Israel hat die militärischen Fähigkeiten der Hamas stark dezimiert – doch sein Ziel, die Gruppe komplett zu zerstören, hat es noch nicht erreicht. Auch Bidens Friedensplan wird die Islamisten kaum dazu bewegen, ihre Macht abzugeben.
Washington will den Waffenstillstand: Seit der amerikanische Präsident Joe Biden am vergangenen Freitag überraschend einen «Friedensplan» für Gaza vorgestellt hat, investieren die USA viel diplomatisches Kapital, um diesen in die Tat umzusetzen. Am Dienstag brachen der CIA-Chef William Burns und der Nahostbeauftragte des Weissen Hauses, Brett McGurk, in Richtung Katar und Ägypten auf, um für den Plan zu werben. Auch ein Halt in Israel ist offenbar geplant.
Die Aufregung um den Biden-Plan ist weiterhin gross. Der grösste Streitpunkt ist derselbe, an dem in den vergangenen Monaten schon ungezählte Verhandlungsrunden gescheitert sind: Die Hamas beharrt auf einem definitiven Ende des Krieges und verlangt entsprechende Garantien, während der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu den Krieg erst beenden will, wenn die Hamas komplett zerschlagen ist.
Auch die USA betonen immer wieder, die Hamas dürfe den Gazastreifen künftig nicht mehr regieren. Doch in Bidens Plan fehlt – wohl bewusst – der Hinweis darauf, wie dies erreicht werden soll. So stellt sich die Frage: Wie weit ist Israel von seinem Ziel entfernt, die Herrschaft und die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören?
Keine Personalprobleme
Beobachter sind sich weitgehend einig, dass die militärischen Fähigkeiten der Hamas seit Oktober stark dezimiert worden sind. Die israelischen Streitkräfte haben zahllose Tunnel, Munitionsdepots und Waffenfabriken ausfindig gemacht und zerstört. So ist die Islamistengruppe kaum mehr in der Lage, Raketen auf israelisches Gebiet zu schiessen. Laut Angaben der IDF wurden zudem rund 14 000 Hamas-Kämpfer getötet. Die Zahl lässt sich nicht verifizieren.
Dennoch sind nach Einschätzung von amerikanischen Geheimdiensten bisher nur rund 35 Prozent der Hamas-Tunnel zerstört und 30 bis 35 Prozent der Hamas-Kämpfer getötet worden. Nicht mitgezählt sind dabei Terroristen, die verletzt oder festgenommen wurden – dazu gibt es keine gesicherten Angaben. Experten gehen davon aus, dass die Hamas derzeit keine wirklichen Personalprobleme hat. So sagt etwa Ahmad Khalidi, palästinensischer Experte für Sicherheitspolitik am Geneva Centre for Security Policy: «Es deutet viel darauf hin, dass die Hamas mindestens so viele Kämpfer neu rekrutieren kann, wie sie verliert.»
Dazu kommt, dass die Hamas in den vergangenen Wochen auch im Norden des Gazastreifens wieder Fuss gefasst hat, der von der Armee eigentlich als sicher erklärt worden war. Laut Vertretern der IDF tobten in den Gebieten um Jabalya und Zeitun in Nord-Gaza jüngst einige der «heftigsten Kämpfe» seit Kriegsbeginn. Der israelische Militäranalytiker Kobi Michael beschwichtigt, die Aktivitäten der Hamas im Norden seien nicht wirklich koordiniert. «Die Hamas ist kaum mehr fähig, als eine organisierte militärische Streitmacht zu funktionieren. Doch sie ist sehr flexibel und setzt nun primär auf Guerilla-Taktiken», sagt der Wissenschafter, der am Institute for National Security Studies und bei der Denkfabrik Misgav tätig ist.
Die Hamas patrouilliert auf Märkten
Dies bedeutet allerdings auch, dass die Hamas für Israel weitgehend unsichtbar geworden ist. Wo sich die Terroristen nicht in Tunneln verstecken, verschmelzen sie mit der Bevölkerung, in der sie tief verwurzelt sind. Nach wie vor scheint die Hamas zudem die Kontrolle über sämtliche Aspekte des zivilen Lebens auszuüben – und holt sie sich dort, wo sie diese verloren hat, rasch zurück.
So berichteten etwa Bewohner des Flüchtlingslagers Jabalya in Nord-Gaza, dass Hamas-Beamte im Mai wieder auf Märkten Preise kontrolliert und die Verteilung von Hilfsgütern organisiert hätten. Gegenüber dem Radiosender NPR sagte ein Sprecher der Hamas, dass die zivile Hamas-Administration nach wie vor über rund 25 000 Mitarbeiter verfüge. Die Hamas habe seit dem 7. Oktober sogar zwei Mal deren Löhne zumindest teilweise bezahlen können. Derweil bekämpfe das Wirtschaftsministerium die Preistreiberei auf den Märkten.
Insbesondere die Kontrolle über die Verteilung der Hilfsgüter, die von der Hamas regelmässig beschlagnahmt werden, scheint der Islamistengruppe grossen Einfluss zu verleihen. Gemäss Einschätzungen von Experten sind viele internationale Organisationen gezwungen, mit Beamten der Hamas zu kooperieren. Der palästinensische Politologe Khalil Shikaki sagte kürzlich gegenüber der NZZ: «Ohne die Erlaubnis der Hamas kommt bis heute keine Hilfe in den Gazastreifen.»
Wer soll Gaza regieren?
Trotzdem gibt sich der Militäranalyst Kobi Michael überzeugt, dass Israel der Erfüllung seiner Ziele näher komme. Es gehe nicht darum, jeden Terroristen zu erwischen und jeden Tunnel zu zerstören: «Wir müssen nur die Gravitationszentren der militärischen und politischen Macht der Hamas eliminieren, die es ihr erlauben, als souveräne Macht in Gaza zu agieren.» Deshalb sei es auch so wichtig, dass Israel nun die Kontrolle über die Grenze zwischen Gaza und Ägypten ausübe, weil diese als Drehscheibe für den Waffenschmuggel und die Lieferung von Hilfsgütern ein zentrales Element der Souveränität der Hamas sei.
Michael plädiert dafür, dass Israel zumindest vorübergehend eine militärische Administration in Gaza aufbaut, bevor es das Gebiet an eine palästinensische Verwaltung übergibt. Er ist sich bewusst, dass dies den Konflikt mit Israels westlichen Partnern eskalieren lassen dürfte – die Schuld dafür sieht er allerdings bei den USA: «Die Hamas-Führung wähnt sich in einer strategischen Komfortzone, die die Amerikaner geschaffen haben. Wenn Israel durch die USA gezwungen wird, den Krieg zu beenden, wird die Hamas dies als grossen Sieg reklamieren.»
Für Eyal Hulata hingegen ist klar, dass eine Militäradministration keine Option ist. «Die IDF sind nicht gross genug, um den Gazastreifen militärisch zu verwalten», sagt Hulata, der bis 2023 als Sicherheitsberater der israelischen Regierung tätig war. Die israelische Führung habe es verpasst, sich frühzeitig um eine alternative Verwaltung zu kümmern. «Wir verlieren gerade unsere Fähigkeit, die Dinge in Gaza zu ändern.» Er spricht sich deshalb dafür aus, den Friedensplan von Joe Biden anzunehmen und mithilfe regionaler Partner eine palästinensische Zivilverwaltung aufzubauen.