Joe Biden will die Einwanderung begrenzen, obwohl die illegalen Grenzübertritte jüngst gesunken sind. Besuch in einem Flüchtlingsheim in Piedras Negras.
In der texanischen Grenzstadt Eagle Pass strömten noch im Dezember jeden Tag mehrere tausend Migranten von Mexiko aus über den Rio Grande in die USA. Nun ist etwas Ruhe eingekehrt. Bloss ab und zu suchen kleine Gruppen oder Einzelpersonen am amerikanischen Flussufer einen Weg durch die mit messerscharfem Klingendraht gesicherten Absperrungen. Woher kommt dieser abrupte Rückgang? Wir finden die Antwort auf der anderen Seite der Grenze bei einem Besuch in der mexikanischen Nachbarstadt Piedras Negras.
Die katholische Ordensschwester Ursula nimmt uns in ihrem Van mit über die Grenze in die Casa del Migrante in Piedras Negras. Sie muss sowieso dorthin, um einen Sack mit Kleidern und einen mit Süssigkeiten zu bringen. Ursula kümmert sich in Eagle Pass um die ankommenden Migranten. Aber sie unterstützten auch die Hilfsarbeit in Mexiko, wenn die Leute dort etwas brauchten, meint die Mittsiebzigerin.
In den Süden abgeschoben
Auf der mexikanischen Seite der Grenzbrücke will niemand unsere Pässe sehen. Nach wenigen Minuten halten wir vor einer ehemaligen Grundschule, die durch eine hohe Mauer und ein grosses Eisentor gut geschützt ist. In den ehemaligen Schulzimmern schlafen nun Migranten in Kajütenbetten. Die Kapazität ihrer Flüchtlingsunterkunft liege bei hundert Personen, erklärt die leitende Franziskanerschwester Isabel Turcios, eine lebensfrohe Honduranerin. Momentan beherberge sie etwa achtzig Migranten. Aber von September bis Dezember seien es täglich über tausend gewesen. «Sie schliefen überall – auch im Esssaal. Man konnte kaum mehr gehen.»
Schwester Isabel nennt zwei Gründe für den Rückgang. Zum einen das Vorgehen der texanischen Behörden: Seit Januar hat die Nationalgarde des republikanisch regierten Gliedstaats praktisch die Kontrolle über den Grenzabschnitt bei Eagle Pass übernommen. Es sei schwierig geworden, über den Fluss zu kommen, erzählt die Nonne. «Früher warteten amerikanische Grenzschützer auf der anderen Seite auf die Migranten. Jetzt nicht mehr.» Die texanischen Sicherheitskräfte würden Schutzsuchende sofort zurückschicken. Und früher habe es auch nicht so viel Klingendraht gegeben, an dem sich viele Migranten verletzten.
Der wichtigere Grund für den Rückgang der Grenzübertritte sei aber das Vorgehen der mexikanischen Regierung und ihrer Ordnungshüter. Die Behörden hätten sechs Checkpoints zwischen Piedras Negras und der knapp 400 Kilometer südlich davon gelegenen Grossstadt Monterrey aufgestellt. «Die Polizei verhaftet Migranten und fährt sie in Bussen in den Süden zurück.»
Ausländer könnten derzeit zudem keine Bustickets von Monterrey nach Piedras Negras kaufen, erzählt Schwester Isabel. Und die mexikanischen Behörden sollen die Migranten auch stärker davon abhalten, auf Güterzügen an die Grenze zu reisen. Gemäss einem aktuellen Bericht der «New York Times» wird ein grosser Teil der aufgegriffenen Migranten in die Stadt Villahermosa zurückgebracht. Sie liegt ganz im Süden des Landes unweit der Grenze zu Guatemala.
Auch die legale Migration wird erschwert
Der Grund für das mexikanische Vorgehen ist vermutlich ein erhöhter Druck aus Washington. Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Donald Trump hatte Joe Biden eine «humanere» Einwanderungspolitik versprochen. In der Folge stieg die Zahl der vom Grenzschutz aufgegriffenen Migranten rasant. Lag diese Zahl 2019 noch bei rund einer Million Personen, stieg sie im vergangenen Fiskaljahr auf über zwei Millionen an. Weil diese Entwicklung vielen Amerikanern Sorgen bereitet, könnte sie Biden im Herbst die Wiederwahl kosten. Deshalb musste der Präsident etwas unternehmen.
Kurz vor Weihnachten rief Biden seinen mexikanischen Amtskollegen Andrés Manuel López Obrador an. Wenige Tage später schickte Biden seinen Aussenminister Antony Blinken und seinen Minister für Inlandsicherheit Alejandro Mayorkas nach Mexiko-Stadt. López Obrador willigte ein, mehr gegen die Migrationsströme zu tun. Wohl auch weil sie ein Niveau erreichten, das der eigenen Exportwirtschaft schadete. So mussten die USA im Dezember zeitweilig Grenzübergänge schliessen. Das von dort abgezogene Personal wurde benötigt, um die grosse Zahl der Migranten zu bewältigen, die illegal über die Grenze kamen. Dies führte zur Unterbrechung des Güterverkehrs.
Die mexikanischen Massnahmen behinderten jedoch auch die legale Migration, erklärt Schwester Isabel. Unter der Biden-Regierung entwickelten die USA eine App, mit der Schutzsuchende in Mexiko einen Interviewtermin mit der amerikanischen Einwanderungsbehörde vereinbaren können. Die Idee ist, dass sie in grösseren Städten wie Monterrey auf ihren Termin warten und erst dann an die Grenze kommen. «Aber viele verpassen ihre Gesprächstermine, weil sie an den Checkpoints verhaftet und zurückgeschickt werden.» Dabei könne es manchmal sieben bis acht Monate dauern, um eine Einladung für ein Interview zu erhalten.
Wer genügend Geld hat, kommt indes immer noch an sein Ziel. Heute seien zwei Migranten aus Monterrey angekommen, die einem Fahrer über 500 Dollar gezahlt hätten, damit er sie nach Piedras Negras bringen würde, erzählt Schwester Isabel. An jedem Checkpoint habe der Chauffeur die Beamten geschmiert. «Es herrscht grosse Korruption.» Noch im Dezember hätten alle Migranten den Rio Grande bei Eagle Pass auf eigene Faust überquert. Jetzt nicht mehr: «Mein Nachbar ist ein Schlepper», sagt die Franziskanerin. «Für die Überfahrt nur schon in einem kleinen Boot verlangt er nun 150 Dollar.»
Die verschärften Massnahmen in Mexiko und den USA erhöhten die Risiken für die Migranten, betont Schwester Isabel. Ganz aufhalten lassen sie sich dadurch aber nicht. Mit wem man in der Casa del Migrante auch spricht, eine Rückkehr in die Heimat erwägt niemand. Einzelne wurden gar erst kürzlich aus den USA deportiert und sind bereits wieder auf dem Weg ins gelobte Land. Er habe eine Tochter mit einer Amerikanerin, sagt Fernando Canales in leidlichem Englisch. Nach zehn Jahren in Chicago habe man ihn nach Honduras ausgeschafft, erzählt der Bauarbeiter. «Mein ganzes Leben ist in den USA.»
«Wenn sie uns deportieren, werden wir getötet»
Fast alle in der Unterkunft können eine herzzerreissende Geschichte erzählen: Der 20-jährige Marlon und seine 18-jährige Frau Génesis sind mit ihrem zweijährigen Sohn Fernando die letzten zwei Tage zu Fuss nach Piedras Negras gelaufen. Unterwegs seien sie von mexikanischen Polizisten ausgeraubt und verprügelt worden, erzählt Marlon, der seinen Familiennamen geheim halten will. «Sie sagten mir, dass sie mich in diesem Land nicht haben wollten.»
Die Familie stammt ebenfalls aus Honduras. Sie möchten auf legalem Weg in den USA einen Antrag auf Asyl stellen und keine Gesetze brechen, erklären Marlon und Génesis. «Wenn sie uns deportieren sollten, werden wir getötet.» Wie viele Migranten aus Zentralamerika erzählen die beiden, dass sie in ihrer korrupten Heimat von einer skrupellosen Gang um Geld erpresst und mit dem Tod bedroht worden seien. Er habe in Honduras in einer Fabrik für die Aufbereitung von Trinkwasser gearbeitet und gut gelebt, meint Marlon. «Aber jetzt kann ich weder in Mexiko bleiben noch in meine Heimat zurückkehren.»
Marlons Mutter und seine Schwester sind bereits in Texas. Sie überquerten die Grenze bei Eagle Pass im vergangenen Jahr. «Wir sind ihnen auf ihrem Weg gefolgt.» Seine Mutter soll bereits eine Arbeit in einer Restaurantküche gefunden haben. Marlon und Génesis haben allerdings noch keinen Termin für ein Interview mit der amerikanischen Migrationsbehörde. Er zückt sein zerschlagenes Telefon aus dem Hosensack: «Es ging kaputt, als die Polizisten mich verprügelten.»
Vielleicht wird auch Marlon am Ende keinen anderen Ausweg sehen, als den Rio Grande zu überqueren. Wenn nicht in Eagle Pass, dann womöglich an einer anderen Stelle.
Fraglich scheint auch, wie lange Mexiko die Migranten im eigenen Land noch zurückdrängen will und kann. Viele, die in Bussen in den Süden verbracht wurden, dürften die Reise erneut versuchen. Die mexikanischen Massnahmen reduzierten den Zustrom an der amerikanischen Grenze im Vergleich zum Dezember zwar um 40 Prozent. Aber allein im April griffen Beamte rund 130 000 Personen auf, nachdem diese die Grenze illegal überquert hatten.
Zudem hält die Wanderbewegung weiter südlich an. Rund 150 000 Schutzsuchende haben dieses Jahres den unwirtlichen Dschungel zwischen Kolumbien und Panama auf ihrem Weg in die USA passiert. Hilfe könnte Biden nun aber auch vom neuen panamaischen Präsidenten erhalten: Der kürzlich gewählte José Raúl Mulino hat versprochen, die Migrationsroute aus Südamerika zu schliessen.







