Martin Fey hat lange dabei mitgeredet, welche Spitäler hochspezialisierte Medizin machen dürfen. Und ist damit zum Feindbild vieler Chirurgen geworden. Diese müssten lernen, ihr Ego zurückzustellen, sagt er.
Es geht um Prestige und Kantönligeist: Welche Spitäler dürfen die besonders schwierigen Operationen machen – und welche genügen dafür nicht? Martin Fey hat sieben Jahre lang das Fachgremium Hochspezialisierte Medizin (HSM) geleitet, das entsprechende Vorschläge für die Politik ausarbeitet. Immer wieder wurden der renommierte Onkologe und seine Kollegen angefeindet von Chirurgen oder Spitälern, die bei der Zuteilung leer ausgingen.
So sprach ein Chirurg von «Eiferern», die da am Werk seien. Und wünschte, Fey solle endlich in den Ruhestand gehen, statt seinen jüngeren Kollegen die Zukunft zu verbauen. Vor kurzem gab der 71-Jährige dann tatsächlich sein Amt ab – aber nicht, weil ihn die Kritik besonders beeindruckt hätte.
Herr Fey, warum lösen die Zuteilungen der hochspezialisierten Medizin solche Emotionen aus? Geht es um Geld?
Nein, das spielt kaum eine Rolle. Ein Grossteil der hochspezialisierten Eingriffe dürfte nicht sehr lukrativ sein. Gerade dann, wenn ein Chirurg und sein Team nicht besonders geübt sind und es zu Komplikationen kommt. Liegt ein Patient nach der OP wochenlang auf der Intensivstation, wird die Fallpauschale die Kosten nicht decken.
Worum geht es dann?
Manche Chirurgen fühlen sich persönlich beleidigt, wenn wir ihnen sagen: Euer Spital erfüllt die HSM-Kriterien nicht. Sie drohen damit, sich eine neue Stelle zu suchen, wenn sie die paar HSM-Operationen im Jahr nicht mehr machen dürfen. Und die Spitaldirektoren klagen, sie würden keine Topmediziner mehr verpflichten können.
Es ist doch zumindest teilweise ein Berufsverbot für die betroffenen Operateure.
Dieser Vorwurf ist lächerlich. Nehmen wir die Viszeralchirurgen, die Eingriffe im Bauchraum vornehmen. Sie reichen besonders oft Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht gegen die Zuteilungsentscheide ein. Doch die Behandlungen von Krebs der Bauchspeicheldrüse und andere sehr seltene HSM-Eingriffe machen nur ein bis zwei Prozent der viszeralchirurgischen Operationen aus. Wenn ein Chirurg an einem Spital diese wenigen Eingriffe nicht durchführen darf, ist dies noch lange kein «Berufsverbot».
Dennoch: Ist ein grosser Ehrgeiz nicht Voraussetzung für eine Chirurgenkarriere?
Vielleicht. Aber man muss sein Ego auch zurückstellen können. Für mich als Onkologen wäre es sehr interessant gewesen, wenn wir in Bern bei Leukämiepatienten Transplantationen von allogenen, also körperfremden Stammzellen hätten machen können. Aber wir hatten eine Abmachung mit dem Universitätsspital Basel, ihm unsere Patienten zu schicken. Denn die machen das dort hervorragend. Wir haben uns stattdessen auf die Behandlung von Patienten mit ihren eigenen Stammzellen spezialisiert. Und wurden in diesem Gebiet die Nummer 1 der Schweiz.
Verstehen Sie den Frust eines Chirurgen, wenn sein Spital die Zuteilung für einen Eingriff verliert, den er gern gemacht hat?
Persönliche Befindlichkeiten können nicht die Grundlage für eine kohärente nationale Gesundheitsversorgung sein! Wir müssen den gesamtschweizerischen Bedarf im Auge behalten. Die Chirurgie im Kantonsspital Baden darf keine komplexe HSM-Leberchirurgie mehr machen. Aargauer Patienten können dafür nach Aarau oder nach Zürich, es braucht das Angebot in Baden nicht. Zudem ärgert mich der Fokus auf die Person des Chirurgen.
Wieso?
Eine erfolgreiche Behandlung hängt nicht nur vom Chefchirurgen ab, sondern vom ganzen Team. Nach dem Eingriff kommt der Patient auf die Bettenstation, wo der Operateur nicht dauernd anwesend ist. Und dort braucht es top ausgebildete und erfahrene Pflegende und Assistenzärzte, die sofort merken, wenn etwas nicht gut läuft.
Ihre Kritiker werfen Ihnen und dem Fachgremium auch vor, Sie hätten die Mindestfallzahlen von Operationen, die es für eine HSM-Zuteilung braucht, zum Fetisch erhoben.
Fallzahlen sind kein perfektes Kriterium. Aber in der Fachliteratur gibt es einen Konsens darüber, dass es eine klare Korrelation gibt zwischen der Anzahl der Operationen und der Qualität.
Was heisst das konkret?
Ich kann das wieder anhand der Operationen an der Bauchspeicheldrüse erläutern. Davon gibt es in der Schweiz rund 700 im Jahr. Früher machten 50 bis 60 Kliniken diesen Eingriff, jede dritte kam auf nur zwei bis drei Operationen im Jahr. Da fehlte die Routine. Eine Studie aus den Niederlanden zeigt, dass in Spitälern, in denen jährlich mehr als zwanzig solcher Eingriffe gemacht werden, 3,3 Prozent der Patienten sterben. In Spitälern mit weniger als fünf Operationen liegt die Mortalität hingegen bei happigen 14,7 Prozent. Wir haben in der Schweiz nun nur noch 18 Spitäler, die Tumore in der Bauchspeicheldrüse operieren dürfen, so kommen sie auf die nötigen Fallzahlen.
Was wäre ein besseres Kriterium als die Fallzahlen?
Wenn wir wüssten, wie gut die Qualität der Behandlungen in jedem einzelnen Spital ist: Wie viele Patienten werden geheilt, wie viele sterben, wie hoch ist ihre Komplikationsrate?
Und wieso wissen wir das nicht?
Wir befinden uns in einem Datenblindflug. Die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen ist noch nirgends etabliert, es gibt kein funktionierendes elektronisches Patientendossier. Die Koordination zwischen den Kantonen und den Spitälern lässt zu wünschen übrig. In der HSM haben wir uns in den letzten Jahren eine bessere Datengrundlage erarbeitet – dank Behandlungsregistern, die alle Spitäler, die eine Zuteilung erhalten haben, detailliert ausfüllen müssen. Dabei gibt es auch immer wieder Überraschungen.
Inwiefern?
Wenn man genauer hinschaut und sich nicht einfach auf die Selbstdeklaration der Spitäler verlässt, merkt man, dass unser angeblich sehr gutes Gesundheitswesen vielleicht doch nicht perfekt ist. Derzeit läuft die Zuteilungsperiode für HSM-Hirnschläge in zehn spezialisierten Spitälern. Bei manchen der Bewerber dauert es im Schnitt länger als dreissig Minuten von dem Moment, in dem eine Hirnschlag-Patientin durch die Tür des Spitals kommt, bis zu dem Moment, in dem sie eine erste Behandlung erhält. Das ist nicht gut genug.
Besonders harte Kämpfe fochten die HSM-Gremien in den vergangenen Jahren mit dem Kantonsspital Graubünden aus. Diesem wollten Sie ursprünglich keine Zuteilung für die Kinderintensivmedizin oder für die Behandlung von schweren Verletzungen im Hirn und im Brustkorb (Polytrauma) bei Kindern erteilen.
Die polemische Kampagne der Bündner hat mich gestört. Ich war mit meinen Enkeln in Chur auf einem Spielplatz und sah überall Plakate hängen: «Gesundheitsversorgung wegen HSM in Gefahr!» Mit Kindern kann man gut auf die Tränendrüse drücken. Ich sagte dem Bündner Gesundheitsdirektor Peter Peyer, dass ich eine solche Emotionalisierung der Debatte für problematisch halte. Zumal Peyer im Beschlussorgan der Kantone sitzt, das auf der Basis unserer Empfehlungen über die Zuteilung der HSM entscheidet.
Am Schluss hat das Spital Chur die gewünschten Zuteilungen erhalten. Sind Sie unter dem politischen Druck eingebrochen?
Das Fachorgan hat sich überlegt, ob die Qualität in Chur wirklich so schlecht ist, dass wir apodiktisch sagen können: Ein neugeborenes Kind aus Poschiavo mit einem Gewicht von 1100 Gramm muss in jedem Fall nach St. Gallen oder nach Zürich auf die Intensivstation. Die Antwort war sachlich Nein, aber wir haben empfohlen, die Zuteilung an Chur nur mit Auflagen zu erteilen. Das KSGR muss in einigen Punkten nachbessern.
Können Sie nachvollziehen, dass Patienten möglichst nahe am Wohnort ins Spital möchten?
Geografische Erreichbarkeit ist schon ein Kriterium. Aber in Kanada oder in Norwegen wird es einfach akzeptiert, dass man 500 Kilometer zu einem Spital reisen muss, wenn es sich nicht um einen Notfall handelt, sondern um einen planbaren Eingriff.
Bei uns nicht?
Es ist vor allem ein Problem in den Köpfen der Leute. In den Ferien fliegen die Leute für ein Cüpli nach Barcelona – eine Operation in Genf empfinden sie aber als Zumutung. Zum Glück verstehen die meisten Patienten die wesentlichen Punkte, wenn man sie ihnen erklärt.
Was sind die wesentlichen Punkte?
Dass es viel wichtiger ist, wie gut die Behandlung ist – und nicht, wo sie stattfindet. Ein Beispiel ist die Leberchirurgie in der Kindermedizin, da gibt es etwa zehn Fälle jährlich in der Schweiz. Die gehen alle nach Genf, weil dort das beste Operationsteam des Landes wirkt. Einer Mutter aus Poschiavo ist wohl egal, wenn sie ein paar hundert Kilometer weiter reisen muss, wenn dafür ihr Kind überlebt! Das ist eine ganz andere Perspektive als jene der Politiker, die für jedes Spital in ihrem Kanton kämpfen. Ihre Perspektive reicht mitunter nicht weiter als bis zum Ende ihrer Amtsperiode und bis zur Kantonsgrenze.
Man darf nicht unterschätzen, dass es bei einem Spital auch um einen grossen Arbeitgeber geht.
Gewiss, Spitäler sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Aber es geht nicht immer um alles oder nichts, um das Weiterführen wie bisher oder die Schliessung. Haben Sie schon einmal vom Spital Riggisberg gehört?
Nein.
Das war ein kleines Spital, wunderschön gelegen zwischen Bern und Thun. Es führte eine Geburtsabteilung mit vielleicht 200 Geburten pro Jahr. Ein Kaiserschnitt war selten, aber die Klinik musste jederzeit für einen solchen Fall parat sein – man spricht von Vorhalteleistungen. Solche Strukturen aufrechtzuerhalten, ist unsinnig und zu teuer.
Was ist mit dem Spital passiert?
Vor gut zehn Jahren schloss man die Geburtsabteilung trotz Protesten. 2016 wurde das Spital in eine Neurorehabilitationsstation mit 30 Betten umfunktioniert. Das ist eine elegante Lösung. Der lokale Bäcker kann weiterhin seine Brötchen an die Klinik verkaufen, und die Sterberate in Riggisberg ist meines Wissens nicht plötzlich stark angestiegen. Nur die Hebammen mussten sich einen neuen Arbeitsort suchen, aber das dürfte ihnen nicht allzu schwer gefallen sein.
Sie würden also für einen radikalen Umbau des Gesundheitswesens mit deutlich weniger Spitälern plädieren?
Ja, natürlich. Auch wenn ich weiss, dass die Zeit noch nicht reif für diese Vision ist. Die 18 Spitäler, die HSM-Eingriffe an der Bauchspeicheldrüse machen dürfen, sind immer noch sehr viel. Eine weitere Reduktion hätte den Vorteil, dass man an den verbliebenen Spitälern geballte Expertise hätte, die Patienten bekämen dort Topmedizin. Man könnte viel gezielter forschen, es ist heute schwierig, genug Patienten für klinische Studien zu rekrutieren. Und auch die Weiterbildung würde profitieren: Der Nachwuchs hätte jede Menge Fälle und könnte das Handwerk richtig lernen. Darf ich in diesem Zusammenhang etwas Unpopuläres sagen?
Bitte.
Die jungen Ärztinnen und Ärzte wollen immer weniger arbeiten, ihre Gewerkschaft setzt sich für die 42-Stunde-Woche am Spital ein – und dabei sollen auch noch Teilzeitpensen möglich sein. Dafür habe ich kein Verständnis. Mit geringerer Arbeitszeit sieht der Nachwuchs innert nützlicher Frist nicht genügend Patienten, um die nötige Erfahrung zu sammeln. Als junge Ärztin muss man im Spital schon bald eine gewisse Selbständigkeit haben. Geht es dem Patienten gut oder nicht? Man kann nicht bei jedem Problem den Oberarzt rufen.
Es soll weniger Spitäler geben, und sie sollen sich immer stärker auf gewisse Felder der Medizin spezialisieren. Stösst diese Entwicklung irgendwann an Grenzen?
Für ein Spital ist es nicht gut, wenn es nur noch von einem einzigen Eingriff abhängt. Der medizinische Fortschritt kann ein solches Geschäftsmodell unterhöhlen. Es gibt beispielsweise immer weniger offene Operationen am Herzen, weil Kardiologen Herzprobleme vermehrt nichtchirurgisch behandeln können. Und auch für das Gesamtsystem ist es riskant, wenn die Zahl der Spitäler, die einen bestimmten Eingriff vornehmen können, zu gering wird.
Inwiefern?
Wenn ein HSM-Spital ausfällt, kann es kritisch werden. Transplantationen von allogenen Stammzellen machen in der Schweiz nur die Unispitäler Zürich, Basel und Genf. Das Universitätsspital Basel erlebte vor vielen Jahren eine Pilzinfektion auf der Station, weswegen es diese für ein paar Monate schliessen und sanieren musste. Das führte zu einem Kapazitätsengpass. Und das kann für die Patienten sehr gefährlich werden. Wir brauchen deshalb sicher nicht so viele Spitäler wie heute. Aber allzu sehr zusammenstreichen dürfen wir auch nicht.