Ein Augenschein an der Grenze zum Sudan, wo manche vergessen wollen, was sie gesehen haben, und andere versuchen, einen möglichen Genozid zu dokumentieren. Doch das Schlimmste hat vielleicht erst begonnen.
Sawsan Sabeel hätte nicht zurückkehren sollen. Sie weiss das jetzt. Sie wusste es vermutlich schon damals, als sie der Drang überkam, nach ihrem Haus zu sehen. Zwei Tage nachdem sie von dort in einen anderen Teil der sudanesischen Stadt al-Geneina geflohen war. Zwei Freundinnen begleiteten sie. Weil es Abend war, beschlossen sie, im Haus zu übernachten. Das sei sicherer, dachten sie, als durch dunkle Strassen zurückzugehen in einer Stadt, die von Milizen heimgesucht wird.
Die drei Männer stiessen die Tür zum Hof um 23 Uhr auf. Sabeel erzählt das alles so detailliert, als ob sich vor ihren Augen ein Film abspielen würde. Die Frauen wachten auf, versteckten sich auf der anderen Seite des Hofs. Sie kletterten über die Mauer. Sabeel schaffte es nicht. Die Männer fragten: «Wohin gehst du?» Sabeel sagte: «Nirgendwohin.»
Die Männer suchten nach anderen Personen. Sie fanden keine. Dann stiessen sie Sabeel in eines der Zimmer.
Seit mehr als einem Jahr herrscht Krieg im Sudan, dem drittgrössten Land in Afrika. Mehr als acht Millionen Menschen wurden aus ihrem Zuhause vertrieben, Zehntausende getötet.
Es ist ein Krieg zweier Generäle und ihrer Armeen: der nationalen Armee unter Abdelfatah al-Burhan und der bis zu 100 000 Mann starken Miliz Rapid Support Forces (RSF) unter Mohammed Daglo, besser bekannt als Hemeti. Die beiden Generäle arbeiteten einst Hand in Hand, doch im April 2023 wandten sie sich gegeneinander. Sie stiessen den Sudan in den Abgrund.
Nirgendwo war der Krieg brutaler als in der Region Darfur im Westen. Dort, wo sich zwischen 2003 und 2008 schon der erste Genozid des 21. Jahrhunderts abspielte. Die RSF haben ihre Wurzeln in diesem Konflikt. Damals bekämpften arabische Milizen Rebellengruppen afrikanischer Ethnien. Vor allem führten die Milizen einen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung. Sie töteten bis zu 300 000 Menschen, brannten Dörfer nieder, vergewaltigten Tausende von Frauen. Über eine Million Menschen flohen.
Nun passiert es wieder. Diesmal nicht nur in den Dörfern, sondern auch in Städten wie al-Geneina. Die RSF und mit ihr verbündete Milizen töten, als ob es einen Auftrag zu erledigen gäbe, der vor zwei Jahrzehnten unvollendet blieb. In al-Geneina waren das Ziel die Masalit, eine afrikanische Ethnie. Die 38-jährige Sawsan Sabeel, Mutter von vier Kindern, ist eine Masalit.
Sie verhandelten über ihr Leben
«Einer der Männer hatte eine Waffe», sagt Sabeel. «Ich versuchte, mich zu wehren. Er sagte: ‹Du kannst nichts machen.› Er stiess mir die Waffe in den Rücken. Ich fiel hin. Sie entfernten meine Kleider. Dann vergewaltigten sie mich. Einer nach dem anderen.»
Sabeel spricht leiser, als sie von der Vergewaltigung erzählt. Einen Moment lang bricht sie ab und hält sich ein Tuch vors Gesicht. Sie kennt die Vergewaltiger mit Namen, sie lebten im Quartier.
Nachdem die RSF-Soldaten sie vergewaltigt hatten, hörte Sabeel, wie sie über ihr Leben verhandelten. Einer sagte: «Lasst uns sie töten.» Ein anderer: «Nicht nötig, sie stirbt sowieso.» – «Aber wenn sie überlebt, wird sie berichten.» – «Sie wird nicht berichten, sie wird sich schämen. Wenn sie es ihrem Mann erzählt, lässt er sich scheiden.»
Die Männer seien gegangen, als der erste Gebetsruf des Tages ertönt sei, sagt Sabeel, um vier Uhr morgens.
Die Uno nennt es die grösste humanitäre Krise
Im Juni 2023, einige Wochen nach der Vergewaltigung, ist Sawsan Sabeel über die Grenze in das Nachbarland Tschad geflohen. Sie lebt nun in einer Strohhütte, vier auf vier Meter, zwei Betten, das Licht fällt durch Ritzen im Geflecht. Auf einer Kartonschachtel hat Sabeel Flaschen mit selber gemischtem Parfum aufgereiht. Sie führte in al-Geneina einen Schönheitssalon, flocht Haare, bemalte Hände und Füsse von Frauen mit Henna. Sabeel lebt mit ihrem Mann, sie hat ihm erzählt, was passiert ist. Er hält zu ihr.
Sabeels Hütte liegt in Adré, einem einst kleinen Marktort an der Grenze. Nun ist Adré eine Stadt der Geflüchteten. 150 000 Sudanesinnen und Sudanesen harren hier aus. Die Stadt, die sie um den Ortskern errichtet haben, ist ein Meer aus Tausenden von Strohhütten. In jeder dieser Hütten können die Menschen vom Krieg erzählen.
Das Flüchtlingslager von Adré ist ein Ort, den es gar nicht geben dürfte. Er liegt zu nahe an der Grenze, zu nah am Krieg. Doch das Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kann nicht schnell genug weiter im Landesinnern von Tschad neue Flüchtlingslager errichten.
Man sieht dem Camp nicht an, dass hier Tausende von Menschen mit Traumata versammelt sind. Es wirkt wie eine improvisierte, aber geschäftige Stadt. Es gibt eine Marktstrasse mit Teestuben, Turnschuhen, SIM-Karten und in Öl brutzelndem Gebäck. Es gibt Quartiere, abgetrennt durch Zäune aus Stroh, oft leben Leute zusammen, die schon im Sudan Nachbarn waren. An vielen Orten wummern kleine Mühlen; sie mahlen Sorghum, ein Grundnahrungsmittel.
Das alles kann täuschen. Dieses Lager ist auch Schauplatz einer Notsituation, die die Uno als weltgrösste humanitäre Krise bezeichnet hat. Man sieht es zum Beispiel im Kinderspital von Adré, wo die Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) Zelte aufgestellt hat, um mehr Platz zu schaffen. Auf Betten für Erwachsene liegen da kleine Körper, hastig saugen die Kleinkinder an Sauerstoffschläuchen. MSF stellt im Spital bei mehr als zehn Kindern pro Tag Mangelernährung fest, die Zahl steigt. Derweil sagt das Uno-Ernährungsprogramm, im Sudan drohe die grösste Hungerkrise der Welt. 18 Millionen Menschen seien akut von Hunger bedroht.
Im Camp teilen sich oft Hunderte von Menschen Toiletten, die nicht mehr sind als Löcher im Sand. Hepatitis E ist ausgebrochen, die Leberkrankheit kann für schwangere Frauen tödlich sein. Anfang Juni beginnt die Regenzeit. Gut möglich, dass auch Cholera ausbricht.
«Ich gehe überallhin, nur nicht nach Hause»
Die Krise könnte sich auch verschärfen, weil die Zahl der neu Ankommenden steigt. Mehr als eine halbe Million Sudanesinnen und Sudanesen haben seit Kriegsbeginn in Tschad Zuflucht gesucht. Jeden Tag kommen Hunderte dazu. Sie überqueren die Grenze in Adré auf Eselskarren oder zu Fuss. Manche sind barfuss.
Die meisten von ihnen sagen, sie hätten in Darfur nichts mehr zu essen. Die sudanesische Armee erlaubt es der Uno nicht, Hilfsgüter aus Tschad einzuführen.
Die Zahl der neu Ankommenden könnte in diesen Wochen noch einmal deutlich steigen. Ein paar Fahrstunden östlich der Grenze ist der Krieg neu eskaliert. Die RSF haben die Stadt al-Fasher umzingelt, 800 000 Menschen leben dort, es ist die einzige wichtige Stadt in Darfur, die die RSF nicht kontrollieren. Die Kämpfe haben begonnen, und es könnte sich wiederholen, was in al-Geneina geschah: ein Massaker an ethnischen Minderheiten. Die Uno schreibt: «Zahllose Menschenleben stehen auf dem Spiel.»
Im Camp von Adré machen im Mai Gerüchte die Runde, ganze Lastwagenkolonnen voll Zivilisten aus al-Fasher seien unterwegs. Tatsächlich findet man bereits erste Geflüchtete.
Hawa Mohamed, eine 40-jährige Bäuerin und ihre fünf Kinder zum Beispiel. Sie haben sich dort eingerichtet, wo die neu Eingetroffenen zu finden sind. Neben dem UNHCR-Registrierungsbüro im Lager. Dort stehen noch keine Strohhütten, die Neuen basteln sich erste Unterkünfte aus bunten Tüchern und Stecken.
Hawa Mohamed und ihre Kinder haben keine Hütte gebaut. Sie sitzen fünfzig Meter entfernt von allen anderen auf einer Matte unter einem Akazienstrauch. Es ist ein Sicherheitsabstand. Die Kinder haben Angst. Sie sagen, sie wollten hier nicht bleiben, sie glauben, die Flugzeuge würden wiederkommen und Bomben fallen lassen. So wie es vor einigen Wochen geschah.
Hawa Mohamed erzählt: «Es war schon dunkel, als die Schüsse begannen. Sie kamen von allen Seiten. Auch Kampfjets kamen. Die Armee und die RSF kämpften um den Checkpoint in der Nähe unseres Hauses. Wir rannten alle in Panik los, ich verlor meine Kinder. Ich sah die toten Körper von Nachbarn, einen, zwei, ich glaube, es waren insgesamt fünf. Die Kämpfe dauerten bis sechs Uhr am Morgen. Ich wusste nicht, ob ich noch bei Verstand war. Ich suchte die Kinder. Erst als ich das letzte gefunden hatte, erinnerte ich mich daran, wieder zu essen und zu trinken.»
Hawa Mohamed floh mit ihren Kindern. Die Kleider, die sie trügen, seien das Einzige, was sie mitgenommen hätten.
«Wir gingen fünfzehn Tage zu Fuss. Leute gaben uns unterwegs Hirse zu essen, ich mischte diese mit Wasser in einem Kanister, den ich bei mir hatte. Wir schliefen, wo wir gerade waren, unter einem Baum, wenn wir einen fanden. Die Kinder wollten nicht rasten. Wenn ich sie fragte: ‹Sollen wir hier in diesem Dorf bleiben?›, sagten sie: ‹Nein, die Flugzeuge kommen wieder, die Soldaten kommen, lass uns weitergehen.› Ich gehe nie mehr zurück, ich habe zu viel gesehen. Ich gehe überallhin, aber nicht nach Hause.»
Als vor zwanzig Jahren der Genozid in Darfur begann, löste dieser ein globales Echo aus. Holocaust-Überlebende und Hollywoodstars meldeten sich zu Wort, sie forderten: «Save Darfur». Diesmal ist die internationale Aufmerksamkeit für den Krieg im Sudan begrenzt. Die Kriege im Gazastreifen und in der Ukraine überschatten ihn. Es ist deshalb auch unklar, ob jene, die nun wieder Zivilisten massakrieren und ganze Städte ethnisch säubern, je zur Rechenschaft gezogen werden.
Der Anwalt schläft mit dem Beweismaterial neben sich
Zwei Männer mit ernsten Mienen versuchen ihr Möglichstes, um Straflosigkeit zu verhindern. Abdelmoneim Hamad, 31, und Ahmed Omer, 51, sind Anwälte. Sie sind aus al-Geneina geflohen, auch sie haben Menschen sterben sehen. Nun sind sie zu Chronisten des Horrors geworden. Sie tragen die Geschichten zusammen, die Leute wie Sawsan Sabeel und Hawa Mohamed zu erzählen haben.
An diesem Morgen im Mai sitzen sie auf einer Matte einem Mann gegenüber, der erst vor kurzem über die Grenze gekommen ist. Sie haben Stift und Notizblock bereit, ihre Hemden sind gebügelt, es sieht aus, als ob das hier eine Kanzlei sei, nicht Abdelmoneim Hamads Strohhütte.
Hamad stellt sich vor. «Wir sind Anwälte und dokumentieren Gewalt, Tötungen, Verletzungen und Entführungen. Wir haben eine Reihe von Fragen. Ihr Name?» – «Kamal Yusif.» – «Alter?» – «55.»
Hamad notiert sich Ethnie, Wohnort, Adresse, Zivilstand, sagt dann: «Schildern Sie uns, was passiert ist.»
Was die Anwälte gesammelt haben, quillt neben ihnen aus einer Mappe. Es sind handgeschriebene Listen mit Tausenden von Namen und Verbrechen. Es sind mehr als 6000 Getötete. 2800 Vermisste. 18 000 Verletzte. Mehr als 300 vergewaltigte Frauen. Bei den Getöteten steht als Vermerk oft: «Nackenschuss.»
Hamad und Omer haben keine Laptops. Die RSF haben ihre Büros in al-Geneina zerstört. Nachts schläft Hamad mit den Listen in Griffnähe. Er hat Angst, das gesammelte Beweismaterial zu verlieren.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat im Mai einen Bericht veröffentlicht, in dem Rechercheure auf 228 Seiten zusammengetragen haben, was im vergangenen Jahr in al-Geneina geschehen ist. Darin steht: Es sei möglich, dass die Massentötungen, das Niederbrennen ganzer Stadtteile, in denen Masalit wohnten, und die Vergewaltigungen den Tatbestand des Genozids erfüllten.
Kamal Yusif, der an diesem Morgen von den Anwälten befragt wird, ist ein Musiker, der in al-Geneina stadtbekannt war. Er hatte auch in der RSF Fans. Er sass zehn Tage im Gefängnis, dann kam er frei. Ein befreundeter RSF-Soldat schmuggelte ihn in einem Auto mit getönten Scheiben an die Grenze.
Es ist eine weitere unter Tausenden von Geschichten im Camp von Adré. Und eine glückliche Ausnahme. Abdelmoneim Hamad, Ahmed Omer und zwei Dutzend weitere Anwälte, die mit ihnen arbeiten, hoffen, dass ihr Beweismaterial dereinst vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) oder einem Sondergericht von Nutzen sein wird.
Der ICC ermittelt tatsächlich zu den Vorgängen in Darfur. Er hat auch Ermittler in die Camps in Tschad geschickt.
Doch solange es keinen Frieden im Sudan gibt, wird auch niemand zur Rechenschaft gezogen. Es gibt zurzeit nicht einmal aussichtsreiche Bemühungen um eine Waffenruhe. Jeden Tag überqueren Hunderte von Sudanesinnen und Sudanesen die Grenze. Viele von ihnen sagen: Was jetzt geschehe, sei noch schlimmer als damals vor zwanzig Jahren.
Bilder via Getty.