Die ungarische Regierungspartei Fidesz verzeichnet in der Europawahl das schwächste Resultat seit ihrer Rückkehr an die Macht vor vierzehn Jahren. Derweil schafft der Newcomer Peter Magyar eine Sensation. Experten sprechen vom Beginn einer neuen Ära in Ungarn.
Ungarns Regierungschef Viktor Orban sprach von einem Sieg, als er am späten Sonntagabend in Budapest vor die Anhänger seiner Partei Fidesz trat. Das Ergebnis der Europawahl lasse sich in folgendem Telegramm an die EU zusammenfassen: «Migration: Stopp. Gender: Stopp. Krieg: Stopp. Soros: Stopp. Brüssel: Stopp.» Tatsächlich erreichte der Fidesz 44,8 Prozent der Stimmen und gewann damit mit grossem Abstand auf die politische Konkurrenz. Mit Blick auf das Abschneiden der Regierenden etwa in Deutschland oder Frankreich ist das ein Glanzresultat.
In Ungarn sind die Verhältnisse allerdings anders, und das Ergebnis kommt einer schweren Schlappe Orbans gleich. In den vergangenen zehn Jahren kam seine Partei bei landesweiten Urnengängen immer auf knapp die Hälfte der Stimmen oder mehr. Seit der Fidesz vor 14 Jahren nach einem Erdrutschsieg die Macht übernommen hat, hat er nie so schwach abgeschnitten wie am Sonntag. Bei der Parlamentswahl 2014 hatte er ebenfalls knapp 45 Prozent erreicht, sonst immer deutlich mehr.
Magyar ist noch stärker als erwartet
Ein weiteres Alarmzeichen für Orban ist der Erfolg eines politischen Newcomers: Peter Magyar schaffte mit fast 30 Prozent der Stimmen eine Sensation. Seine erst im April registrierte Partei Tisza schnitt noch stärker ab, als es die Umfragen angedeutet hatten. Der 43-jährige Jurist war bis im Februar selbst Teil des Fidesz-Systems. Er bekleidete hohe Posten in regierungsnahen Betrieben und in der Verwaltung, einer breiteren Öffentlichkeit war er aber höchstens als damaliger Ehemann der früheren Justizministerin Judit Varga bekannt.
Als diese sich im Februar wegen ihrer Mitwirkung bei der Begnadigung in einem Pädophiliefall aus der Politik zurückzog, brach Magyar nicht nur mit dem Fidesz, sondern wandte sich vehement gegen ihn. Seit Wochen geisselt er Korruption und Misswirtschaft der Regierung sowie das Versagen in wichtigen Politikbereichen. In Budapest kamen Zehntausende zu den Kundgebungen Magyars, erstaunlicher aber war, dass er auch in den Fidesz-Hochburgen auf dem Land grosse Menschenmengen anzog.
Die Europawahl bestätigt nun die hohe Mobilisierungsfähigkeit. Magyar sprach deshalb am Sonntagabend vom Anfang vom Ende Orbans, der ein Waterloo erlebt habe. Experten gehen weniger weit, bewerten die Ereignisse aber ebenfalls als Erdbeben. Der Politikwissenschafter Laszlo Keri nannte das Ergebnis gegenüber dem regierungskritischen Portal Telex den Beginn einer neuen Ära in der ungarischen Innenpolitik.
Tatsächlich ist Magyar der ernsthafteste Herausforderer Orbans seit vielen Jahren, gerade weil er sich bürgerlich positioniert und es ihm gelingt, nicht nur in den progressiven Städten Menschen anzusprechen. Ob er dem Ministerpräsidenten tatsächlich gefährlich werden kann, ist aber fraglich. Bisher blieb Magyar in seinen Positionen vage und mied umstrittene Themen. Das wird er nun ändern müssen, was zu Kontroversen führen wird.
Die Stimmen für Tisza kamen zudem vor allem von den gemässigten Oppositionsparteien, die dramatische Verluste hinnehmen mussten und deren Existenz teilweise gefährdet ist. Insgesamt wird die Lage mit Magyar komplizierter, weil das Wahlrecht die heterogene Opposition zur Zusammenarbeit zwingt. Magyar kann dabei nun die Führung beanspruchen, was bei der Konkurrenz nicht auf Begeisterung stossen wird.
Orban wollte Brüssel erobern – nun entscheiden aber andere
Dennoch zeigt die Europawahl Probleme des Fidesz auf. Seine aggressive Kampagne mit der Lüge, die EU könnte ihre Bürger bald zum Kriegsdienst in der Ukraine verpflichten, verfing offenbar ungenügend. Der enorme Erfolg Magyars innerhalb derart kurzer Zeit deutet zudem auf eine hohe Unzufriedenheit auch in den konservativen Reihen hin – etwa mit dem Wirtschaftsgang, den hohen Lebenshaltungskosten und der Misere im Gesundheitswesen. Es besteht daher das Risiko, dass sich weitere Exponenten vom Fidesz-Lager abwenden.
Für Orban hat das Ergebnis aber auch Auswirkungen über die Landesgrenzen hinaus. Der Ministerpräsident hatte angekündigt, in Brüssel nach der EU-Wahl mit erstarkten rechtsnationalen Kräften für eine Veränderung zu sorgen. Dafür wollte er Rückenwind vom stärksten nationalen Ergebnis in der ganzen Union. Nun haben aber die Regierungsparteien in Rumänien (49 Prozent) und Malta (45 Prozent) noch besser abgeschnitten als der Fidesz.
Ausgerechnet die christlichdemokratische Europäische Volkspartei (EVP), von der sich Orban vor drei Jahren nach langem Streit getrennt hat, konnte zudem fast ebenso viele Sitze dazugewinnen wie die beiden nationalistischen Fraktionen zusammen. Zu verdanken hat sie das unter anderem dem guten Abschneiden von Donald Tusks Bürgerkoalition in Polen, die erstmals seit zehn Jahren in einer landesweiten Wahl vor der nationalkonservativen PiS liegt. Damit siegte ein Rivale Orbans um eine Führungsrolle in der EU, während seine Verbündeten vom PiS deutliche Verluste erlitten.
Eine der spannenden Fragen der nächsten Wochen wird sein, welcher Gruppierung sich der Fidesz anschliessen wird. Die Fraktionsbildung des Rechtslagers steht erst ganz am Anfang. Ob eine grosse Vereinigung gelingt, ist offen. Die Partei wäre mit ihren immer noch 11 Mandaten wohl willkommen. Entscheiden werden aber die grossen Wahlsiegerinnen vom Sonntag, Marine Le Pen und Giorgia Meloni – und nicht der geschwächte Orban.