Peking hat Hongkong ein Sicherheitsgesetz aufgezwungen. Seither schrumpft die Autonomie der Sonderverwaltungszone – Peking unterdrückt die Opposition.
Die neusten Entwicklungen
- Die Behörden in Hongkong haben sechs im Exil lebenden Demokratie-Aktivisten die Pässe entzogen. Betroffen ist auch der bekannte Politiker Nathan Law (Law Kwun-chung), der seit 2020 in London lebt. Dies geht aus einer Mitteilung der Regierung in der chinesischen Sonderverwaltungsregion vom Mittwoch (12. 6.) hervor. Hongkongs Sicherheitsbehörde erklärte, die sechs Männer seien nach Grossbritannien geflüchtet. Es lägen Haftbefehle gegen sie vor, weil sie unter Verdacht stünden, Straftaten begangen zu haben, die die nationale Sicherheit gefährden. Die Aktivisten hatten immer wieder den zunehmenden Abbau der Gewaltenteilung und demokratischen Grundrechte in Hongkong angeprangert.
- Zum dritten Mal in Folge haben Hongkongs Behörden die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Massakers am Pekinger Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) unterbunden. Wie in den beiden Vorjahren wurde eine Kerzen-Mahnwache am Jahrestag der blutigen Niederschlagung am 4. Juni 1989 untersagt. Polizisten patrouillierten am Samstag (4. 6.) rund um dem Victoria-Park und riegelten ihn ab. Die Sonderverwaltungsregion war lange der einzige Ort in China, an dem den Opfern des Tiananmen-Massakers gedacht werden durfte. Zehntausende Menschen beteiligten sich in der Regel an der grossen Kerzen-Andacht im Victoria-Park. Im Sommer 2020 führte Peking aber ein harsches Sicherheitsgesetz für Hongkong ein – seitdem wurde auch die Mahnwache nicht mehr zugelassen.
- Der pensionierte Hongkonger Kardinal Joseph Zen und drei weitere Mitglieder der prodemokratischen Bewegung sind festgenommen worden. Wie die Zeitung «South China Morning Post» unter Berufung auf eine Quelle berichtete, wurden am Mittwoch (11. 5.) neben Zen auch die ehemalige Oppositionsabgeordnete Margaret Ng und die Sängerin Denise Ho wegen angeblicher «Absprachen mit ausländischen Kräften» festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, gegen das umstrittene nationale Sicherheitsgesetz verstossen zu haben. Zen soll nach Zahlung einer Kaution inzwischen wieder in Freiheit sein.
- Der ehemalige Sicherheitsminister John Lee ist als nächster Regierungschef für Hongkong bestätigt worden. Am Sonntag (8. 5.) stimmte ein Peking-treues Wahlkomitee mit rund 1500 Mitgliedern über die Nachfolge der scheidenden Regierungschefin Carrie Lam ab. Bei der Scheinwahl trat John Lee als einziger Kandidat an. Der 64-Jährige gilt als politischer Hardliner und ist berüchtigt für seine absolute Loyalität gegenüber der chinesischen Zentralregierung. In Hongkong ist er wegen seiner aktiven Rolle bei der Niederschlagung der pro-demokratischen Demonstrationen 2019 umstritten. Hier geht es zum Porträt von John Lee
Im Sommer und Herbst 2019 gab es in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong heftige Proteste gegen die Peking-nahe Regierung. Gefordert wurden mehr demokratische Rechte für die Bürgerinnen und Bürger. Zunächst waren die Demonstrationen friedlich. Dann kam es regelmässig zu schweren Ausschreitungen. Die Polizei ging mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor.
Auslöser für die Proteste war ein vorgeschlagenes Auslieferungsgesetz über flüchtige Straftäter und Rechtshilfe in Strafsachen, das Auslieferungen von Häftlingen an die Volksrepublik China ermöglichen sollte. Die Regierungschefin Carrie Lam nahm das Auslieferungsgesetz zwar zurück. Im Juni 2020 verabschiedete der chinesische Volkskongress dann aber ein Sicherheitsgesetz für Hongkong. Dieses stellte zahlreiche Aktivitäten der Opposition unter Strafe.
Im März 2021 beschloss Peking auch ein neues Wahlrecht, das in Hongkong die Demokratie weiter einschränkt. Peking erhält dadurch mehr Kontrolle über die Zusammensetzung des Parlaments in der Sonderverwaltungszone. Am 19. Dezember 2021 fanden die ersten Parlamentswahlen, zu denen nur noch «patriotische» Kandidaten zugelassen werden, statt. Demokratieaktivisten forderten Hongkonger auf, die Wahlen zu boykottieren. Dementsprechend fiel auch die Wahlbeteiligung mit 30,2 Prozent tief aus.
Für März 2022 sind nun die Wahlen des Regierungschefs oder der Regierungschefin vorgesehen. Die amtierende Regierungschefin Hongkongs Carrie Lam verhält sich bisher über eine Kandidatur für eine zweite Amtszeit zurückhaltend.
Peking schaute mit Sorge auf die Demonstrationen für mehr Freiheit und Demokratie in Hongkong. Gewalttätige Demonstranten verbrannten die chinesische Staatsflagge und bewarfen die Ständige Vertretung Pekings in der Stadt mit schwarzer Farbe – für die chinesische Regierung sind das unentschuldbare Provokationen. Vertreter Pekings haben die Demonstranten wiederholt als Terroristen bezeichnet.
Das Gesetz über nationale Sicherheit hatte zum Ziel, in Hongkong wieder Stabilität herzustellen. Das Gesetz ist am 1. Juli 2020 in Kraft getreten. Daraufhin kam es zunächst erneut zu Protesten.
Das Sicherheitsgesetz ist schärfer ausgefallen als erwartet. Es richtet sich gegen Aktivitäten, die Peking als umstürzlerisch, separatistisch, terroristisch oder verschwörerisch ansieht. Obwohl den Hongkongern beim Souveränitätswechsel 1997 Freiheitsrechte und Autonomie garantiert wurden, können chinesische Stellen in Hongkong künftig eigenmächtig Ermittlungen durchführen und Rechtshoheit ausüben. Das Oberste Gericht Chinas kann «komplizierte» Fälle, in denen es beispielsweise um ausländische Einmischung geht, an eine Staatsanwaltschaft und ein Gericht in der Volksrepublik überweisen. Damit werden Verdächtige der chinesischen Justiz ausgeliefert – ähnlich wie im für nichtig erklärten Auslieferungsgesetz geplant.
Das Gesetz richtet sich unter anderem gegen «Abspaltung» oder «Untergrabung der nationalen Einheit». Es werden Bemühungen genannt, eine Unabhängigkeit Hongkongs oder anderer Gebiete anzustreben, die Peking als Teil der Volksrepublik ansieht. Damit kann es auch um Taiwan, Tibet oder Xinjiang gehen. Bestraft wird auch die «Untergrabung der Staatsgewalt», was heute in der Volksrepublik schon im Umgang mit Bürgerrechtlern sehr weit interpretiert wird – etwa wenn die Zentralgewalt mit Forderungen nach Demokratie infrage gestellt wird.
Ferner richtet sich das Gesetz gegen «terroristische Aktivitäten». Dazu zählen Gewalt gegen Personen, Brandstiftung und die Zerstörung von Transporteinrichtungen. In diese Kategorie gehört damit auch Vandalismus in U-Bahn-Stationen wie bei den Ausschreitungen im vergangenen Jahr. Das Gesetz bestraft auch «geheime Absprachen» mit Kräften im Ausland. Es kann sich auf den Ruf nach Sanktionen oder auf «feindliche Aktivitäten» gegen Hongkong oder China beziehen. Als Höchststrafe für die genannten Delikte ist lebenslange Haft vorgesehen.
Die Regierungschefin Carrie Lam hat versucht, die Kritiker zu beschwichtigen: Das Sicherheitsgesetz ziele nur auf eine «Handvoll von Gesetzesbrechern». Die Werte und die Freiheiten Hongkongs würden bewahrt, wie auch die Unabhängigkeit der Hongkonger Justiz.
Doch bereits nach wenigen Monaten wurde klar, dass das Gesetz darauf abzielt, die demokratische Opposition in Hongkong und ihre Unterstützer auszuschalten. In den zwölf Monaten seit dem Erlass des Gesetzes haben die Behörden insgesamt über 120 Personen wegen angeblicher Verstösse gegen das Gesetz festgenommen. 60 von ihnen wurden angeklagt, unter ihnen prodemokratische Politiker, Aktivisten, Journalisten und Studierende. Dutzende wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie Proteste oder Gedenkfeier organisiert, daran teilgenommen, oder aus Social Media dafür geworben hatten.
Der 24-jährige Tong Ying-kit war der erste Aktivist, der Ende Juni 2021 auf Grundlage des Sicherheitsgesetzes verurteilt wurde. Wenige Stunden nach Inkrafttreten des Gesetzes war Tong am 1. Juli vergangenen Jahres bei Protesten mit seinem Motorrad in eine Polizeisperre gefahren, danach wurde er festgenommen. Er hatte eine Flagge mit dem Slogan der Protestbewegung «Befreit Hongkong – Revolution unserer Zeit» dabei. Tong muss neun Jahre ins Gefängnis.
Längst zeichnet sich ab, dass Hongkongs Autonomie wachsender autoritärer Kontrolle weichen muss. In der einstigen Bastion für Medienfreiheit Hongkong hat die Regierung die prodemokratische Zeitung «Apple Daily» finanziell ausgetrocknet, ihre führenden Köpfe, Journalisten und Redaktoren verhaftet. Ende Juni erschien die Zeitung zum letzten Mal. Das Schicksal teilen auch weitere unabhängige Medien. Peking-kritische Bücher wurden aus den Bibliotheken verbannt. Die Polizei setzt Spitzel-Hotlines ein.
Die jährliche Gedenkdemonstration für die Opfer des Tiananmen-Massakers war 2021 verboten, offiziell aufgrund der Coronavirus-Pandemie. Universitäten entfernten Statuen, die an die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 in China erinnerten. Im Dezember wurden Dutzende Aktivisten zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie an einer verbotenen Gedenkfeier für die Verstorbenen des Tiananmen-Massakers teilgenommen hatten.
Die Wirtschaft Hongkongs hat sich seit dem sogenannten Sicherheitsgesetz hingegen erholt.
Mit einer Reform des Wahlrechts vom März 2021 schränkt China die Demokratie in Hongkong deutlich ein. Das neue Gesetz ermächtigt ein Komitee, die Kandidatinnen und Kandidaten für wichtige politische Ämter auszuwählen. Das prodemokratische Lager ist dadurch chancenlos. Auch im Hongkonger Parlament gibt es nur noch das Peking-treue Lager. Wahlkandidaten müssen «patriotisch» korrekt auf Linie sein, sonst dürfen sie gar nicht erst antreten.
Die neuen Regeln sehen zudem vor, dass das Hongkonger Parlament vergrössert wird, die Zahl der direkt von der Bevölkerung gewählten Abgeordneten aber massiv verringert wird. Bisher war die Hälfte des Legislativrats direkt gewählt worden. Der chinesische Volkskongress hiess die Wahlrechtsreform gut. Die chinesische Staats- und Parteiführung hat die Wahlrechtsänderung für Hongkong Ende März 2021 offiziell in Kraft gesetzt.
Seit dem 1. Juli 1997 gehört Hongkong wieder zu China und wird nach dem Grundsatz «Ein Land, zwei Systeme» als eigenes Territorium regiert. Diese Vereinbarung sieht eigentlich vor, dass die sieben Millionen Hongkonger bis 2047 «ein hohes Mass an Autonomie» und viele Freiheiten geniessen. Seit der Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes sagen viele aber nur noch: «Ein Land, ein System.»
Experten von Menschenrechtsorganisationen sagen, dass Hongkong schrittweise zu einer weiteren chinesischen Wirtschaftsmetropole umfunktioniert werden soll, ähnlich wie Schanghai: wirtschaftlich prosperierend, politisch kontrolliert. Das ist bereits zum Teil Realität geworden.
Noch verfügt Hongkong über eine lebendige Zivilgesellschaft. Doch Kritiker sagen, dass das Gesetz die Meinungsfreiheit einschränke und Proteste unterbinde, weil es Angst verbreite. Das Gesetz habe Hongkong das chinesische Strafrecht aufgezwungen und das Justizsystem gekapert. Wie die «Washington Post» in einer Recherche herausgefunden hat, gibt es zum Beispiel bereits Anzeichen dafür, dass digitale Überwachung und Zensur langsam in Hongkong Einzug halten. China sagt, das Gesetz habe Hongkong wieder Stabilität gebracht.