Die ehemalige Anti-Apartheid-Bewegung muss sich nach dreissig Jahren Alleinherrschaft einen Koalitionspartner suchen. Und beweisen, dass sie sich neu erfinden kann.
Diesmal scheint es passiert zu sein. Der African National Congress (ANC), Nelson Mandelas einst so stolze Partei, dürfte bei den Wahlen in Südafrika die Mehrheit verloren haben. Zum ersten Mal seit dem Ende der Apartheid vor genau dreissig Jahren.
Das heisst mit grosser Wahrscheinlichkeit: Der ANC bleibt stärkste Partei, wird aber nicht mehr alleine regieren. Er hat gegenüber der letzten Wahl rund 15 Prozentpunkte verloren. Das ist in jeder Demokratie ein gewaltiger Einbruch. In Südafrika ist es auch das Ende einer Epoche.
Eine neue Epoche beginnt. Eine, in der der ANC sich Koalitionspartner suchen muss, die seiner Macht Grenzen setzen. Für Südafrika ist das eine gute Sache. Denn der ANC ist seit Jahren eine selbstherrliche Partei, die noch immer von der Vergangenheit als Befreiungsbewegung zehrt, sich aber schwertut, Ideen für die Zukunft des Landes zu entwickeln. Vielleicht ist der ANC nun endlich gezwungen, sich neu zu erfinden.
Südafrika und der ANC waren Vorbild für Afrika
Südafrika hat in drei Jahrzehnten ANC-Herrschaft Fortschritte gemacht – zum Beispiel bildete sich eine schwarze Mittelklasse. Doch die Probleme bleiben gewaltig. Südafrika ist noch immer eines der ungleichsten Länder der Welt. Über die Hälfte der 62 Millionen Südafrikanerinnen und Südafrikaner lebt unter der Armutsgrenze. Das Wirtschaftswachstum tendierte jüngst gegen null; das Bruttoinlandprodukt pro Kopf fiel von 8800 Dollar im Jahr 2011 auf knapp über 6000 Dollar im vergangenen Jahr. Die Kriminalität ist ausser Kontrolle, die Wasserversorgung marode, Stromausfälle sind ein ständiges Phänomen.
Der ANC war seit längerem eine Partei, die den südafrikanischen Staat quasi als ihr Eigentum betrachtete. Was in zahlreichen Korruptionsskandalen zum Ausdruck kam, in die von Präsidenten bis zu niederrangigen Parteifunktionären viele verwickelt waren. Der ANC hatte auch immer weniger Argumente, weshalb er diesen Staat weiter führen sollte. Meist hatten die Argumente mit dem Kampf gegen die Apartheid zu tun. Doch das Kapital aus der Vergangenheit ist irgendwann aufgebraucht.
Dabei hat die Partei tatsächlich Historisches geleistet. Als Nelson Mandela Südafrika 1994 aus der Apartheid führte, waren das Land und seine Partei Vorbilder für ganz Afrika. Der Kontinent hatte bleierne Jahre hinter sich, er wurde erdrückt von Schulden und Diktaturen. Das änderte sich in den 1990er Jahren. Manche wagten es, von einer afrikanischen Renaissance zu sprechen. Sie meinten immer auch Südafrika.
Doch seither ist Südafrika zu einem Land geworden, das mit sich selber beschäftigt ist; geführt von einer ebenso selbstfixierten Partei. Auch wenn Südafrika sich in den letzten Jahren international Gehör verschaffen konnte, hatte man den Eindruck, die ANC-Regierung sei von Nostalgie getrieben. Etwa wenn sie in der Uno Russland beistand, einem einstigen Verbündeten aus Anti-Apartheid-Zeiten.
Südafrikas Demokratie ist trotz allem lebendig
Viele Südafrikaner haben genug von diesem ANC. Bei keiner Generation dürfte das Gefühl stärker sein als bei den unter 30-Jährigen. Jener Generation, die nach dem Ende der Apartheid geboren wurde und die den ANC nicht als Befreiungsbewegung kennt, sondern nur als verknöcherte Quasi-Staatspartei. Dieselbe Generation, bei der mehr als die Hälfte arbeitslos sind. Sie dürfte gerade wesentlich dazu beigetragen haben, die Alleinherrschaft des ANC zu beenden.
Der ANC wird nun lernen müssen, mit einem Koalitionspartner zu regieren. Idealerweise mit der Democratic Alliance (DA), der grössten Oppositionspartei. Sie wäre stark genug, um mehr als eine simple Mehrheitsbeschafferin für den ANC zu sein. Womit dieser gezwungen wäre, sich für seine Politik gegenüber dem Koalitionspartner zu rechtfertigen – und den Wählerinnen und Wählern zu beweisen, dass er eine Partei ist, die ihre Legitimität nicht nur aus der Vergangenheit zieht.
Das Potenzial ist vorhanden. Südafrikas Demokratie ist trotz allem lebendig. Von einer Wahl, wie sie das Land abgehalten hat, können die meisten Afrikanerinnen und Afrikaner nur träumen. Mehr als 50 Parteien haben Kandidaten gestellt. Die Wahlbeteiligung war trotz anderslautenden Prognosen hoch. Südafrika ist kein apathisches Land. Ein zorniges vielleicht. Aber eines, das noch immer an seine hart erkämpfte Demokratie glaubt. Es ist am ANC, zu beweisen, dass er die richtige Partei ist, um dieses Land zu führen.