Er ist einer der führenden Wirtschaftshistoriker und ein Kenner der europäischen Geschichte: Harold James ist von der Zukunft Europas überzeugt. Obwohl die grossen Tech-Konzerne längst woanders sind.
Ein Salon in einem Zürcher Fünfsternhotel. Weiche Teppiche dämpfen die Schritte, vom Lärm der Stadt ist nichts zu hören. Harold James sitzt an einem Tisch vor einer Flasche Mineralwasser und nimmt sich Zeit für das Gespräch. In Zürich ist er, um an der Universität über Globalisierung zu reden. Und über «Schockmomente», Ereignisse, die die Welt erschüttern, auf längere Sicht aber Treiber des Fortschritts sind: die Hungersnöte in Europa im 19. Jahrhundert zum Beispiel. Oder der Börsencrash der 1870er Jahre. Er spricht fliessend Deutsch, mit britischem Akzent, wählt die Worte mit Bedacht.
Harold James, Sie sind zurzeit Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Woran arbeiten Sie?
Ich bin an einer Arbeit über die Geldpolitik in Polen in den letzten hundert Jahren, also nach der polnischen Unabhängigkeit. Und dann untersuche ich, wie sich die Finanzwirtschaft im Lauf der Jahrhunderte verändert. Wie Finanzzentren hochkommen und wieder an Bedeutung verlieren: Amsterdam, London, New York.
Wie beurteilen Sie den Finanzplatz Zürich? Verliert er an Bedeutung?
Nein, ich glaube nicht. Wenn sich die Welt in verfeindete Blöcke aufspaltet, wie das jetzt gerade geschieht, kann das für die Finanzplätze ein Glück sein. Die Schweiz ist ein klassisches Beispiel für ein Land, das vermittelt. Das hat Zukunft, davon bin ich überzeugt. Es gibt ja schon lange eine Debatte darüber, ob es eine neue Leitwährung geben wird . . .
. . . nach dem Dollar . . .
Ja, mittlerweile gibt es einen Konsens, dass die Kandidaten, die man im Auge hatte, der Euro und der Renminbi, dafür nicht geeignet sind. Vor einigen Jahren ist die Hypothese aufgekommen, die norwegische Krone, der kanadische Dollar, der australische Dollar, aber auch der Schweizerfranken könnten diese Rolle übernehmen. Dann hätte man nicht mehr eine grosse Leitwährung, sondern mehrere kleinere. Ich halte das für realistisch. Länder, die sich nicht an den grossen Blöcken beteiligen wollen, werden vielleicht auch Kryptowährungen einführen, aber sie vertrauen kleineren Währungen eher.
Sie haben die Vermittlerrolle der Schweiz angesprochen. Auf dem Bürgenstock haben achtzig Staaten eine Erklärung zum Ukraine-Krieg unterschrieben. Ist das ein Erfolg?
Von einem überwältigenden Erfolg kann man kaum sprechen. Aber es ist vielleicht der Anfang eines Erfolgs. Man ist immerhin zusammengekommen und hat verhandelt. Klar, wichtige Länder waren nicht da oder haben nicht unterschrieben. Brasilien oder Indien zum Beispiel. China stand abseits. Das ist ein Manko, und am Ende wird man diesen Konflikt, glaube ich, nicht ohne China lösen können. Auf alle Fälle finde ich es absolut richtig, dass Russland nicht dabei war.
Weshalb?
Unter Putin ist Russland kein zuverlässiger Vertragspartner. 1938 haben die Engländer versucht, ein Abkommen mit Hitler zu schliessen. Der britische Premierminister ist aus Deutschland zurückgekommen und hat gesagt: Ich habe ein Papier mit der Unterschrift von Herrn Hitler, wir haben Frieden in Europa. So geht es nicht. Natürlich muss Russland eingebunden werden, aber nicht unter dieser Regierung.
Sie haben vor etwa einem Jahr geschrieben, ein Frieden mit der Ukraine sei viel wahrscheinlicher, als die meisten Kommentatoren meinen. Würden Sie das noch immer sagen?
Ja. Was sich zurzeit abspielt, ist eine Wette auf Zeit. Putin hat darauf spekuliert, dass die Ukraine nach dem Angriff in wenigen Tagen zusammenbricht. Er dachte, es werde sein wie in Afghanistan, wo sich die Regierung mit Dollars und dem Gold der Notenbank ins Ausland absetzte. Das ist nicht geschehen. Dann spekulierte Putin darauf, dass die Allianz von EU und USA keinen Bestand habe. Auch das ist nicht geschehen. Ich glaube, Putin wird seine Position so lange zu halten versuchen, wie es eine Wahrscheinlichkeit gibt, dass ein ihm genehmer Kandidat Präsident der USA wird. Aber wenn Trump die Wahl verliert, ist Putins Kalkulation am Ende. Das ist der Moment, wo ein Friede kommen kann.
Und wenn Trump gewählt wird? Das ist alles andere als unmöglich.
Es ist nicht unmöglich, aber Trump ist alt geworden. Es zeigen sich klare Anzeichen von geistigem Zerfall. Seine Aussagen werden immer bedrohlicher. Und man muss klar sehen: Trump hat fanatische Anhänger, aber das ist eine Minderheit der amerikanischen Bevölkerung. Wahlen werden immer in der Mitte gewonnen. Die meisten, die Trump vor vier Jahren gewählt haben, stehen in der Mitte. Und die werden ihn im November nicht mehr wählen.
In Europa haben die Wahlen rechtspopulistische Kräfte gestärkt. Was heisst das für die Ukraine?
Ich glaube nicht, dass es viel verändert. Auch die rechten Parteien haben gemerkt, dass sie ihre antieuropäischen Positionen zurücknehmen müssen, wenn sie Erfolg haben wollen bei den Wahlen. Die Frau, die jetzt die zentrale Stelle in der europäischen Politik hat, ist Giorgia Meloni. Sie hat diese Wende sehr geschickt vollzogen. In Frankreich sieht Marine Le Pen, dass sie Meloni nachahmen muss. Und die Deutschen, die das nicht sehen, also die AfD, die sind vorbei.
In einzelnen Ländern könnte es weitere Verschiebungen geben. Macron hat Neuwahlen ausgerufen.
Es ist eine gewaltige Wette, die Macron wagt. In ihr steckt die Behauptung, dass es zu seiner Ukraine-Politik keine Alternative gibt. Schwer zu sagen, ob es Macron gelingt, zu zeigen, dass es ihn braucht.
Auch der Krieg in Nahost betrifft Europa direkt. Da tritt Europa sehr zögerlich und unentschieden auf.
Das könnte man auch von den Vereinigten Staaten sagen. Die Probleme sind sehr schwer zu lösen. Dass Biden und Blinken mehr Einfluss haben als europäische Vertreter, wenn es um einen Friedensplan für den Nahen Osten geht, ist richtig. Aber das hängt mit dem traditionellen Verhältnis zwischen den USA und Israel zusammen. Da haben die Grossmächte mehr Einfluss als die Europäer. Das gilt auch für Russland. Druck auf Russland machen kann eigentlich nur China. Und nur Washington kann Druck auf Israel ausüben. Aber die Europäer sollten nicht traurig sein, dass sie nicht eine so komplexe Beziehung zu Israel oder zu Moskau haben.
Krieg in der Ukraine, im Nahen Osten, wirtschaftliche Schwächen im Westen, China steigt auf: Wir stehen inmitten von Umwälzungen, deren Folgen nicht abzusehen sind. Ein weltweites Chaos?
Chaos ist im Moment der Lieblingsbegriff von Xi Jinping. Er betont immer wieder, die Welt befinde sich in einer chaotischen Lage. Aber es ist nicht unbedingt der Aufstieg Chinas, der Ursache dafür ist. China hat ein grosses demografisches Problem: die alternde Bevölkerung. Es gibt viele Parallelen zwischen China heute und Japan in den 1980er Jahren. Ich kam 1986 an die Princeton-Universität. Damals waren beim Department für Geschichte die populärsten Kurse die zur japanischen Geschichte. Japanisch war die populärste nichteuropäische Sprache. Viele Studenten meinten, sie müssten Japanisch lernen, weil Japan die kommende Weltmacht sei. Es gab auch Bücher über den kommenden Krieg mit Japan. Die Blase ist dann Anfang der neunziger Jahre geplatzt. Heute befindet sich Japan in einer recht guten Lage. Es ist stabil, kann eine hohe Staatsverschuldung tragen, steht also besser da als die Vereinigten Staaten. Und ist keine Gefährdung der Welt.
Und China?
Ja, was passiert, wenn die chinesische Blase platzt? Man spürt die Spannung auf dem chinesischen Markt, bei den Immobilienkonzernen, in den Industrieunternehmen, in der Politik. Das ist heikel. Denn es ist viel schwieriger, ein autokratisches Land durch eine Finanz- und Wirtschaftskrise zu steuern als eine Demokratie.
Warum?
Weil das Gefährdungspotenzial viel grösser ist. Es ist eine klassische chinesische Abwehrreaktion: Wenn es soziale Spannungen gibt, werden nationalistische Reflexe belebt, um die Unzufriedenheit im Land auszugleichen. In der Vergangenheit waren diese meist gegen Japan gerichtet. Jetzt versucht man sie gegen die Vereinigten Staaten zu lenken.
Sehen Sie Ansätze dazu, dass sich eine neue Weltordnung formiert?
Es gibt einen schönen Begriff, der, glaube ich, in der späten Habsburgermonarchie aufgekommen ist: sich durchwursteln. Wir sind in einer Welt, in der sich alle durchwursteln. Das wird die Politik der nächsten Jahre prägen. Es ist zu früh für eine Neugestaltung der Welt, die Bestand hat. Auch weil sich die Rahmenbedingungen sehr rasch ändern können, zum Beispiel durch den technologischen Wandel, vor allem im Bereich der KI.
Europa steht unter Druck, und wieder einmal wird der Untergang des Abendlandes beschworen. Wird der Westen zu einem Statisten auf der weltpolitischen Bühne?
Ich erinnere mich an eine Tagung in Venedig, 2007, am Vorabend der grossen Finanzkrise. Wir hatten ein Nachtessen auf der Dachterrasse des Guggenheim-Museums. Mario Draghi, der damals Präsident der italienischen Notenbank war, sagte in seiner Ansprache: Schauen Sie sich um, wenn wir nicht richtig handeln, wird ganz Europa einmal so aussehen wie diese Stadt: sehr schön, ein touristisches Ziel, aber wirtschaftlich unbedeutend. Vor dieser Herausforderung stehen die Europäer noch immer.
Ist das Rennen schon verloren? Die grossen Tech-Konzerne sind nicht in Europa, sondern in den USA und in Asien, in China.
Die Chancen Europas sind intakt. Auch wenn die ganz grossen Technologiekonzerne nicht hier sind – zum Teil übrigens auch, weil es an einem vereinten Kapitalmarkt fehlt. Aber das Tröstliche für mich ist, dass man solche Grossfirmen nicht unbedingt braucht, um neue Technologien einzusetzen. Auf dem Markt sind Applikationen wichtig. Und die können auch von kleinen Unternehmen entwickelt werden, in ganz spezifischen Bereichen. In der Medizin oder in der Automobiltechnologie. Da ist Europa noch immer sehr kreativ. Und ich glaube, es wird am Ende mehr darauf ankommen, wer erfolgreiche Applikationen entwickelt, als wer die technologischen Grundlagen dafür schafft.
Harold James
Harold James (* 1956) ist Professor für European Studies an der Princeton University und befasst sich vor allem mit deutscher Geschichte und europäischer Wirtschaftsgeschichte. Der gebürtige Brite lehrt zudem internationale Politik an der School of Public and International Affairs in Princeton. Zurzeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.