Italiener mit Wohnsitz in der Schweiz mussten für die EU-Parlaments-Wahlen in der Heimat abstimmen. Aber macht das noch jemand? Eine Reise an die Wahlurne.
Und mit einem Schlag ist es wieder da: das Bewusstsein, dass man eigentlich nicht von hier ist. Dass die Wurzeln tief im Süden liegen, in einem kleinen Dorf auf einem Hügel.
Eine weisse, unscheinbare Postkarte mit dem rot abgestempelten «Poste Italiane» mischt sich von Zeit zu Zeit unter die reguläre Korrespondenz. Vor dem inneren Auge ruft sie Bilder in Schwarz-Weiss hervor, von überfüllten Zügen mit Saisonniers, die abreisen, einreisen und meist – ob hier oder dort – Familienangehörige zurücklassen.
Die Karte erreicht die Italienerinnen und Italiener in der Schweiz in regelmässigen Abständen, also all jene, die im Melderegister des italienischen Staates erfasst sind, und lädt sie ein, in ihrem Heimatort ihr Stimm- und Wahlrecht wahrzunehmen.
«Früher, ja, da gingen wir wählen», erzählt mir Giuseppe, ein Italiener aus der Nachbarschaft. Mitte der fünfziger Jahre ist er in die Schweiz gekommen, als einer von Hunderttausenden Arbeitsmigranten, die zum schweizerischen Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegsjahre beigetragen haben. 1975 waren es 570 000.
«Heute machen die italienischen Staatsbürger in der Schweiz etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus, Tendenz steigend», sagt Fiorenzo Zampini, Chef des Konsulats der italienischen Botschaft in Bern. «Es sind längst nicht nur Handwerker, sondern vor allem gut ausgebildete Leute, teilweise mit mehreren Hochschulabschlüssen, die auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz kommen.»
Auch Giuseppe kam deshalb. Bleiben wollte er nicht. Die Gastarbeiter schliesslich, wie das Wort impliziert, reisen irgendwann wieder ab. Es kam anders, Giuseppe ist dann doch geblieben. Er erinnert sich: «Für die Wahlen gab es früher Extrazüge bis nach Catania, die Reise war bezahlt, so nutzte die ganze Familie die Gelegenheit, auf Kosten des Staats nach Hause zu reisen. Das war ein Fest.»
Auch die Frauen gingen an die Urne, Italienerinnen sind seit 1946 stimmberechtigt. Seit einigen Jahren geht Giuseppe nicht mehr wählen. Giuseppe ist älter geworden. Und Reisen beschwerlicher. «Seit 2001 können wir brieflich abstimmen. Nur für gewisse Wahlen muss man nach Italien reisen.» Die EU-Parlaments-Wahl ist eine solche Ausnahme.
Zwischen Heimat und Herkunft
Auch Giuseppes Kinder werden die Einladung erhalten haben, sofern ihre Adresse gemeldet ist. Die Secondos, wie man sie nennt, sind heute pensioniert oder stehen kurz davor. Ihre Integration lag am Herzen, gab zu reden, wenn sie misslang. Ihre persönlichen Geschichten aber sind geprägt von einer unglücklichen Kindheit, nicht wenige von ihnen mussten sich, während die Eltern arbeiteten, in den Wohnungen versteckt halten. Der Familiennachzug für Saisonniers war verboten.
Der Solothurner Autor Franco Supino, der in seinen Texten die Themen Migration und Heimat aufgreift, war selbst eines dieser «versteckten» Kinder. Der Einladung des Staates, in Italien sein Wahlrecht wahrzunehmen, ist er bis jetzt noch nie gefolgt. Weder bei Kommunalwahlen noch bei Wahlen für das Europaparlament: «Es wäre für mich merkwürdig, wenn ich in meinem Heimatdorf politisch mitreden würde», sagt er und fügt hinzu: «In einem Land im Übrigen, das von einer Regierungschefin mit faschistischen Wurzeln und rechtsextremen Überzeugungen regiert wird.»
Selbst wenn man der Einladung nicht folgt: Die Karte ist neben dem Namen die einzige sichtbare Verbindung zur Herkunft.
Diese wurzelt meistens in einem Dorf im Süden, seit vielen Jahrzehnten gezeichnet von der Auswanderung der jungen Bevölkerung. Häuser stehen leer, das Land hat an Wert verloren. Nun scheint sich eine neue Entwicklung abzuzeichnen. Angeblich kaufen Leute aus England, Irland und der Schweiz die heruntergekommenen Immobilien. Leute, die es sich leisten können, die Häuser zu renovieren.
Christa aus der Ostschweiz, die mir auf dem Weg nach Sizilien begegnet, ist eine von ihnen. In der Nähe von Pozzallo hat sie sich nach ihrer Pension ein Haus gekauft, wo sie seither lebt. «Ich habe das beste Leben, das man sich wünschen kann. Mir fehlt es an nichts.» Es waren die langen und kalten Winter in der Schweiz, die ihr zusetzten. «Die Menschen sind alle sehr hilfsbereit.» Sie habe vier Strassenhunde aufgenommen und engagiere sich für den Tierschutz.
Die Suche nach einem geeigneten Haus mit etwas Land habe sie anfangs in der Toskana begonnen. «Aber dort ist das Wetter im Winter auch nicht besonders gut.» So habe sie sich immer weiter südlich begeben über Apulien bis nach Sizilien, bis Preis und Angebot für sie übereinstimmten. Inzwischen hat sie auch Familienangehörige überzeugt. Ganz in der Nähe hätten diese nun ebenfalls ein Haus gekauft.
Hoffnung Tourismus
Südlich der Meerenge von Messina herrscht Trockenheit, seit Monaten kein Regen. Die Produzenten in der Landwirtschaft bibbern um ihre Ernte. Stattdessen floriert der Tourismus. Menschenmassen auf der Piazza del Duomo in Catania.
Geradezu gähnend ist im Vergleich dazu die Leere im Hauptbüro der Stadtverwaltung, die sich in einem Innenhof direkt daneben befindet. «Wollen Sie Stimmenzählerin werden?», fragt einer der beiden Polizisten in Uniform und mit dem üblichen Berufsstolz zur Begrüssung.
Ab dem Nachmittag finden hier die Wahlen statt. Auf die Frage, wie viele Menschen erwartet werden, zieht er die Mundwinkel nach unten, senkt den Kopf und lässt die Sonnenbrille die Nase hinunterrutschen. Über den Brillenrand schauend, ein lang währender kritischer Blick. «Es wird kaum Menschen haben.»
Ob links oder rechts, die Menschen hätten kein Vertrauen mehr in die Politik. Und die Jungen kein Interesse. «Warum? Weil die erhofften Resultate in der Folge jedes Mal ausbleiben. Der ganze Reichtum und die Schönheit, die wir haben, haben wir von Gott erhalten. Und wir sind offenbar nicht fähig, gut dazu zu schauen.»
Der Polizist schwärmt von der Natur, dem Meer, dem Vulkan, der Möglichkeit, Strandferien mit Skifahren zu verbinden. Obwohl dieses Jahr der Zuckerguss auf der Spitze des Kraters fehlt. «Die Menschen, die die Fähigkeit haben, auch nur zwanzig Jahre in die Zukunft zu denken, wie es Silvio Berlusconi konnte, das sind nur wenige.»
Dass es einen Wandel brauchte, wird aus seinen Worten klar. «Wer soll diesen anstossen, wenn die hellen Köpfe alle gehen? Hier finden sie keine Arbeit. Nicht die Politik, nicht die Wirtschaft sind fähig, die jungen Menschen hierzubehalten.»
Enttäuschte junge Menschen
Unweit des Zentrums nehmen die Strandbäder am Wahlwochenende ihren Betrieb auf. Arbeitsplätze für eine Saison, die von Anfang Juni bis September dauert. Hinter der Theke einer Strandbar zwei junge Menschen, geschätzt keine 30 Jahre alt. Auf die Frage nach der Wahlbeteiligung antwortet der Verantwortliche der Bar: «Klar gehen wir wählen, wir müssen. Schliesslich geht es um die Leute, die unsere Zukunft gestalten. Aber es ist jedes Mal ein Reinfall.»
Ist er enttäuscht? «Ziemlich. Ich war mehrere Jahre im Ausland, dort ging es mir besser, ich hatte Arbeit. Aus privaten Gründen musste ich zurückkommen.» Dass er die Kommunalwahlen meint, wird erst im Verlauf des Gesprächs klar. Und für die EU-Parlaments-Wahlen? «Wann die wohl sind? Ich weiss es gar nicht.»
Einige hundert Meter entfernt, auf Plastikstühlen an Plastiktischen, ein Mann, gegen 80 Jahre alt, braungebrannt in weissem T-Shirt, die dunkle Brille durch eine Brillenkette gesichert: «Irma, gehst du wählen?» «Heute Abend», antwortet die weisshaarige Frau mit Haarreif. «Und wen wählst du?», will er wissen.
Es ist eine Clique von älteren Catanesen, die vom Start der Saison an hier sind. Sie werden die Letzten sein, die ihre gemietete Kabine vor der Schliessung im September räumen werden. Sie diskutieren laut und scherzen, Gelächter. «Chinnici zum Beispiel», setzt er an. Caterina Chinnici, die Tochter eines von der Mafia ermordeten Richters, war von 2014 an als Mitglied der Mitte-links-Partei Partito Democratico im EU-Parlament. Kürzlich ist sie zu Forza Italia gewechselt, der von Berlusconi gegründeten Mitte-rechts-Partei. Das irritiert, macht sie für manche Wähler unglaubwürdig.
Unglaubwürdig sei der ganze Wahlkampf, meint eine in der Schweiz aufgewachsene Gymnasiallehrerin für Deutsch in Catania. «Sie haben die EU-Wahlkampagne missbraucht für einen nationalen Parteienkampf. Bei diesen Wahlen aber hätte es vielmehr um eine ideelle Ausrichtung auf übergeordneter Ebene gehen sollen.»
Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sie an ihrem Gymnasium erlebe, hätten kaum Visionen und Ziele, kaum ein Bewusstsein für Politik. «Covid hat diese Tendenz verstärkt. Es geht nur um sie selbst, wo sie essen gehen, wo sie ausgehen, welche Nachricht sie übers Handy gerade erreicht.»
«Niemand hat meine Stimme verdient»
Keine Autostunde entfernt im Hinterland, in einem der vielen Auswandererdörfer: Die Gemeindeverwaltung hat an den beiden Wahltagen von 7 bis 23 Uhr geöffnet. Die Aushändigung des Stimmrechtsausweises dauert länger: «Die Abteilung des Melderegisters mit den Auslanditalienerinnen ist bei uns sehr gross», so die Begründung der Wartezeit. Heute sei dies nämlich die erste Karte aus dem Ausland.
«Vereinzelt kommt jemand aus der Schweiz wählen, wenn er oder sie sowieso gerade hier ist. Extra aber nimmt die Reise niemand auf sich. Heute gibt’s auf die bereits teuren Zugtickets höchstens eine Vergünstigung. Man muss aber innerhalb eines bestimmten Zeitfensters reisen.»
Für die Studierenden ist es dieses Jahr zum ersten Mal möglich, von irgendwo in Italien aus zu wählen. Man muss aber einen Monat im Voraus die briefliche Stimmabgabe aktiv beantragen.» Dass Fabbrizio, um die 30 Jahre alt, gerade während der Wahlen mit seiner Schweizer Partnerin in seinem Heimatdorf ist, stellt sich als Zufall heraus. Seit drei Jahren im solothurnischen Biberist wohnhaft, antwortet er erstaunt: «Ich wählen? Ich mache Ferien!»
Vittorio, Ende fünfzig, Wohnsitz in Zürich, treffe ich auf der Rückreise. Auch er hat gerade sein Heimatdorf verlassen, nach zehn Tagen bei seinen Eltern. «Es fällt mir jedes Mal schwer, abzureisen», sagt er. Aufgewachsen sei er bei seiner Grossmutter in Sizilien. «Mit vierzehn Jahren hat man mich in die Schweiz gebracht, zu meinen Eltern.» Heute fühle er sich hin- und hergerissen zwischen seinen Eltern in Sizilien und seiner Familie in der Schweiz. «Ich werde älter, das Pendeln wird nicht einfacher.»
Ob er sein Wahlrecht wahrgenommen habe? «Wählen? Keinesfalls gebe ich jemandem von diesen Politikern meine Stimme. Die Politiker sind schuld, dass wir auswandern mussten. Sie haben es nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass es in unserem Land genügend Arbeit hat.»
Nein, niemand von ihnen habe seine Stimme verdient, sage er. Dankbar hingegen sei er für all das Gute, was er in der Schweiz gefunden habe.
Vanessa Simili ist freischaffende Journalistin und lebt in Bern.