«Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne» – so heisst der neue Erzählungsband. Er ist ein typischer Stanišić.
Witwen-Tinder geht so: Die Trauernde stellt eine Giesskanne auf das Grab des Verblichenen, wobei der Ausguss auf sie selbst zeigt. An den Nachbargräbern Trauernde wissen dann, dass es wieder Beziehungsbedarf gibt. Oder einen Wunsch nach milderen Formen des Sozialen. Vielleicht einmal gemeinsam Kaffee und Kuchen. Gerade im Alter muss man ja nicht gleich übertreiben.
Gisela Brunner, genannt Gisel und Jahrgang 1938, ist keine Frau für Übertreibungen. Früher hat sie in einer Druckerei gearbeitet. Sie war Setzerin und ihrem verehelichten Hermann über fünfzig Jahre lang in nicht unkritischer Liebe zugetan. Seinen Tod verzeiht sie ihm ungern. Wäre er nicht gestorben, dann müsste sie ihn nicht in der Eiseskälte des Friedhofs beweinen.
Die Titelstory des Erzählungsbandes «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne» ist eine typische Stanišić-Geschichte. In seinen Büchern hat Saša Stanišić die Freundlichkeit als Menschenrecht neu erfunden. Auch sein neues Werk hält sich an diese Charta. Der Titel ist vielleicht sperrig, aber die erzählerischen Fluchtpunkte sind klar: Wir sind alle Reisende auf den Schollen des Lebens, kommen aus anderen Ländern oder Epochen und brauchen Asyl an den Orten der Gegenwart.
Haben Migrantenkinder eine Zukunft?
Das Buch, dessen Titel der Autor auch selbst mit MDWAWPSADGDGMDANV abkürzt, hat eine Rahmenhandlung. Vier Jungs vertreiben sich in der bleiernen Sommerhitze des Jahres 1994 in den Weinbergen oberhalb von Heidelberg die Zeit. 1979 hat man dort eine Grosswohnsiedlung errichtet. Viele Gastarbeiter und Flüchtlinge wohnen hier mit ihren Kindern.
Dass es in der Erzählung «Neue Heimat» möglicherweise autobiografisch zugeht, kann man an einem der Namen der vier Sechzehnjährigen erkennen: Saša. Die anderen heissen Fatih, Piero und Nico. In den Weinbergen wirft einer Steine in die Luft, und die Freunde versuchen, sie zu treffen. Dann hat Fatih eine Idee: Was, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? «Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreissig Mark.» Wenn einem etwas gefällt, kann man fix einloggen. Das ist dann sehr viel teurer. Das ist eine typische Was-wäre-wenn-Geschichte, ein Teufelspakt, der für die vier Migrantenkinder einen schillernden Reiz hat. Haben sie überhaupt eine Zukunft in diesem Deutschland?
Saša Stanišić wurde 1978 im bosnischen Višegrad geboren. 1992, während des Jugoslawienkriegs, floh die Familie vor den bosnisch-serbischen Truppen nach Heidelberg. Die Heimat im Zustand äusserster Zerbrechlichkeit hat Stanišić 2006 in seinem Debütroman «Wie der Soldat das Grammofon repariert» beschrieben. Es waren die Sprache und die Einbildungskraft, mit denen der Erzähler die Welt zusammenhalten konnte.
Wenn sich im neuen Buch vier Jungs des Jahres 1994 eine Zukunft ausmalen, dann ist diese frühere Zukunft die heutige Gegenwart, und man erfährt von einem Schriftsteller namens Saša, der eine Lesung in Heidelberg hat. Das Damals wird zum Heute, und irgendwie ist alles ganz wunderbar miteinander verflochten: «Ich werde die Weinberge lesen, mich selbst, die Jungs. Sie sind alle weggezogen. Im Weinberg liegen bestimmt noch unsere Steine, in Geschichten schlagen unsere Herzen.»
Wie Heinrich Heine auf Helgoland
Am meisten Herz schlägt in Saša Stanišićs Geschichte von der Witwe Gisel, die sehr allein ist und plötzlich Freundschaft schliesst mit einem migrantischen Jungen. Und in der Geschichte von Helgoland. Er werde mit seinen Eltern Sommerferien machen auf Helgoland, erzählt Saša im Weinberg seinen Freunden. Dabei war Helgoland nur ein unerreichbarer Traum, aber er wusste aus der Schule, dass Heinrich Heine dort im Exil war. Dass Heine die Insel beschrieben hat, wie er selbst sie Fatih, Piero und Nico nach den Ferien würde beschreiben müssen.
Auf einem Hochsitz im Wald über Heidelberg denkt er sich eine Geschichte aus, die aber auch noch eine Metaerzählung hat. Immer mehr perspektivisch leicht verschobene Wirklichkeiten verflechten sich zu einer neuen Wirklichkeit. 2023 ist es sogar so weit, dass eine Helgoländer Wirtin behauptet, Saša Stanišić sei 1994 tatsächlich auf der Insel gewesen und habe ihr das alte Kneipenschild «Inselkrug» gestohlen.
Beim Kreuzworträtsel sucht die alte Witwe Gisel nach einer Phrase. Als sie «Verweile doch» endlich hat, denkt sie: «Wie enttäuschend. Verweile doch. Ach, Scheisse auch.» Dass sich beides so ungünstig reimt, ist feinste Ironie in einem Buch, das immer wieder von Déjà-vus erzählt, von Interferenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, von verweilenden Augenblicken.
In der sehr wienerischen «Traumnovelle» fällt der aus der türkischen Provinz stammenden Putzfrau Dilek beim Abstauben der Heizkörper die Ziegenhaarbürste aus der Hand, und plötzlich steht die Zeit um exakt 10 Uhr 45 still. Dilek muss darüber nachdenken, dass ihr Mann Ercan wieder zurück will ins türkische Dorf. Mitsamt Familie. «Herkunft» heisst ein autobiografischer Roman von Saša Stanišić, aber Herkunft heisst eben nicht immer auch Zukunft. Was wird aus Dileks Sohn Fatih, der in Heidelberg und Wien aufgewachsen ist und plötzlich sein Leben in Kaleköy verbringen müsste? An einem Ort, der auch heute noch nur zu Fuss oder mit dem Boot zu erreichen ist?
«Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne» ist ein Buch erfüllbarer, aber stets gefährdeter Utopien. Auf Helgoland erfährt der kosmopolitische Heinrich Heine von der Französischen Revolution und ruft aus: «Die Leier, reicht mir die Leier!» Der sechzehnjährige Saša findet diesen Gefühlsausbruch übertrieben und schon allein deshalb grandios. Beim neuen Buch des Schriftstellers Saša Stanišić ist nicht jeder Gefühlsausbruch grandios. Der Angriff der Vergangenheit auf die übrige Zeit, das Kindheits-Nostalgische, ist hier selbst Déjà-vu. Dort allerdings, wo sich neben den privaten auch neue und unerhörte Wirklichkeiten in die Erzählungen fädeln, ist das Buch mit dem unaussprechlichen Titel grosse Kunst.
Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne. Luchterhand-Literaturverlag, München 2024. 256 S., Fr. 35.90.