im ganzen Land die langfristige Behandlung und Begleitung von Krebspatienten weiterentwickelt und verbessert – Cancer-Survivorship ist zu einer medizinischen Disziplin geworden. Auch die Kultur, über Krebs zu sprechen, veränderte sich. Viele Cancer-Survivors gehen offen mit ihrer Krankheit um. Was können wir von ihnen lernen? Und was würde das Leben meiner Freundin Nicole verbessern?
Wer kümmert sich um mich?
An einem Sonntag im Mai wartet Doktor Deborah Manst auf einem Parkplatz auf Überlebende und Unterstützer. Einmal im Jahr organisiert die Ärztin ein Team für einen Krebslauf, einen kurzen Spaziergang durch das grösste medizinische Viertel Nordamerikas. Der Chicago Medical District erstreckt sich über eine Grösse von siebzig Fussballfeldern, vier Spitäler haben sich hier nebeneinander angesiedelt. Ärztinnen und Pfleger treffen hier auf die vielfältigste Patientenzusammensetzung des ganzen Kontinentes – ein globaler Hub des medizinischen Fortschritts.
Die Gruppe, die sich an diesem Sonntagmorgen mit Manst in Chicago einfindet, bleibt klein: Vier Leute sind gekommen. Eine Mitarbeiterin und ihre Tochter, eine Brustkrebspatientin und Mansts Bruder. Sie streifen rote T-Shirts der Institution über, für die sie heute Geld sammeln.
Das Wellness-House ist ein Haus des Wohlbefindens für Krebspatienten in einem Vorort von Chicago: Hier besuchen sie Sportklassen, die auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet sind, weil es wichtig ist, sich während und nach der Behandlung zu bewegen. Sie nehmen an Kochlektionen teil, um zu lernen, welche Art von Ernährung dem Körper guttut. Sie lassen sich beraten, tauschen sich mit anderen Betroffenen aus und bringen auch ihre Angehörigen mit. Was im Wellness-House vermittelt wird, ist wissenschaftlich geprüft, die Atmosphäre erinnert mehr an ein Wohnzimmer als an ein Spital. Die Institution ist ein Sinnbild dafür, was Patientinnen wie Nicole in der Schweiz fehlt: ein behaglicher Ort der Nachsorge.
Deborah Manst macht Fotos von ihrer Gruppe für die sozialen Netzwerke. So sollen alle sehen, wer wo mit wem läuft. Denn die Spendenaktion findet in der ganzen Region statt. 3000 Leute werden an diesem Sonntag 760 000 Dollar für das Wellness-House erlaufen. Dass eine Ärztin eines grossen Spitals einen Wohltätigkeitsanlass organisiert, wäre in der Schweiz zumindest ungewöhnlich. Manst hingegen findet es selbstverständlich. Sie verweist viele ihrer Patientinnen an das Wellness-House.
Das Spenden hat in den USA nicht nur eine lange Tradition, sondern auch eine andere Funktion. Weil viele Leute keine oder eine schlechte Krankenversicherung haben, sind sie darauf angewiesen, dass Private ihre Behandlung oder die Nachsorge bezahlen.
Manst spaziert mit ihrer Gruppe Richtung University of Illinois Hospital, kurz UIC, wo sie in einer besonderen Funktion arbeitet. Manst ist keine Onkologin, sondern eine Onkogeneralistin. Also eine Krebsärztin, wie meine Freundin Nicole sie gebraucht hätte: eine Art Coach für das Leben danach. Manst kümmert sich um alles, was nicht im engeren Sinne mit der Behandlung des Tumors zu tun hat. Sie hat eine Facharztausbildung in Präventivmedizin gemacht, ihre Sprechstunde ist Teil des Cancer-Survivor-Programms – ein Konzept, das es so in der Schweiz erst vereinzelt gibt.
Manst hilft Krebspatienten, sich während, vor allem aber nach ihrer eigentlichen Therapie zurechtzufinden: Nebenwirkungen der Medikamente, Fruchtbarkeit und Sexualität, Schmerzen, psychische Leiden und das Organisieren der richtigen Screenings gehören zu Mansts Alltag. «Es ist eine individuelle Form von Medizin, weil ich versuche, auf die Bedürfnisse meiner Patientinnen einzugehen.» Manst behandelt keine Tumoren, sondern Menschen.
Der 40-jährigen Ärztin fällt es leicht, sich in die Situation von Krebskranken einzufühlen. Besonders Patientinnen steht sie nah. Manst trägt dieselbe genetische Mutation in sich wie die Schauspielerin Angelina Jolie. BRCA1 erhöht das Risiko, an Brust- und Eierstockkrebs zu erkranken auf über 50 Prozent. Manst liess sich testen, nachdem die Ärzte bei ihrer Schwester im Alter von 45 Jahren Brustkrebs diagnostiziert hatten. Als sie das Resultat in den Händen hielt, dachte sie nicht lange nach. Wenige Wochen später liess sie sich ihre Brüste abnehmen. Damals war sie 28-jährig und hatte keine Vorbilder. Angelina Jolie ging mit ihrer Geschichte erst später an die Öffentlichkeit.
Manst sagt, sie habe auf keinen Fall an Krebs erkranken wollen. Sie sah ihre Schwester, die so sehr in der Therapie litt. Acht Jahre nach der ersten Operation, mit 35, liess sich Manst dann noch ihre Eierstöcke und die Gebärmutter entfernen. Als Cancer-Survivor gilt Manst nicht, aber im Englischen gibt es auch für Frauen wie sie einen Begriff: Cancer-Previvor. Sie hat nicht den Krebs überlebt, aber das hohe Risiko, daran zu erkranken.
Ihren Mann lernte Manst kennen, als sie 37 war. «Ich wusste immer, es würde jemanden geben, mit dem alles passt und der mit meiner Geschichte zurechtkommt.» Was heute leicht und logisch und vielleicht fast ein bisschen schicksalhaft klingt, hat sich für Manst nicht immer so angefühlt. Sie erinnert sich an Dates, die «awkward» waren, unangenehm. Kurz vor ihrer zweiten Operation traf sie einen Mann, der überhaupt nicht verstand, warum sie sich die Eierstöcke herausnehmen lässt, obwohl sie noch keinen Krebs hat. Ihre Erfahrungen teilt Manst gerne mit ihren Patientinnen. «Viele sind erleichtert, man fühlt sich ja mit dem Krebs einsam.»
Eine der einsamen Patientinnen ist Mari, die heute mitläuft. Sie ist 44 Jahre alt und wuchs in Japan auf, seit zwanzig Jahren lebt sie in den USA. Deborah Manst fragt sie nach ihrer Diagnose und ihrem Befinden. Mari erfuhr im November 2022, dass sie Brustkrebs hat, sie sagt, während der Behandlung habe sie sich isoliert. «Ich wollte mich niemandem zumuten.» Manst fragt, ob sie Unterstützung gehabt habe. «Mein Mann, aber er war mit der Situation überfordert.» Sie habe ihre Familie in Japan sehr vermisst.
Mari ist seit ein paar Wochen im Cancer-Survivorship-Programm. Ihre Onkologin überwies sie, weil es ihr psychisch schlechtging und sie starke Schmerzen hatte. Sie habe nun Übungen erhalten, die sie machen könne, nun hätten die Schmerzen schon nachgelassen. Mari sagt aber auch, sie könne der Erwartung, stark zu sein, nicht gerecht werden. «Ich bin nicht stark, ich bin schwach.» Manchmal schaue sie beim Duschen nach unten und weine einfach nur. Sie müsse sich zuerst an ihren neuen Körper gewöhnen.
Wie organisiere ich mich?
Für Wenora Johnson dauert es drei Minuten, um herauszufinden, welchen medizinischen Untersuchungen sie sich in den vergangenen dreizehn Jahren unterzogen hat. Sie sitzt an ihrem Laptop am Küchentisch in einem Vorort von Chicago und loggt sich in ihr elektronisches Patientendossier ein. Johnson demonstriert, wie die Sammlung von Gesundheitsdaten funktioniert – ein Projekt, das in der Schweiz seit Jahren erfolglos vor sich hin dümpelt.
Die Startseite zeigt eine Übersicht mit Resultaten von verschiedenen Untersuchungen, die sie machen musste. Das sind ziemlich viele, Johnson kann lange in die Vergangenheit scrollen. Sie ist heute 58 Jahre alt, mit 44 erkrankte sie an Darmkrebs, fünf Jahre später an Gebärmutterkrebs und dann an Hautkrebs. «Three time cancer survivor», heisst das in der Sprache der Krebsüberlebenden, Johnson hat es als Aktivistin sozusagen zu ihrer Marke gemacht.
Johnson leidet am Lynch-Syndrom, einer Erbkrankheit, die das Krebsrisiko erheblich erhöht. Das wusste sie noch nicht, als Ärzte bei ihr Darmkrebs diagnostizierten. Erst vier Jahre später liess sie ihre Gene testen. Als sie das Resultat kannte, war ihr klar, dass sie von nun an mit dem Krebs leben würde. «Deshalb wollte ich mich für die Rechte der Patienten einsetzen, für meine Rechte.»
In ihrer Freizeit teilt Johnson ihre Geschichte mit Betroffenen, Ärzten oder Angestellten von Pharmakonzernen oder Krankenversicherern – im Internet auf Plattformen wie Linkedin, X oder Facebook, an Konferenzen, an privaten oder beruflichen Treffen. Sie macht etwa darauf aufmerksam, dass es wichtig wäre, sich früh auf Darmkrebs testen zu lassen. Sie gibt ihre Einschätzung für staatliche Zuschüsse für Forschungsprojekte ab. Sie setzt sich für gleichberechtigten Zugang zu Behandlungen ein. Und sie nimmt an klinischen Studien teil, in der Hoffnung, dass Forscher eine Impfung entwickeln, die andere davor bewahrt, überhaupt am Lynch-Syndrom zu erkranken.
Johnson klickt sich durch ihre Patientenakte: «Hier sehe ich meine anstehenden Termine, eine Mammografie.» Bald wird sie sich wieder auf Brustkrebs testen lassen. Die Resultate erhält sie elektronisch, eine Ärztin bespricht sie mit ihr. Hat Johnson etwas nicht verstanden, kann sie die Resultate noch einmal anschauen und mittels Direktnachricht nachfragen. In einer Leiste sind die Ärzte ihres Behandlungsteams aufgelistet, mit einer Notiz, wofür sie verantwortlich sind. Geht Johnson ein Medikament aus, bestellt sie es online nach, falls der Algorithmus es nicht schon automatisch getan hat.
Das elektronische Patientendossier vereinfacht das Leben von Johnson, sie weiss über ihre Krankheit Bescheid. «Gespräche mit Ärzten sind oft kurz und komplex, man ist überfordert, emotional und braucht danach Zeit, um die Informationen zu verarbeiten.» Es könne helfen, einfach nochmals nachzusehen. Das Dossier erleichtert auch den Zugriff auf ihre Krankengeschichte für die Ärzte. Und es verändert das Machtgefüge zwischen Arzt und Patientin: Wer seine Krankengeschichte kennt und seine Daten besitzt, kann besser für sich entscheiden.
Meine Freundin Nicole kennt das Problem: Ihre Krankengeschichte ist eine Sammlung von losen, verstreuten Dokumenten. Als Patientin muss sie sich selbst darum bemühen und dafür sorgen, dass alle involvierten Ärztinnen und Therapeuten die Unterlagen erhalten. Die Telefongespräche und E-Mails kosten viel Zeit. Ausserdem muss sie immer wieder dieselben Fragen zu ihrer Krankengeschichte beantworten. Nicole sagt: «Ich habe einmal ein Video von Gesundheitspolitikern gesehen, die selber daran scheiterten, ein elektronisches Patientendossier anzulegen.» Vielleicht müsse sie sich noch stärker dafür einsetzen.
Während Nicole in Bern versucht, irgendwie den Überblick zu behalten, ist Wenora Johnson in Chicago zu einer professionellen Managerin ihrer Krankheit geworden. Das habe ihr die Furcht vor dem Krebs genommen, sagt sie. Sie fühle sich nicht mehr ausgeliefert. Johnsons erster Schritt zur Selbstermächtigung war ein radikaler. Damals, nach ihrer ersten Diagnose, brach sie die Chemotherapie nach drei Monaten ab, obwohl sie noch drei Monate hätte weitermachen sollen. «Ich habe meine Haare, meine Augenbrauen, meine Finger- und Zehennägel, mein Gefühl, meine Energie und meine Fähigkeit zu denken verloren.» Ihrer Onkologin sagte sie: «Ich weiss, ich sollte weitermachen, aber mein Körper schaltet sich aus.»
Johnson war krank und bettlägerig, sie habe sich gefühlt, als stürbe sie innerlich ab, und «das wollte ich nicht». Johnson nahm es in Kauf zu sterben, «bis dahin wollte ich einfach eine bessere Lebensqualität». Ihre Ärztin sei nicht begeistert gewesen, aber habe ihren Schritt akzeptiert. Jahre später erfuhr Johnson an einer Konferenz, dass ihre Chemotherapie nur noch drei Monate verschrieben wird. Würde sie heute noch einmal gleich handeln und auf ihren Körper hören? Johnson sagt, sie würde sich auf jeden Fall eine Zweitmeinung einholen, «daran habe ich damals überhaupt nicht gedacht, ich war einfach nur am Ende».
Was Johnson in der Zeit der Chemotherapie half, war ihre Arbeit in der Administration der Stadtverwaltung. «Das hat mich abgelenkt und mir einen Rhythmus gegeben», sagt sie. Bald aber verlor sie ihre Stelle wegen eines Sparprogramms – und damit auch die Krankenversicherung, die sie bis dahin hatte. «Ich hätte versichert bleiben können, aber das wäre sehr teuer gewesen.»
Johnson suchte schnell nach einem neuen Job, damit sie sich günstig versichern konnte. Sie füllte online Bewerbungsformulare aus. «Als ich nach einer Behinderung gefragt wurde, wollte ich schon Nein ankreuzen, aber dann habe ich nachgesehen, was dazu gehört.» Auf der Liste stand auch Krebs. «Nun war ich also offiziell behindert.» Johnson bewarb sich auf viele Stellen, erhielt aber nur Absagen. Sie sei sich diskriminiert vorgekommen, «aber ich konnte es nicht beweisen». Schliesslich erhielt sie einen Job, den sie nicht mochte. «Ich musste Gabelstapler verkaufen.» Johnson lacht, «es war besser, als hier zu sitzen und zu warten».
In den kommenden Jahren wechselte Johnson ihre Stelle immer wieder, die Versicherungen haben ihre Behandlungen nicht immer gedeckt. Manchmal musste sie sich selbst daran beteiligen. «Es kam vor, dass ich Termine absagen musste, weil ich sie mir nicht leisten konnte», sagt Johnson. Krebs macht nicht nur krank, er ist oft auch eine grosse finanzielle Belastung. Und das nicht nur in den USA.
Nicole kann zum Beispiel wegen ihrer Krebserkrankung keine Zusatzversicherung für komplementäre Medizin mehr abschliessen. Würde sie die Stelle wechseln, würde die neue Pensionskasse den überobligatorischen Teil ihres Einkommens nicht mehr versichern. Hinzu kommen Ausgaben für Behandlungen, die sie selbst zahlen muss.
Wenora Johnson hat mittlerweile wieder eine Stelle in der Verwaltung – und damit auch eine bessere Versicherung. Wenn sie in ein paar Jahren pensioniert wird, möchte sie sich auf ihre Arbeit als Aktivistin konzentrieren. Dass es in ihrem Leben dann nur noch um Krebs gehen wird, findet sie kein Problem, im Gegenteil. «Das ist nun einmal mein Schicksal, und ich will es im besten Sinne nutzen.» Johnsons grösster Wunsch: dass irgendwann gar niemand mehr am Lynch-Syndrom erkrankt.
Um mit dem Krebs einen besseren Umgang zu finden, redet Johnson auch mit ihren Verwandten darüber. Erst nach ihrer Darmkrebsdiagnose erfuhr Johnson von einer Tante, dass schon ihr Grossvater an Darmkrebs gestorben war. Es gibt in ihrer Familie eine lange Krebsgeschichte, von der sie nichts wusste, «weil niemand darüber sprach». Johnson hat zwei Töchter und sechs Enkelkinder. Ihre jüngere Tochter ist 32, sie will sich testen lassen, ihre ältere Tochter hingegen, die jetzt 40 ist, möchte nicht. «Ich akzeptiere das, auch wenn es mir als Mutter sehr schwerfällt.»
Wie lebe und liebe ich?
Dan Dean ist ein grosser, kräftiger Mann von 44 Jahren, der einen guten Job im Marketing hat, auf dem Vorplatz seiner Garage steht und am Grill ein Stück Fleisch brät. Von aussen betrachtet, erfüllt Dean das amerikanische Männlichkeitsideal, aber in seinem Innern hat er sich längst davon verabschiedet.
Deans Leben als Cancer-Survivor dauert nun 21 Jahre. Nichts deutet mehr darauf hin, dass er einmal abgemagert und bleich war, seine ganze Lebensenergie hatte er verloren. Dean war 23 Jahre alt, als die Ärzte bei ihm ein Non-Hodgkin-Lymphom diagnostizierten, eine fortgeschrittene Krebserkrankung des Lymphsystems. In dieser Zeit kümmerte sich Deans Mutter um ihn, ihre Beziehung war eine enge.
Später erkrankte Deans Mutter selbst an Krebs, sie starb 2014 an den Folgen eines Hirntumors. Dean hatte sie begleitet. Für ihn waren die Wochen nach ihrem Tod ein Prozess der Erkenntnis. Denn als der Alltag weitergehen sollte, wurde er nicht fröhlicher, sondern trauriger. Einmal wählte er die Nummer seiner Mutter, um ihr etwas zu erzählen, als ihm einfiel, dass sie nun tot ist. Dean fühlte sich wie gelähmt. Seine Freundin sagte zu ihm: «Man up.» Reiss dich zusammen, benimmt dich wie ein Mann.
Die Beziehung ging ein paar Monate später auseinander, weil Dean merkte, dass er nicht so ein Mann sein wollte, wie sie es sich vorstellte. «Wieso soll ich mich an völlig willkürliche, künstliche Regeln halten?», fragte er sich. In dieser Zeit dachte er auch oft über seine eigene Krankheit nach, über Verlust und Trauer. Dean wurde bewusst, dass es in Amerika viele Vorstellungen gibt, wie Männer sein sollen, und wenige Männer, die darüber reden, wie sie sein wollen.
Dean suchte nach einem Ort, wo er sich mit anderen Männern austauschen konnte, die etwas Ähnliches erlebt hatten. Aber er fand nichts. Darum wurde er selbst aktiv und gründete Cancer Dudes, Krebs-Kerle. Mit der Organisation möchte er die Lebensqualität von Männern verbessern, die an Krebs erkrankt sind. «Ich habe mir eine schwierige Aufgabe ausgesucht», sagt Dean. «Ich muss Männer davon überzeugen, sich zu öffnen und Hilfe anzunehmen, aber das geht natürlich nur, wenn sie es wirklich wollen.»
Männer tun sich schwer damit, über ihren Körper und ihre Gesundheit zu reden, das ist auch in der Schweiz so – und es hat Folgen. In der ganzen westlichen Welt leben Männer weniger gesund, sie erkranken häufiger an Krebs, sterben im Schnitt sieben Jahre früher als Frauen.
Die Scham, zuzugeben, dass es einem nicht gutgeht, ist unter Männern besonders verbreitet. Das merkte Dean, als er persönliche Treffen in verschiedenen Städten organisierte. «Die Männer kamen nicht, sie wollten sich dort nicht zeigen.» Dean hat deshalb alle Angebote in die virtuelle Welt verlegt. Wer will, bleibt anonym. Bei den Cancer Dudes gibt es Kurse zu sexueller Gesundheit, Kommunikation, zum Austausch mit anderen Betroffenen, zu Entspannungsmethoden und darüber, wie der Krebs die eigene Identität verändert.
Als Dean nach seiner Chemotherapie wieder in den Alltag zurückkehrte, merkte er, dass nichts wie vorher war. «Dating etwa war nun plötzlich ganz anders. Ich suchte nach Intimität, aber die Frauen hatten Mitleid mit mir.» Liebe und Sexualität ist einer der grossen Themenbereiche der Cancer Dudes. Denn der Krebs beeinflusst nicht nur häufig die Fruchtbarkeit, sondern auch das eigene Körperbild, die Lust und das Bedürfnis nach Nähe.
Nicoles Radiologe riet ihr noch im Krankenhaus, möglichst rasch wieder penetrativen Sex zu praktizieren, um Verklebungen und Verwachsungen in den bestrahlten Vaginalschleimhäuten zu vermeiden. «Aber wie soll das gehen, wenn Sexualität plötzlich mit Angst und Schmerzen verbunden ist?», fragt sie. Die Rehabilitation in der Schweiz fokussiere darauf, dass man wieder zur Arbeit zurückkehre. «Sexuelle Gesundheit hingegen ist ein Tabu und damit Privatsache.»
Dan Dean erzählt von einem Mann, der Leukämie hatte und seine Chemotherapie stoppte, damit er wieder mit seiner Freundin schlafen konnte. Dann sei der Krebs zurückgekommen und der Mann daran gestorben. «Es gibt so viele falsche Informationen zu sexueller Gesundheit», sagt Dean. Das wolle er ändern. Gerade arbeitet Dean an einer App, damit sein Angebot noch einfacher zugänglich wird.
Dean hat auch Tipps für das Umfeld, wie man jemanden überhaupt auf seine Krankheit ansprechen könne. Manchmal sei es besser, nicht einfach zu fragen: «Wie geht es dir?» Sondern spezifischer zu sein: «Wie geht es dir mit der Behandlung? Kann ich etwas für dich tun?» Vielen Patienten helfe es, wenn sie ihre Geschichte nicht ständig wiederholen müssten, weil so die negativen Folgen viel Raum einnähmen und das deprimiere.
Um sich zu helfen, rät Dean Krebspatienten, jemanden zu ernennen, bei dem sich Verwandte und Freunde erkundigen können, wenn sie etwas wissen möchten. Oder Kanäle zu benutzen, um mehrere Personen gleichzeitig zu informieren: eine Whatsapp-Gruppe, einen Blog, E-Mails. Dans Frau Robyn erzählt von einem Beispiel aus der Schule ihres Sohnes. «Ein Junge hat Krebs, die Lehrerin informierte alle Eltern darüber und verschickte eine Liste mit Daten, wo man sich eintragen konnte, um der Familie ein Nachtessen vorbeizubringen. So wussten alle davon, und die Eltern waren in der Zeit der Therapie entlastet.»
Eine Freundin von Nicole hatte ihr für die Zeit der Therapie einen Kalender gebastelt. Er bestand aus einer Kordel mit nummerierten Holzklammern, für jeden Therapietag eine. Ihre Freundinnen und Freunde schickten täglich eine Postkarte, die sie daran festmachen konnte. So sah sie das Ende der Therapie näher kommen. «Die Geste berührt mich bis heute.»
Das Wichtigste, was der Krebs Dan Dean gelehrt hat, ist, zu tun, was ihm wirklich wichtig ist und Freude macht. Weil er Improvisations-Comedy mag, zog er 2017 von Ohio nach Chicago. Die Stadt ist berühmt für ihre Kabarettszene. «Ich dachte, wenn ich es jetzt nicht tue, tue ich es nie.» In Chicago traf er kurze Zeit später Robyn. Er kannte sie vom Studium und meldete sich bei ihr. «Es stellte sich heraus, dass Robyn sich gerade scheiden liess. Wir kamen zusammen. Das hätte ich nicht erwartet.»
Austausch könne nicht nur Leid lindern, sondern auch zu Veränderungen im Leben inspirieren, sagt Dean: Ein Freund von ihm ist mit seiner Familie nach Colorado gezogen, weil er gerne Ski fährt. Manchmal, sagt Dean, würden Ehefrauen ihren Männern nach der Behandlung sagen, nun ist aber wieder gut, jetzt ist das durch, konzentriere dich auf deine Arbeit und deine Familie und den Platz, wo du hingehörst. «Von Männern wird erwartet, dass sie sehr viel arbeiten und bei der Frau bleiben, die sie geheiratet haben.» Aber für viele sei der Krebs ein Anlass, ihr Leben zu überdenken. «Sie schauen genau hin und merken, dass sie etwas verändern möchten. Da ist es wichtig, Unterstützung zu haben.» Oft ist Deans Rolle, Türen zu öffnen.
Der Krebs hat Dean die Endlichkeit spüren lassen, und daraus hat er neue Kraft geschöpft. Ihm gelingt, was vielen gesunden Leuten so schwerfällt: ein erfülltes, zufriedenes Leben zu führen, den Mut zu haben, etwas zu verändern, auch wenn es schmerzt, nicht mehr zu bereuen, zu machen, was er wirklich mag, mit den Menschen zusammen zu sein, die er wirklich mag. Dean hat aufgehört, Zeit zu verlieren und allzu weit in die Zukunft zu planen. Deshalb fällt es ihm schwer, für die Pensionierung zu sparen. «Mir scheint das so weit weg und bis dahin könnte noch so viel passieren.»
Wie feiern wir?
Meine Freundin Nicole hat etwas Amerikanisches getan: Sie hat sich selbst ermächtigt. Ein wichtiger Schritt im Umgang mit Krebs, zu dem sie auch andere ermutigen möchte. Nicole wurde zur Expertin für ihre Krankheit und ihren Körper. Sie suchte sich Hilfe bei einer Psychoonkologin, schloss sich der Krebssportgruppe des Berner Inselspitals und der Lymphödem-Vereinigung Schweiz an und achtet auf gesunde Ernährung. Sie hat sich ihr eigenes Wellness-House geschaffen.
Nicole hat inzwischen auch ein zweites Instagram-Profil, dort heisst sie «lymphie.cervivor». Es ist eine Anspielung auf den englischen Begriff für Gebärmutterhalskrebs, «cervical cancer». Unter dem Hashtag #influcancer berichtet Nicole aus ihrem Alltag: wie sie mit Kompressionsstrümpfen in der Aare schwimmt, dass sie ihre Verbände pink färbt, weil sie keine Lust hat auf «granny style», immer wieder zeigt sie ihr dickes Bein, beim Sport, auf Reisen, in der Badi, manchmal gibt sie Tipps, welche Hosen sie trägt, damit es bei der Arbeit nicht auffällt.
Zu Nicoles Profil gehören gute und schlechte Zeiten. Etwa wenn sie sich über eine neue Freundin in Berlin freut («meeting my lymphie sister») oder vom Ende ihrer Ehe schreibt («Ich fühle mich enttäuscht, verletzt, traurig und müde») – und eine Statistik veröffentlicht, die zeigt, dass Männer ihre Frauen häufiger verlassen, wenn diese an Krebs erkrankt sind.
Nicole hat den amerikanischen Umgang mit Krebs in die Schweiz importiert. Vielleicht ist der Grund für die unterschiedliche Kultur eine andere Mentalität, vielleicht auch einfach die gute Seite eines lückenhaften Gesundheitssystems, in dem viele Leute keinen selbstverständlichen Zugang zu medizinischer Versorgung haben: Sie müssen laut sein und ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Bei einer Kollegin, die auch an Krebs erkrankt ist, hat Nicole gerade eine neue amerikanische Idee entdeckt, die sie in ihr Leben integrieren möchte: Cancerversary. Es ist eine Wortschöpfung aus den englischen Begriffen «cancer» und «anniversary», Krebsjahrestag. Wann das genau ist, kann man selbst aussuchen: der Tag der Diagnose zum Beispiel oder der Tag der letzten Krebstherapie.
Die Diagnose wolle sie nicht feiern, wohl aber den Abschluss der Behandlung, sagt Nicole. Sie werde einen Znüni zur Arbeit mitbringen und mit ihren Freundinnen das Leben feiern. «Ich mag die Idee eines zweiten Geburtstages.» Nicole hat auch Websites entdeckt mit entsprechenden Accessoires. Zum Beispiel einem Haarreif mit dem Schriftzug «not dead yet» – «noch nicht tot». Man könne sich natürlich fragen, ob es nötig sei, den Krebs so zu kommerzialisieren, aber sie möge diesen etwas selbstironischen Humor und fühle sich dadurch ermutigt.
Am ersten Juniwochenende feiern in Amerika seit Jahrzehnten Millionen Cancer-Survivors und ihre Angehörigen, dass sie leben. Sie machen auf ihre Nöte aufmerksam, auf die Folgen des Krebses und die Schönheit des Lebens.
Am 22. Juni organisiert das Universitätsspital Zürich zum dritten Mal einen Cancer-Survivors-Day in der Aula und im Lichthof der Universität. Der Anlass widmet sich der Patientenorganisation und der Selbsthilfe. 400 Leute haben sich angemeldet, meine Freundin Nicole ist eine von ihnen.