Starke Regenfälle und gesättigte Böden haben am Wochenende im Wallis zu zahlreichen Überschwemmungen und Murgängen geführt. Mindestens eine Person kam ums Leben, eine andere wird vermisst. Nun soll die Armee helfen.
Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche ist es im Wallis zu Überschwemmungen und Murgängen gekommen. Einige Dörfer sind noch immer abgeschnitten, der Simplon- und der Nufenenpass sind gesperrt. Im Gommer Binntal wird ein 52-jähriger Mann vermisst. In Saas-Grund fanden Rettungskräfte einen Mann tot in einem Hotel. Er sei, so mutmasst die Polizei, von den Wassermassen überrascht worden.
Am Sonntagvormittag bat der Kanton Wallis die Schweizer Armee um Unterstützung. Am Nachmittag trat der Staatsrat Frédéric Favre in Grône, im Mittelwallis, vor die Medien.
Neben Favre sassen ein halbes Dutzend Experten und Sachverständige des Kantons. Sie sprachen von «Ereignissen» auf dem gesamten Kantonsgebiet. Die Lage erinnere an die verheerenden Unwetter im Jahr 2000, als ein Murgang das halbe Grenzdorf Gondo mit sich gerissen und weite Teile des Rhonetals unter Wasser gesetzt hatte. Gemessen an «einzelnen Indikatoren», so der Staatsrat Favre, sei die aktuelle Lage aber gravierender.
Raphaël Mayoraz, der Chef der Dienststelle für Naturgefahren, sagte, eine Naturkatastrophe wie die aktuelle finde nach den bekannten Wettermodellen alle hundert Jahre statt. Nach dem Jahr 2000 habe man nun aber schon wieder ein Jahrhundertereignis. Dann sagte er: «Diese Modelle bilden unsere Realität nicht mehr ab.»
Die Lage in den Seitentälern
Die ersten Erklärungen des Dienstchefs Mayoraz klangen simpel: In den Bergen sammelte sich in letzter Zeit mehr Schmelzwasser als in vergangenen Jahren. In den letzten Wochen regnete es mehr und stärker als zu dieser Jahreszeit üblich. So konnten die Böden kein Wasser mehr aufnehmen. Das Wasser sammelte sich und staute sich anderswo.
Ab Samstagmittag zogen von Süden her etliche Gewitter über das Wallis. Besonders betroffen waren das Goms, das Saaser- und das Mattertal, aber auch das Val d’Anniviers, das Val d’Hérens und das Rhonetal selbst.
Die Niederschlagsmengen waren vor allem im Oberwallis noch einmal grösser als am vergangenen Wochenende. Laut dem «Walliser Boten» fielen im Gommer Binntal innerhalb von sechs bis acht Stunden 156 Liter Regen pro Quadratmeter. Zuhinterst im Saastal waren es 147.
Nach diesen starken Niederschlägen brachen kleine Bergbäche in den südlichen Seitentälern aus ihren Flussläufen aus und rissen Böschungen, Bäume und Felsbrocken mit sich. Mancherorts trugen sie den Schlamm und den Schutt in die Dörfer und bis in die Häuser. So zum Beispiel in Saas-Grund, im Saastal.
In der Nacht auf Sonntag ging dort beim südlichen Dorfausgang ein Murgang nieder. Zudem trat der Triftbach am anderen Ende des Dorfes über die Ufer und schob Bäume, Gestein und Schlamm durch ein ganzes Quartier. Die Kantonsstrasse verschwand darunter. Die Kommunikationsnetze im Dorf brachen zusammen, und das Wasser des Triftbachs floss durch die Wohnungen der Dorfbewohner. Der Gemeindepräsident sagte am Sonntag, es sei nun wichtig, den Bach wieder zu «kanalisieren».
Auch in Zermatt trat die Vispa, wie schon am vergangenen Wochenende, über die Ufer. Schlimmeres konnte dieses Mal allerdings verhindert werden. Das Kraftwerk Grande Dixence pumpte über Verbindungsstollen zum Lac de Dix im Val d’Hérens erhebliche Wassermengen ab.
Der «Walliser Bote» berichtete ab Samstag via Live-Ticker über die Entwicklung an der Unwetterfront. Dort waren halbstündlich neue Meldungen zu lesen. In Obergesteln floss der Milibach zeitweise über die Strasse ab und überschwemmte die Gleise der Regionalbahn. In Münster war es der Minstigerbach, in Selkingen der Walibach.
Die Meldungen von Bächen, die ausserhalb der angrenzenden Dörfer nur wenige kennen, glichen sich. Und sie verdeutlichten ein grosses Problem: All diese Bäche münden in die Rhone, und so musste auch das Wasser und das Geschiebe, das sie mit sich führten, dort für weitere Probleme sorgen.
Ausgerissene Bäume, Schutt und Steine stauten sich an Engpässen und vor Brücken, so dass die Rhone an mehreren Stellen über die Ufer trat und ganze Quartiere überschwemmte.
So zum Beispiel zwischen Raron und Gampel, dann bei Leuk und später zwischen Chippis und Siders, wo die Rhone Industriequartiere überschwemmte. Bei Siders stand am Sonntag zudem die Autobahn 9 unter Wasser. Die regionalen Krisenstäbe sperrten etliche Brücken über den Fluss.
Bis am Sonntag wurden verteilt über den ganzen Kanton mehrere hundert Personen evakuiert. 22 Führungsstäbe, 700 Feuerwehrleute, 130 Zivilschützer und 100 Mitarbeiter des Kantons standen im Einsatz und kamen an den Anschlag.
Um sich in dieser unübersichtlichen Lage wieder zurechtzufinden, flogen Mitglieder des Kantonalen Führungsorgans am Sonntag mit einem Super-Puma-Helikopter der Armee über das Kantonsgebiet.
Das Wasser geht zurück
Die Rhone hat ihren Höchststand am Sonntagnachmittag überschritten. Der Dienstchef Mayoraz sagte am Sonntagnachmittag, die Wassermassen sollten in der Rhone schnell zurückgehen. Doch laut ihm bleibt die Situation weiterhin instabil, denn die Zuflüsse der Rhone stünden weiterhin unter Druck.
Unter Druck stehen auch die Einsatzkräfte, denn die Auswirkungen des Hochwassers vom vergangenen Wochenende waren noch nicht behoben, als es am Samstag erneut zu Überschwemmungen kam.
Bereits jetzt werden die Einsatzkräfte durch Kolleginnen und Kollegen aus den Kantonen Waadt und Genf unterstützt. Nun erhofft man sich im Wallis Entlastung durch die Armee. Laut Marie Claude Noth-Ecœur, Dienstchefin für zivile Sicherheit, soll die Armee den Kanton zunächst vor allem in der Region Siders und Chippis unterstützen, später auch bei Aufräumarbeiten in den Seitentälern.
Wie lange diese Aufräumarbeiten dauern werden, ist noch nicht absehbar. Vielleicht Wochen, möglicherweise aber auch Monate. Klar ist aber jetzt schon: Der Gewässerschutz ist im Wallis wieder ein hochbrisantes Thema.
2015 hat die Walliser Stimmbevölkerung der dritten Rhonekorrektion zugestimmt, einem Milliardenprojekt, das die Rhone verbreitern und vertiefen und so zum Hochwasserschutz beitragen soll. Der zuständige Staatsrat Franz Ruppen gab vor einigen Wochen eine Studie zum Projekt in Auftrag und möchte nun Änderungen vornehmen. Das Projekt soll weniger Boden beanspruchen und günstiger werden.
Vergangene Woche haben Umweltverbände eine Medienmitteilung versandt und sowohl die Studie als auch Ruppen selbst kritisiert. Laut dem «Walliser Boten» planen sie gar eine kantonale Initiative. Die neuerlichen Überschwemmungen dürften den Druck auf Ruppen verstärken.