In China haben zwei von fünf Kindern und Jugendlichen starkes Übergewicht. Besuch in einem Lager, in dem junge Chinesinnen und Chinesen den Umgang mit ihren Körpern lernen.
Lu Tongjin ist 157 Zentimeter gross und wiegt 103 Kilogramm. Ihr Gesicht ist aufgedunsen, die Augen eingerahmt von Fettpolstern, ihr Leib mächtig – Lu hat die Figur einer Ringerin. Doch damit soll jetzt Schluss sein.
Eine Reise von zehntausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. So lautet ein altes chinesisches Sprichwort. Lu hat den ersten Schritt gerade getan, und es ist, wie so oft bei einem Neuanfang, der schwerste.
«Es ist so hart», klagt die 14-jährige Schülerin aus Shenzhen im Süden Chinas. «Ich konnte mich kaum auf dem Laufband halten», sagt Lu, als sie über den ersten Tag ihres Trainings spricht. «Ich fühle mich einfach elend.»
Am 3. Mai hat Lu mit einem mehrmonatigen Programm begonnen, das ihr helfen soll, Gewicht zu verlieren. «Ich hatte lange darüber nachgedacht, mein Leben zu ändern», sagt Lu, «konnte mich aber nicht dazu durchringen. Doch irgendwann habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten.»
Strenge Diätpläne und intensives Training
Die Sunshine Group in Shenzhen betreibt landesweit dreissig Zentren, in denen krankhaft übergewichtige Kinder und Jugendliche mithilfe von strengen Diätplänen und intensiven Sporttrainings dazu gebracht werden sollen, in relativ kurzer Zeit kräftig abzunehmen.
Lu hat sich angemeldet. Sie wird die nächsten Monate in einem Lager der Sunshine Group in Shenzhen verbringen. Ihr persönlicher Trainer hat ihr vorgerechnet, dass sie – Disziplin vorausgesetzt – innerhalb von fünf Monaten fünfzig Kilogramm verlieren kann.
«Meine Eltern haben mich unterstützt, als ich ihnen sagte, dass ich abnehmen will», sagt Lu. Ihr Übergewicht macht der jungen Chinesin sichtlich zu schaffen. Lu spricht leise und schaut ihren Gesprächspartner nicht an, als sie in der Lobby des Zentrums in Longhua von ihren Gewichtsproblemen erzählt. Sie schämt sich, so wie Millionen andere übergewichtige junge Chinesinnen und Chinesen.
Im Jahr 2000 galten gemäss einer Studie des medizinischen Fachjournals «The Lancet» 8,8 Prozent aller Chinesinnen und Chinesen im Alter von bis zu 19 Jahren als übergewichtig oder adipös. In den folgenden zwanzig Jahren explodierte die Zahl um 400 Prozent. Im Jahr 202o galten 37,9 Prozent aller Kinder und Jugendlichen als übergewichtig oder adipös, mehr als in jedem westlichen Land. Bis 2030 könne der Anteil auf 60 Prozent steigen, so die Autoren der Studie.
Rasanter Zuwachs an Wohlstand
Die Gründe für die enorme Zunahme sind vielfältig. Sicherlich gehört zu den Ursachen der rasant gestiegene Wohlstand während der vergangenen Jahrzehnte. Doch auch die inzwischen abgeschaffte Einkindpolitik spielt eine Rolle. Im Jahr 2020 gab es in China 200 Millionen Einzelkinder.
«Die Eltern verwöhnen ihr einziges Kind, indem sie ihm beispielsweise zu viel Taschengeld geben», schreiben die Wissenschafter Zhu Zhenggang und Ping Yin in einem Aufsatz aus dem vergangenen Jahr, «damit kaufen sie dann Snacks, Süssigkeiten und Softdrinks.» Dazu komme ein ungesunder Medienkonsum; die jungen Menschen verbrächten viel zu viel Zeit mit ihren Handys auf dem Sofa.
Lu Tongjin weiss, dass ihre ungesunde Ernährung eine der Ursachen ihres enormen Übergewichts ist. «Ich habe viel zu viel gegessen», sagt die Schülerin, «hauptsächlich Snacks und Fast Food, das ich mir nach Hause bestellt habe.»
Viele Eltern schauen weg
Han Junchen, der 41-jährige Gründer der Sunshine-Gruppe, gibt den Eltern eine Mitschuld an den Gewichtsproblemen ihrer Kinder. «Viele Eltern schauen einfach weg», sagt Han, «manche sind auch selbst übergewichtig.»
In vielen städtischen Familien wird heute nicht mehr gekocht. Stattdessen bestellen immer mehr Chinesen bei einem der vielen Lieferdienste Fast Food. Gesunde Ernährung sieht anders aus.
Lu hat bei Sunshine zunächst ein Trainings- und Diätprogramm für einen Monat gebucht. Doch mit grosser Wahrscheinlichkeit wird sie verlängern. Schliesslich will Lu ihr Idealgewicht von 53 Kilogramm erreichen.
Ihr tägliches Training verrichtet die Jugendliche in einem Fitnessraum mit den Ausmassen eines Fussballfelds. An einem Ende der Halle befindet sich eine Freifläche für Gymnastikübungen, dahinter steht eine Reihe mit Laufbändern. Dann folgen mehrere Reihen mit Trainingsgeräten, unter anderem Hanteln, Boxsäcke und Rudergeräte.
Bilder mit Erfolgsgeschichten
An den Wänden des Fitnessraums hängen zur Motivation Bilder mit Erfolgsgeschichten. Ein Kursteilnehmer hat bei Sunshine angeblich 55 Kilogramm abgenommen, ein Mädchen mit dem Familiennamen Li hat es geschafft, sein Gewicht um 34 Kilogramm zu reduzieren.
Shu Yuying ist seit drei Jahren Trainerin bei Sunshine in Shenzhen. Neuankömmlinge führt die gertenschlanke Chinesin zunächst spielerisch an die Übungen heran, etwa durch kurze Laufspiele wie Fangen. «Erst nach einigen Tagen beginnen wir mit dem eigentlichen Training», sagt Shu.
Die Kursteilnehmer trainieren dann morgens und nachmittags je dreissig Minuten auf den Laufbändern. In den darauffolgenden Wochen fährt Shu das Pensum auf je drei Stunden Training am Vormittag und am Nachmittag hoch. Ab dann verlieren die Teilnehmer spürbar an Gewicht. Pro Monat könne man zehn Prozent seines Körpergewichts abbauen, sagt Shu.
Die Trainerin führt in einen kleinen Raum im hinteren Teil des Fitnessraums. An den Wänden hängen Fotos von menschlichen Körpern, die den Kursteilnehmern eine richtige Körperhaltung veranschaulichen sollen, ausserdem grafische Darstellungen, in denen jeder Muskel des Menschen bezeichnet ist. Neben den Schautafeln steht eine Waage – das Gerät, vor dem sich viele Neuankömmlinge am meisten fürchten.
Vermessung am Beginn des Kurses
In dem Zimmer vermessen die Mediziner von Sunshine beim Kursbeginn die Teilnehmer: Körpergrösse, Gewicht, Blutzucker, Blutfett und Körperfett. «Diese drei Werte sind fast noch wichtiger als das Gewicht», erklärt Shu, geben sie doch besseren Aufschluss über den Gesundheitszustand.
Während des gesamten Kurses werden die Messungen jede Woche wiederholt. Ergänzt wird das Training durch eine strenge Diät. Bei Sunshine wird ohne Öl und Zucker gekocht, ausserdem gilt für die gesamte Kursdauer ein strenges Verbot von Süssigkeiten.
Lu Tongjin muss sich an die Diät noch gewöhnen. Morgens gebe es nur ein Stück Brot und ein Ei, sagt die Chinesin, mittags verschiedene Gemüse, Suppe und Reis. «Ich habe so einen Hunger», klagt Lu. Doch sie schafft es, sich zu beherrschen. Die Portion Reis esse sie nur zur Hälfte, sagt Lu.
Magenverkleinerung als Abkürzung
Es gibt übergewichtige Chinesinnen und Chinesen, die sich den anstrengenden Weg zur Traumfigur sparen möchten. Sie versuchen es mit Medikamenten oder einer Magenverkleinerung. Mediziner raten von so einer Abkürzung allerdings ab. Nach einem recht schnellen Gewichtsverlust nehme man rasch wieder zu, sagt auch die Trainerin Shu Yuying warnend.
Doch auch wer versucht, sein Idealgewicht in strengen Abnehm-camps zu erreichen, muss sich auf Rückschläge und Krisen gefasst machen.
Liu Siyi ist 17 Jahre alt und hat Mitte Februar mit ihrem Trainingsprogramm in Shenzhen begonnen. Damals wog sie 117 Kilogramm bei 160 Zentimetern Körpergrösse. Inzwischen hat Liu ihr Gewicht auf 89 Kilogramm reduziert.
«Ich kam an einen Punkt, da wollte ich abbrechen», sagt die junge Chinesin. Nachdem sie anfangs recht schnell abnahm, verlor sie irgendwann kein Gewicht mehr – Frust machte sich breit. Nach einer Woche Stillstand nahm Liu schliesslich wieder ab, und sie machte weiter.
Liu Siyi will noch einen Monat weitermachen, auch wenn sie bis dahin ihr Idealgewicht von 60 Kilogramm nicht erreicht haben dürfte. Doch auch mit 75 Kilogramm wäre sie zufrieden.
Furcht vor dem Lauftraining in der Schule
Die Kunst besteht darin, nach Ende eines mehrmonatigen Trainings nicht wieder in die alten Verhaltensmuster zurückzufallen. Die Trainer und die Mediziner verwenden viel Zeit darauf, den Teilnehmern klarzumachen, auch nach Abschluss des Kurses nicht wieder zu Junkfood, Snacks und Softdrinks zu greifen. Die Trainerin Shu Yuying sagt: «Man muss auch sein Gehirn trainieren.»
Nicht wenige der Jugendlichen nähmen, nachdem sie das Camp verlassen hätten, wieder moderat zu, sagt Shu. Doch kaum jemand werde wie früher krankhaft übergewichtig.
Wer sich für einen der Kurse bei Sunshine entscheidet, will aber meist nicht nur körperlich fit werden, sondern auch psychisch. Fast jeder krankhaft Übergewichtige leidet unter Hänseleien und abschätzigen Bemerkungen. «Die meisten Menschen denken, dass wer sein Gewicht nicht kontrollieren könne, auch sein Leben nicht im Griff habe», sagt der Sunshine-Gründer Han Junchen.
Lu Tongjin fürchtete sich stets vor dem Lauftraining in der Schule, weil jeder sehen konnte, wie sie sich mühen musste, auch nur ein paar Schritte zu tun.
Liu Siyi, die in einem Manikürestudio arbeitet, leidet, weil sie keine schicke Kleidung tragen kann. Und: «Meine Freundinnen sind so hübsch, und viele haben einen Freund, ich finde aber keinen.»
Regierung will Übergewicht vorbeugen
Abnehmcamps bekommen regen Zulauf. «Das Bewusstsein ändert sich allmählich», sagt der Sunshine-Gründer Han Junchen, «immer mehr Menschen wollen gesünder leben.» Die Trainerin Shu Yuying sagt: «Die Menschen werden vernünftiger.»
Auch die chinesische Regierung sorgt sich um die Gesundheit des Nachwuchses. Im Jahr 2021 gab Peking die revidierten Richtlinien zur «Vermeidung und Kontrolle krankhaften Übergewichts» heraus.
Seitdem müssen die Schulen des Landes mehr Sportunterricht anbieten. Ausserdem dürfen sie nur noch gesunde und fettarme Mahlzeiten ausgeben. Gemäss den Regierungsplänen soll bis 2030 die Zunahme krankhaft übergewichtiger Kinder und Jugendlicher um 70 Prozent sinken.









