Königsdisziplin der Mode
Winzige Taillen, Kokon-artige Silhouetten oder Freiheit? In der hohen Schneiderkunst duellierten sich verschiedene Vorstellungen davon, was Mode eigentlich tun soll mit dem Körper.
Eine der klarsten Aussagen der Couture-Woche in Paris kam gleich zu Beginn. Sie wolle keine Kleider machen, die die Form eines Körpers veränderten, sagte die Dior-Kreativdirektorin Maria Grazia Chiuri vor der Show dem «Guardian»: «Christian Dior hat die Form einer Frau mit Kleidern geschaffen, aber mein Ansatz ist ein vollkommen anderer.» Sie möge keine Korsettstangen und bevorzuge leichte Kleidung, die einfach anzuziehen sei.
In einer Zeit, in der die meisten Häuser ihre Verbindungen zu ihren Gründern fast obsessiv betonen, ist das erfrischend. Dasselbe gilt auch für ihre Kollektion, die – wenig überraschend – das Thema der bald in Paris stattfindenden Olympischen Spiele aufgenommen hat. Kleider aus Seide und Jersey wurden wie Togen über Körper drapiert, Halsausschnitte glichen denen von Tanktops, und die Füsse der Models steckten in flachen, bis zum Knie geschnürten Gladiatorensandalen. Obwohl die Models den Laufsteg in gewöhnlicher Weise überschritten, schrie alles nach Bewegungsfreiheit. Die Show brauchte keine sportlichen Stunts.
Sehen und gesehen werden
Bei Chanel wiederum ist die Korsettlosigkeit ganz im Sinne der Gründerin des Hauses. Die Haute-Couture-Kollektion wurde vom Designstudio des Hauses präsentiert, nachdem die Kreativdirektorin Virginie Viard vor einigen Wochen plötzlich ihren Posten verlassen hatte.
Im Palais Garnier wurde Mode gezeigt, die der Oper würdig ist und mit ihren Klischees spielt: glänzender (und raschelnder!) Taft, breite Umhänge mit dramatischen Volants, glitzernde Stickereien, reichlich üppiger Tweed. Man möchte nur nicht hinter den Models sitzen in der Oper – wegen ihrer überdimensionalen Haarschleifen, klar, aber noch mehr, weil man von ihren Kleidern vermutlich zu abgelenkt wäre, um sich auf das Bühnengeschehen zu konzentrieren.
Dasselbe könnte einem bei Giorgio Armani Privé passieren. Der Designer nutzt seine Stoffe so gekonnt, dass sie fast ausserirdisch anmuten. Es ist eine sanfte Hand, die er anzulegen scheint: Der Körper der Trägerin wird betont und umgarnt, an anderen Stellen – etwa mit breiten Schultern – leicht geformt.
Seine Silhouetten sind langgezogen, mit samtenen Jupes, die alles Licht aufsaugen, und Oberteilen, die glitzern wie ein Nachthimmel. Es waren Perlen, die das Spiel mit dem Licht in der Kollektion inspirierten. Und es ist Balance, die hier regiert.
Körper, in Schichten
Bei Jean Paul Gaultier, wo jede Saison ein neuer Designer gastiert, spielte Nicolas Di Felice mit Körperteilen Verstecken. Die Kleider des Courrèges-Kreativdirektors wanden sich um die Körper der Models, liessen mal einen Teil des Rückens hervorblitzen, mal ein Bein und mal nur Zehenspitzen.
Der Fokus der Silhouette lag auf der Taille, die mit Korsetten und Stäbchen klein gehalten war. Es war eine Reverenz an Gaultiers schaffen, die etwas weniger offensichtlich war, als es Vorgänger Di Felices gemacht hatten, aber nicht weniger effektiv. Die Sinnlichkeit der Kollektion tanzte auf der Grenze zwischen Freiheit und Einschränkung, ganz anders als etwa bei Chanel oder Dior.
Auch bei Thom Browne wurde konstruiert und dekonstruiert, was das Zeug hält: Körper (metaphorisch natürlich) und Kleider. Seine Mode spielt oft mit dem Steifen und Puppenhaften, und diese Kollektion war keine Ausnahme. Statt aber ein kostbares Couture-Material als Basis zu nutzen, war alles aus Baumwollmusselin geschneidert, dem Stoff, der sonst nur für Entwürfe genutzt wird. Doch dank Stickereien, Plissees, unzähligen Knöpfen, Rosshaar und vielen, vielen Schichten wirkte es genauso skulptural wie sonst.
Korsette und Kokons
Das Sinnbild für die Schiaparelli-Show war Kylie Jenner, die als Zuschauerin einen Look aus der neuen Kollektion trug: ein mit Pailletten und pinkfarbenen Perlen besticktes Meshkleid mit engem Mieder-Bodysuit, in dem sie sich nur vorsichtig bewegen konnte. Daniel Roseberry entfernte sich diese Saison bewusst von Mode, die mehr Meme ist als anderes, und fokussierte sich auf Silhouetten.
Auch hier war die Taille im Mittelpunkt, geschnürt oder mit Samt eingefasst. Durchatmen konnte man bei den Looks mit breiten Schultern und weiten Ärmeln, die erst am Knöchel wieder eng anlagen – sanftes, bequemes Power-Dressing. Man munkelt, Roseberry habe seine Teammitglieder dazu ermuntert, während der Kreation der Kollektion ihre Handys nicht zu benutzen. Es hat sich gelohnt.
Und Balenciaga? Bei seinen Haute-Couture-Kollektionen besinnt sich der Kreativdirektor Demna besonders gerne auf den Gründer Cristóbal zurück – auf seine Kokon-artigen Silhouetten, sein Faible für aussergewöhnliche Hüte, seinen Umgang mit Materialien. Besonders Letztgenanntes war in der neuen Kollektion allgegenwärtig.
Ein Kleid war aus weissen Plastiktaschen geschneidert, die direkt auf den Körper geschmolzen schienen. Dank Skuba-Satin stand ein Metalhead-T-Shirt hingegen wie von selbst von seiner Trägerin ab. Es ist mit Ölfarbe handbemalt – siebzig Stunden dauerte der Prozess – und kostet, wie bereits auf der Website von Balenciaga ersichtlich ist, 30 000 Euro. Das ist eine Transparenz, die in der Welt der Haute Couture selten ist, wo nach den Shows vieles im Verborgenen stattfindet und manche Teile gar zusammen mit der Garantie gekauft werden, dass niemand anderes sie je tragen darf.
Es ist verlockend, den Wert der Haute Couture auf solche Zahlen herunterzubrechen – auf die Zehn- und Hunderttausende von Franken oder auf die schier unglaubliche Zahl von Arbeitsstunden. Aber für die allermeisten von uns macht das keinen Unterschied. Wir werden nie auf diese Art damit in Berührung kommen. Stattdessen ist sie interessant, weil sie einigen wenigen Designerinnen und Designern erlaubt, uns zu zeigen, was sie mit raren Arbeits- und Materialressourcen erträumen können; wie sie den Körper transformieren, umgarnen oder als Leinwand nutzen.