Kiew freut sich über eine positive Schlusserklärung der Schweizer Friedenskonferenz. Doch Kommentatoren kritisieren auch grobe Auslassungen und die westliche Realpolitik.
Nach der Konferenz zum Frieden in der Ukraine auf dem Bürgenstock wirken die Kiewer Politiker und Kommentatorinnen etwas unschlüssig. Hat ihr Land einen grossen diplomatischen Erfolg errungen, indem sich 78 Staaten und 4 internationale Organisationen hinter ein klar proukrainisches Schlussdokument stellten? Oder haben sich die Ukrainer auf einen abschüssigen Pfad begeben, auf dem sie zunehmendem internationalem Druck ausgesetzt sind, Zugeständnisse an Russland zu machen?
Wolodimir Selenski kommentierte den Ausgang deshalb auffallend nüchtern. «Ein Dialog fand statt», resümierte der Präsident. «Und er kann praktische Folgen haben.» Selenski dankte den Unterzeichnerstaaten dafür, dass sie den sicheren Betrieb des Atomkraftwerks Saporischja unter ukrainischer Kontrolle, freie Fahrt für Schiffe mit Lebensmitteln im Schwarzen Meer sowie die Rückkehr aller Kriegsgefangenen und von Russland entführten Zivilisten forderten.
Schlussdokument und Friedensgespräche ohne Inhalt?
Eher regierungsfreundliche Stimmen freuen sich, der Gipfel habe ein Zeichen der breiten internationalen Unterstützung gesendet. «Unsere Verbündeten auf der Welt aufzureihen, ist eindeutig eine positive Sache», schreibt etwa die News-Website rbc.ua. Jenen Staaten, die das Schlussdokument nicht unterzeichneten, hält das Portal zugute, sie wollten sich als zukünftige Vermittler positionieren. Weniger nachsichtig zeigt sich der Beobachter Olexander Kowalenko. Die sogenannten Brics-Länder nennt er «Mitglieder eines bedeutungslosen Klubs der Demagogen», die aus Angst vor Russland schwiegen.
Unterschiedlich bewerten die ukrainischen Kommentatoren auch die generelle Sinnhaftigkeit eines solchen Gipfels. Die offizielle Seite folgt dabei der Schweizer Linie, wonach es gut sei, einen Gesprächsprozess anzustossen. Die Ukrainer versuchen dabei auch, die Verdienste der eigenen Diplomatie hervorzuheben: In den Medien wird Kiew oft als primärer Organisator genannt, Bern tritt in die zweite Reihe zurück.
Hart ins Gericht mit dem Bürgenstock geht ein Kommentator des für eher nationalistische Positionen bekannten Portals censor.net. Es sei ja schön, dass die Teilnehmer beim gemeinsamen Foto spontan «Ruhm der Ukraine» gerufen hätten, schreibt Olexander Tschebanenko. Dies nütze seinem Land aber wenig, wenn das Abschlussdokument nicht einmal die Forderung nach einem Abzug der russischen Truppen erwähne. Die Konferenz habe keinen wirklichen Inhalt gehabt, meint er harsch.
«Glory to Ukraine! Glory to Heroes!»
Canadian Prime Minister Justin Trudeau exclaimed the slogan during a photo shoot of the Peace Summit participants in Switzerland. pic.twitter.com/CaZfNM6RmT
— NEXTA (@nexta_tv) June 16, 2024
Der ehemalige Aussenminister Wolodimir Ohrisko gibt immerhin zu bedenken, am Gipfel hätten Staaten aus allen Weltregionen «normale Lebensprinzipien und nicht die Philosophie von Banditen» unterstützt. Der 68-Jährige fragt sich aber auch, wie viel «schöne Erklärungen» über Dialog und Frieden bringen, wenn Wladimir Putin am Vortag der Konferenz klarmache, Russland akzeptiere nur eine faktische ukrainische Kapitulation.
Umstrittene Rolle Russlands und Chinas
Ohrisko ärgert sich auch darüber, dass Bundespräsidentin Amherd mehrfach wiederholt habe, die Friedenskonferenz wolle direkte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine vorbereiten. «Man setzt sich mit Kriegsverbrechern nicht an einen Tisch», schreibt der ehemalige Politiker. Der Westen stelle das Ende der Kämpfe über die zivilisatorischen Werte, für welche die Ukraine kämpfe. «Das ist ein katastrophaler Fehler.»
Zwar schliessen die meisten öffentlichen Stimmen direkte Verhandlungen aus, solange Russland seine Angriffe nicht einstellt. Und doch scheint der Druck, genau dies zu tun, inzwischen auch in Kiew angekommen zu sein. Bemerkenswerterweise bestätigte Andri Jermak, der äusserst einflussreiche Leiter von Selenskis Präsidentenbüro, man denke zusammen mit den Verbündeten darüber nach, wie Moskau in einen nächsten Gipfel eingebunden werden könne.
Die Machbarkeit und der Zeitplan solcher Gespräche mögen völlig unklar sein. Doch die Aussage zeigt, dass Länder wie Saudiarabien, Brasilien und China über Alternativen zu Selenskis Friedensformel nachdenken und dabei auch versuchen, Kiew an Bord zu behalten.
Pawlo Klimkin, der nach der Maidan-Revolution fünf Jahre lang Aussenminister war, betont in einem Kommentar für das Portal New Voice die Rolle Pekings: Die Chinesen blieben momentan zwar noch im Hintergrund, führten aber mit allen Seiten Gespräche. «Sie sind die Einzigen, die Einfluss auf Putins Position nehmen können», schreibt Klimkin. Die Frage, ob sie diesen im Interesse der Ukraine einsetzen, beantwortet er nicht.