Die Freiheitlichen von Herbert Kickl konnten erstmals überhaupt eine bundesweite Wahl gewinnen – allerdings weniger deutlich als erwartet. Das verleiht auch den Konservativen Aufwind, die sich im «Kanzlerduell» mit Kickl sehen.
Österreichs konservativ-grüne Koalition ist am Ende. Zwar nicht formal, vor diesem Schritt schreckte Bundeskanzler Karl Nehammer am Montag aus Staatsräson zurück, in drei Monaten wird ohnehin regulär gewählt. Doch faktisch ist das heterogene Bündnis aufgekündigt. Diese Woche fand nicht einmal eine Regierungssitzung statt, so zerrüttet ist das Verhältnis zwischen ÖVP und Grünen.
Unmittelbarer Anlass ist, dass die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler am Montag mit ihrer Zustimmung die Verabschiedung des EU-Renaturierungsgesetzes ermöglichte – gegen den ausdrücklichen Willen des Koalitionspartners. Seither schäumt die ÖVP. Nehammer warf seiner Ministerin Verfassungsbruch und «krasses Fehlverhalten» vor. Sie stelle die Ideologie über das Recht.
Vom grünen Juniorpartner ausgetrickst und blamiert
Nach innerstaatlichen Regeln war Gewesslers Schritt zumindest fragwürdig. Der von der ÖVP angekündigten Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof rechnen Experten aber keine allzu hohen Chancen ein und ebenso wenig der am Donnerstag eingebrachten Anzeige wegen Amtsmissbrauchs. Vielmehr muss sich der Kanzler vorhalten lassen, nicht die Entlassung der eigenmächtig agierenden Ministerin durch den Bundespräsidenten zu verlangen.
Tatsache ist, dass die sonst in kühler Machtpolitik so gewiefte konservative Partei vom grünen Juniorpartner ausgetrickst und blamiert wurde. Denn dass sie bei allem Ärger die Koalition nicht platzen lassen wird, war vorhersehbar. Die ÖVP hat für die letzten Meter dieses Bündnisses selbst noch einige Anliegen, sie möchte etwa den künftigen österreichischen EU-Kommissar stellen. Ohne die Stimmen der Grünen wäre das gefährdet.
Vor allem aber will Nehammer als Regierungschef mit Amtsbonus in die Nationalratswahl gehen. Seit Monaten arbeitet seine Partei daran, den Urnengang zu einer Entscheidung um das Kanzleramt zwischen ihm und dem FPÖ-Chef Herbert Kickl zu stilisieren. Dieser ist deshalb der Hauptgegner der ÖVP, sie bezeichnet ihn wahlweise als Sicherheitsrisiko, rechtsextrem oder gefährlichen Verschwörungstheoretiker. Nehammer sei der Einzige, der Kickl an der Regierungsspitze verhindern könne.
Einfach ist diese Argumentation nicht, denn die FPÖ könnte das Kanzleramt faktisch nur mit der ÖVP als Koalitionspartnerin überhaupt erreichen. Alle anderen Parteien schliessen ein Bündnis mit den Rechtspopulisten kategorisch aus. Vor allem aber gaben die Umfragen bisher das von den Konservativen ausgerufene «Kanzlerduell» nicht wirklich her: Seit anderthalb Jahren führt die FPÖ mit grossem Vorsprung, die Konservativen ringen laut den Demoskopen mit den Sozialdemokraten um Platz zwei – tendenziell eher mit Vorteil für Letztere. Das deutet eher auf einen Dreikampf hin.
Die EU-Wahl vor zehn Tagen hat bei der ÖVP allerdings schon fast Euphorie ausgelöst, und das trotz einem Verlust von zehn Prozentpunkten – dem grössten bei bundesweiten Wahlen in der Geschichte der Partei. Der Grund dafür ist, dass die Konservativen auf Platz zwei landeten und vor allem der Abstand zur FPÖ weniger als einen Prozentpunkt betrug. Das lässt sich bis zum Herbst durchaus wettmachen.
Ebenso paradox wie die Gefühlslage bei der ÖVP war deshalb diejenige bei der FPÖ. Sie hoffte auf ein Ergebnis von rund 30 Prozent der Stimmen, jedenfalls aber auf das beste ihrer Geschichte. Mit 25,4 Prozent verpasste die Partei beide Ziele relativ deutlich, wurde aber gleichwohl erstmals überhaupt stärkste Kraft bei einer nationalen Wahl.
Für Österreich ist das eine Zäsur. Die Wählerschaft der Freiheitlichen wuchs in den vergangenen Jahren, so mobilisierten diese bei der EU-Wahl fast gleich viele Frauen wie Männer. Die Zahl der FPÖ-Wähler mit Matur hat sich gegenüber 2019 zudem verdoppelt.
Das Ergebnis ist umso bemerkenswerter, als die «Ibiza-Affäre» die Partei erst vor fünf Jahren in die Krise gestürzt hatte. Der Skandal offenbarte autoritäre Machtphantasien und Korruptionsanfälligkeit des lange Jahre prägenden FPÖ-Chefs Heinz-Christian Strache. Er musste zurücktreten, und wie bereits 2002 endete eine FPÖ-Regierungsbeteiligung nach kurzer Zeit wegen der Untauglichkeit ihres Personals.
Zudem haben die Freiheitlichen in Kickl den radikalsten Chef seit ihrem Aufstieg zur massgeblichen Kraft unter Jörg Haider. Dieser hatte ebenso wie Strache Charisma und was man hierzulande als «Schmäh» bezeichnet. Kickl ist aggressiv statt leutselig, und im Gegensatz zu Marine Le Pen in Frankreich oder Giorgia Meloni in Italien bemüht er sich erst gar nicht um ein gemässigtes Image. Anders als die AfD-Spitze in Deutschland distanziert er sich beispielsweise nicht vom Begriff der «Remigration». Die geschichtsvergessene Verharmlosung der SS durch ihren EU-Spitzenkandidaten Maximilian Krah, die zum Rauswurf der AfD aus der rechten Fraktion Le Pens (und der FPÖ) führte, äusserte Kickl 2010 praktisch wortgleich.
Pandemie und Impfpflicht führten der FPÖ neue Wähler zu
Dass ausgerechnet er die FPÖ auch bei Nationalratswahlen auf Platz eins führen könnte, was Haider und Strache verwehrt blieb, lässt sich dennoch erklären. Einer der wichtigsten Faktoren sind die Pandemie und die hierzulande äusserst strikten Massnahmen bis hin zum Beschluss einer Impfpflicht. Als einzige Parlamentspartei wandte sich die FPÖ vehement gegen diesen Schritt, was ihr ganz neue Wählergruppen zuführte.
Dazu kommen die vor allem in den Städten spürbaren Folgen der hohen Zuwanderung, die vielen Sorgen bereiten. Das schadet der Regierung ebenso wie die wirtschaftliche Lage mit der im Vergleich zu den anderen EU-Ländern hohen Inflation. Und schliesslich leidet die ÖVP noch immer an den Nachwehen der Ära von Sebastian Kurz, der den Freiheitlichen viele Wähler hatte abspenstig machen können. Nehammer kann mit der Popularität seines Vorgängers nicht mithalten und muss sich noch dazu mit den auf dessen Amtszeit zurückgehenden Korruptionsvorwürfen herumschlagen.
Laut der Wählerstrom-Analyse hat die Kanzlerpartei bei der EU-Wahl über 220 000 Stimmen an die FPÖ verloren. Dennoch glaubt sie an einen Sieg im Herbst. Anders als die Konkurrenz habe er den Wahlkampf noch nicht begonnen, erklärte Nehammer vergangene Woche im Gespräch mit der NZZ. Er wolle in den kommenden Monaten aufzeigen, dass die FPÖ nur Ängste schüre und keine echten Lösungen aufzeige.
Das kann durchaus gelingen. Bei der Nationalratswahl geht es für die Bevölkerung um mehr als bei derjenigen zum Europäischen Parlament, die oft als Denkzettelwahl genutzt wird. Im einst so konsensorientierten Land kann übermässige Aggressivität zudem auch zum Verhängnis werden.
Ein Wahlsieg der FPÖ ist dennoch wahrscheinlicher. Als europakritische Partei schneidet sie bei EU-Wahlen immer etwas schwächer ab, während sich die ÖVP stets als die Europapartei verstand. Zudem wird die Wahlbeteiligung im September deutlich höher sein mit potenziell vielen Unzufriedenen, die sich jetzt nicht an die Urne bewegen liessen. Auch ein erster Platz bedeutet für die FPÖ jedoch noch keinen Sieg im «Kanzlerduell». Dieses entscheidet vermutlich nicht die Bevölkerung, sondern die ÖVP.