Die EU wird rechts. Und die Schlagzeilen dazu klingen beinahe apokalyptisch. Diesen Juni wählen 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger in 27 EU-Mitgliedsstaaten ein neues EU-Parlament. Wenn die Umfragen stimmen, dann gewinnen die rechten Fraktionen ordentlich dazu. Aber ändern wird sich wahrscheinlich nicht viel. Wir erklären dir in diesem Video, warum.
Seit den Parlamentswahlen 2019 sieht das EU-Parlament so aus: Die konservative EVP ist die stärkste Kraft, vor den Sozialdemokraten, den Liberalen, den Grünen und den beiden rechten Parteien: den Europäischen Konservativen und Reformern von mitte-rechts und der ganz rechten Fraktion Identität und Demokratie. Das neue EU-Parlament könnte, wenn die Umfragen von Ende Mai stimmen, ab dem 10. Juni 2024 so aussehen: Die konservative EVP bleibt stärkste Kraft und die Sozialdemokraten die zweitstärkste, gefolgt von den Liberalen. Die Europäischen Konservativen und Reformer von rechts rutschen auf Platz vier, dicht dahinter die am weitesten rechts stehende Fraktion des Parlaments, Identität und Demokratie. Die Grünen rutschen weit nach hinten. Die rechten Fraktionen gewinnen dazu. Aber was wollen die Rechten eigentlich?
Das ist gar nicht so klar. Die Fraktionen sind in manchen Fragen nämlich ziemlich gespalten. Vor allem zwischen der EKR und der ID – also zwischen den beiden rechten Parteien im EU-Parlament – gibt es grosse Meinungsverschiedenheiten. Giorgia Melonis Fratelli d’Italia zum Beispiel, die polnische PiS oder auch die finnische Rechte sind klar proukrainisch, während die österreichische FPÖ oder die tschechische Partei «Freiheit und Direkte Demokratie» einen vermeintlichen Frieden nach russischer Vorstellung befürworten. Aber auch innerhalb der ID sind die Parteien gespalten. Die österreichische FPÖ liebäugelt mit einem EU-Austritt, während etwa Marine Le Pens Rassemblement national aus Frankreich oder die Estnische Konservative Volkspartei zwar Reformen, aber keinen Austritt wollen. Und die deutsche AfD ist jetzt, kurz vor der Wahl, sogar aus der ID-Fraktion ausgeschlossen worden, weil ihr Spitzenkandidat in einem Interview die Verbrechen der Nazi-SS relativiert hat. Die Spaltung der Rechten in der EU wird also tendenziell stärker statt schwächer. Zumindest in zwei Punkten sind sich die rechten Fraktionen aber halbwegs einig:
Im Zweifelsfall lieber weniger Klimaschutz als zu viel. Die EKR ist im Prinzip schon für eine «ambitionierte, aber realistische» Klimapolitik und unterstützt das Ziel Klimaneutralität bis 2050 grundsätzlich. Aber das soll vor allem über Investitionen in Technologie geschehen, über mehr Effizienz, etwa beim Bauen, und es müssen möglichst alle Regionen, Länder und gesellschaftlichen Gruppen einverstanden sein. Die ID-Fraktion hingegen stellt sich aus Prinzip gerne gegen alles, auch gegen den «grünen Kreuzzug», wie es auf ihrer Website heisst.
Das zeigt sich auch im Wahlverhalten der beiden Fraktionen. Strengere Obergrenzen für Luftverschmutzung bis 2030? Nein danke, nicht für die ID und die EKR. Weniger Verpackungsmüll? Lieber nicht. Wichtige natürliche Ökosysteme und Lebensräume wiederherstellen? Nein danke. Weniger Mikroplastik? Da geht die EKR zum Beispiel mit, die ID stellt sich dagegen.
Das Ding ist nur: Die Klimapolitik der nächsten Jahre hat das Europäische Parlament mehr oder minder schon beschlossen. Ende 2019 hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Green Deal angekündigt. Den allergrössten Teil der Gesetzesinitiativen, die in diesem Green Deal drin sind, hat das EU-Parlament schon angenommen. Da jetzt zurückzurudern, wäre theoretisch nur noch mit einem sogenannten Review-Prozess möglich, aber dafür brauchte es eine absolute Mehrheit gegen die Gesetze, und die können die rechten Parteien alleine nicht stellen.
Was die rechten Fraktionen hingegen schon wollen – und zwar geeint – und wofür sie vor allem gewählt werden, ist ein restriktiver Migrationskurs. Aber den will inzwischen sowieso eine klare Mehrheit. 71 Prozent der Menschen in der EU finden, ihr Land nehme zu viele Migrantinnen und Migranten auf. Auf politischer Ebene ist das längst angekommen. Die EU hat inzwischen Deals mit der Türkei, Ägypten, Tunesien und Libanon; vereinfacht gesagt, zahlt die EU diesen Ländern Geld, und diese wiederum schützen die Grenzen und hindern Menschen am Ausreisen. Im Dezember 2023 haben Parlament und Rat sich ausserdem auf ein neues Migrations- und Asylpaket geeinigt, das vor allem eins will: sichere Grenzen und geregelte Migration. Da können die rechten Fraktionen eventuell zeitlich Druck machen, letztlich setzen die EU-Institutionen den von den Bürgern gewünschten restriktiven Migrationskurs aber bereits um.
Ein Rechtsrutsch bewirkt also … was genau? Beim Thema Migration sind die Anliegen der Rechten ohnehin schon Programm. Wenn sie jetzt also mehr Sitze gewinnt, ändert sich da wenig. Beim Klimaschutz ist eine stärkere Rechte trotzdem nicht stark genug, um im Alleingang zurückzurudern. Und sonst sind die rechten Fraktionen zu gespalten, als dass sie die EU-Politik wirklich beeinflussen könnten. Insbesondere bei der ID ist das Interesse an EU-Politik begrenzt. Für die Parteien in der ID ist der EU-Wahlkampf vor allem eine Bühne, um sich auf nationaler Ebene bei Euro-Skeptikern zu profilieren. Im Ergebnis dürfte sich also nach den EU-Wahlen dieses Jahr wenig an der Politik der Europäischen Union ändern. Und die Aufregung um den Rechtsrutsch im EU-Parlament ist wahrscheinlich ziemlich umsonst.







