Im flämischen Norden Belgiens wird seit Jahren rechts gewählt. Nun könnte der Vlaams Belang hier erstmals stärkste Kraft werden. Die Partei will Einwanderer stoppen, woke Politik bekämpfen und vor allem: Belgien auflösen. Ein Besuch in einer Hochburg.
Europa? Für Europa interessieren sich Linda, Ingrid, Rudy und Emille eher weniger. Die vier fröhlichen Rentner haben sich vor dem «Vlaams Huis» in Ninove unter einem Sonnenschirm niedergelassen. Sie trinken helles, süffiges Bier aus bauchigen Gläsern und reden gerne über die bevorstehenden Wahlen. Aber nicht über die zum Europäischen, sondern die zum belgischen und zum flämischen Parlament.
«Ich werde für den Rest meines Lebens den Vlaams Belang wählen», bekennt Rudy. «Sollen sie mich doch als Nazi und Rassisten bezeichnen, das ist mir egal.» Linda stimmt ihm zu: «Wir haben es satt. Wir wollen nicht zur Minderheit im eigenen Land werden. Es gibt keine Alternative zum Vlaams Belang, wenn man sich hier noch zu Hause fühlen will.»
Die Wut im «Rostgürtel»
Das «Vlaams Huis» an der Pamelstraat ist gut besucht. Schon an einem Dienstagvormittag sitzen in dem rustikalen Café, das auch als Parteizentrale dient, Leute aus der Nachbarschaft bei einem Bier zusammen. Sie haben sich an den Besuch von Journalisten gewöhnt, die aus ganz Europa nach Ninove kommen, um Guy D’haeseleer zu treffen. Er ist verantwortlich dafür, dass aus dem 40 000-Einwohner-Städtchen eine Hochburg des radikalen Vlaams Belang wurde.
Unter der Führung von D’haeseleer gelang den rechten Nationalisten hier vor sechs Jahren der erste grosse Durchbruch. Mit 40 Prozent der Stimmen verfehlte der flämische Parlamentsabgeordnete mit seiner Liste «Forza Ninove» nur knapp die absolute Mehrheit und damit den Einzug ins Rathaus. Jetzt, im belgischen Superwahljahr 2024, wo am 9. Juni gleich drei Urnengänge stattfinden (auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene) und wo im Herbst auch noch die Bürgermeister im Land neu gewählt werden, will es D’haeseleer erneut versuchen.
Der 55-Jährige kommt durch die Tür und grüsst in die Runde. Er ist eine imposante Erscheinung mit seinem weiten Jeanshemd, das sich über dem kräftigen Bauch spannt. Zur Begrüssung sagt D’haeseleer, dass er nur Niederländisch sprechen wolle und ein Parteifreund deswegen übersetzen werde, es solle ja keine Missverständnisse geben. Gab es denn schlechte Erfahrungen mit der Presse? Nein, sagt er. Höchstens, dass kürzlich eine wallonische Zeitung geschrieben habe, dass das «Vlaams Huis» von aussen farblich an die französische Ausgabe des Buches «Mein Kampf» erinnere. So könne man sich natürlich auch lächerlich machen, findet D’haeseleer.
Ninove, eine Autostunde östlich von Brüssel, war einst ein blühendes Industriestädtchen und fest in den Händen der Sozialisten. Heute zählt es zum «flämischen Rostgürtel». Ähnlich wie in der Wallonie, dem südlichen, frankofonen Landesteil, wo bis in die 1970er Jahre das Herz der belgischen Schwerindustrie schlug, gibt es auch im Norden des Landes Regionen, die den Strukturwandel nicht gut überlebten. Hier verloren nicht nur Tausende ihre Jobs. Es verschwanden auch Bankfilialen, Bushaltestellen, lokale Geschäfte.
Angst vor Islamisierung
Ist der Vlaams Belang (Flämische Interessen) heute in die Fussstapfen der Sozialisten getreten? D’haeseleer sieht das so. Er sagt, es gebe zu viele Probleme in der Stadt, bei denen die «regierende Kaste» den Menschen nicht mehr zuhöre. Was sind das für Probleme? «Finanzielle Probleme. Einwanderung. Kriminalität. Die Leute fühlen sich im Stich gelassen.» Ob er dafür ein Beispiel hat? «Es gibt ständig Schlägereien zwischen Banden am Bahnhof. Meistens sind Nordafrikaner und Schwarzafrikaner dabei. Aber abends ist die Polizeiwache geschlossen. Auch am Wochenende ist niemand erreichbar.»
Das, sagt der Vlaams-Belang-Politiker, würde er sofort ändern, wenn er Bürgermeister wäre. Mehr Polizisten anwerben, mehr öffentliche Präsenz zeigen. Es gebe ja Stellen, wo Geld eingespart werden könne, bei den Hilfsangeboten für Migranten etwa. Und was will seine Partei noch ändern? «Wir wollen ein flämisches Ninove. Wir wollen keine Einwanderer, die sich nicht integrieren und kein Interesse haben, Niederländisch zu lernen. Wir wollen die Zweisprachigkeit auf den Behörden unterbinden. Wer nur Französisch spricht, soll die Botschaft erhalten, dass er nicht willkommen ist.»
D’haeseleer weiss, dass sein Spielraum als Kommunalpolitiker begrenzt ist. Auch dürfte er die Zahlen des lokalen Polizeichefs kennen, wonach die Kriminalität keineswegs zugenommen, sondern die Zahl der Diebstähle und Sachbeschädigungen sich in den letzten zehn Jahren halbiert hat. Tania De Jong, die liberale Bürgermeisterin, vergrösserte die Polizeiwache, liess zusätzliche Überwachungskameras installieren. Man kann ihr nicht Untätigkeit vorwerfen. Aber vielleicht geht es gar nicht darum. Vielleicht muss, wenn die Sicherheit zunimmt, nicht zwingend auch das Gefühl der Unsicherheit abnehmen.
«Nennen wir das Problem doch beim Namen», sagt der Rentner Emille Pletinckx, der früher selber Polizist war. «Es sind die muslimischen Einwanderer. Sie bekommen mehr Kinder als wir, sie leben anders, sie haben eine andere Kultur. Wollen wir, dass es eines Tages überall im Land so aussieht wie in Molenbeek?» Den Bau neuer Moscheen, Subventionen für islamische Verbände, Kopftücher im öffentlichen Dienst, all das lehnt der Vlaams Belang entschieden ab.
«Unsere Menschen zuerst»
Migration, Angst vor der Islamisierung oder vor dem sozialen Abstieg: Es gibt viele Gründe, warum Rechtsaussenparteien nicht nur in Belgien auf dem Vormarsch sind. Wahlforscher sagen ganz Europa einen Rechtsruck bei den Wahlen zum Europäischen Parlament voraus. Es wäre ein Trend, der vor zwei Jahren mit dem Triumph der Fratelli-d’Italia-Chefin Giorgia Meloni begann und sich im Herbst mit dem Wahlsieg des Islam-Gegners Geert Wilders in den Niederlanden fortsetzte.
Die Parteien am rechten Rand formulieren die Kritik an der irregulären Einwanderung am schärfsten, und sie treten als Schutzmacht des kleinen (einheimischen) Mannes auf. «Niederländer zuerst!», versprach Wilders. «Flandern gehört wieder uns», skandiert der charismatische Vlaams-Belang-Chef Tom Van Grieken, der in Wilders ein Vorbild sieht.
Umfragen sagen seiner Partei zwischen 25 und 30 Prozent der Wählerstimmen voraus, und es ist auffällig, dass vor allem junge Wähler ihr Kreuz beim Vlaams Belang machen wollen. Auf regionaler Ebene dürfte die Partei stärkste Kraft werden und auf nationaler Ebene, wo ein Ausgleich zwischen den Regionen geschaffen werden soll, für einige Irritationen sorgen.
Regierungsbildungen sind in Belgien seit je eine Kunst für sich. Fast 500 Tage dauerte es beim letzten Mal, bis mühsam ein Konstrukt aus vier flämischen und drei wallonischen Parteien zusammengezimmert werden konnte. Das Regieren verstand die sogenannte «Vivaldi-Koalition» nach ihrem Antritt 2020 mehr schlecht als recht. Sie hinterlässt vier Jahre später ein chronisches Haushaltsdefizit, eine schwächelnde Wirtschaft, ein von der Pandemie und der Energiekrise erschöpftes Land. Haftengeblieben sind vielen Belgiern auch die Bilder von wild campierenden Asylbewerbern in Brüssel, die ein Symptom der Migrationskrise waren.
All dies sind Einfallstore für den Vlaams Belang. Vor allem aber bewirtschaftet die Partei wie keine andere den flämischen Separatismus. Das Ziel einer Abspaltung Flanderns von Belgien hat sie – anders als ihre grosse Konkurrentin, die Neu-Flämische Allianz (N-VA) – nicht aus den Augen verloren. Eine Zusammenarbeit mit dem ultrarechten «Belang» schlossen auch deswegen alle anderen Parteien aus. Bisher jedenfalls.
Bröckelnde Brandmauer
Der belgische Politologe Dave Sinardet von der Freien Universität Brüssel sieht den sogenannten «cordon sanitaire» mittlerweile bröckeln. Der Begriff stammt aus der Medizin. Er beschreibt die Absperrung eines seucheninfizierten Gebiets und in der Politik die Isolierung eines gemeinsamen Gegners. Im belgischen Parlament hatten sich die Parteien erstmals 1989 abgestimmt, den Vlaams Belang (der damals noch Vlaams Blok hiess) an keiner Regierung zu beteiligen und auch sonst keine Bündnisse mit ihm einzugehen. Doch diesen Konsens, sagt Sinardet, gebe es nicht mehr.
Tatsächlich könnte sich die rechtsbürgerliche N-VA nach den Wahlen am 9. Juni verführen lassen, mit dem Rivalen eine nationalistische Regionalregierung zu bilden. Dann allerdings wäre die N-VA auf nationaler Ebene kein Partner mehr, erst recht nicht für die frankofonen Parteien. Bart De Wever, der Parteichef, müsste sich von seinem Traum verabschieden, eine Staatsreform voranzutreiben und Ministerpräsident zu werden. Doch wie passen die Einwohner eines Landes, das im Süden traditionell sehr links und im Norden immer rechter wählt, überhaupt noch zusammen?
Für Guy D’haeseleer wäre die Auflösung Belgiens ein Glücksfall. «Wir sind zwei unterschiedliche Völker, die nicht zusammengehören. Wir haben keine gemeinsame Geschichte», meint der Vlaams-Belang-Mann. Es sei auch nicht gerecht, dass die Flamen hart arbeiteten und in der Wallonie eine «Hängematten-Kultur» herrsche. Mit dieser Rhetorik greift D’haeseleer auf das geliebte Feindbild eines verschwenderischen Südens zurück. Richtig ist allerdings, dass die Transferzahlungen von Flandern in die wallonische Region seit Jahren steigen und dies viele Flamen wütend macht.
Wird die Brandmauer gegen seine Partei halten? D’haeseleer, der schon vor dreissig Jahren dem Vlaams Blok beitrat, verschränkt bei dieser Frage die Arme. Die Gemeinsamkeiten mit der N-VA seien gross, sagt er. Aber auf kommunaler Ebene stelle sich das Problem ohnehin nicht. «Wir werden für die nächste Bürgermeisterwahl nur 650 Stimmen mehr brauchen. Ich habe kein Zweifel, dass wir das schaffen und so ein Signal setzen. Ninove wird der erste Dominostein sein, der fällt.»
Ein rassistischer Witz
De Wever erklärte vor einigen Jahren D’haeseleer zur Persona non grata, nachdem dieser auf seiner Facebook-Seite für die Zubereitung einer Schokoladenmousse geworben und dazu ein Foto von afrikanischen Kindern veröffentlicht hatte. Mit diesem «harmlosen Scherz» sei er missverstanden worden, erklärt D’haeseleer. Er sei kein Rassist. Politische Gegner und die Medien hätten die Sache aus dem Zusammenhang gerissen.
Aber womöglich hat gerade sein trotziger Umgang mit der Affäre (entschuldigen wollte er sich nicht) D’haeseleers Beliebtheit in Ninove gesteigert. Das ist jedenfalls seine eigene Theorie. Denn «übertriebene politische Korrektheit», das wisse er, komme bei den meisten Leuten nicht gut an.
Gegen «wokes Denken» will der Vlaams Belang sogar im grossen Stil vorgehen. «Wir befinden uns in einem Kulturkampf», schreibt der Parteichef Van Grieken in einer Broschüre zur Wahl. Er verspricht, eine Kommission einzurichten, um das flämische Bildungswesen genau unter die Lupe zu nehmen. Er schlägt Meldestellen vor, wo man Themen wie die Gender-Ideologie, Postkolonialismus oder «Angriffe auf Traditionen» anprangern könne, und Disziplinarausschüsse an den Universitäten, wo linke Lehrkräfte bestraft werden könnten.
Der Politologe Sinardet wundert sich nicht, dass der Vlaams Belang so viel Energie in das Thema steckt, weil er genau um dessen Emotionalität weiss. Der harte Ton in der Sache zeige auch, dass die Partei noch immer stramm am rechten Rand operiere und kaum kompromissbereiter geworden sei.