Das lange erwartete Verdikt ist gefällt: Ein Präsident sei nur vor Strafverfolgung geschützt bei offiziellen Amtshandlungen, nicht bei privaten Handlungen. Ob Trumps Versuche, das Wahlresultat von 2020 zu kippen, Amtshandlungen waren, müssen nun andere entscheiden.
Der Supreme Court hat sich buchstäblich bis zur letzten Minute Zeit gelassen mit der Entscheidung, ob Donald Trump als früherer Präsident Immunität geniesse für sein Verhalten während seiner Amtszeit. Normalerweise dauert die Tagungszeit des Obersten Gerichts bis Ende Juni, aber diese wegweisende Entscheidung wurde erst am 1. Juli veröffentlicht. Das Urteil differenziert: Frühere Präsidenten geniessen absolute Immunität gegen strafrechtliche Verfolgung, wenn es um offizielle Handlungen im Weissen Haus geht. Die Immunität gelte nicht für inoffizielle Handlungen.
«Niemand steht über dem Gesetz»
Die Entscheidung bedeutet, dass der Strafprozess gegen Trump in Washington wegen seines Verhaltens vor dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 weitergeführt werden kann, aber erst mit einer gewissen Verzögerung. Denn der Fall muss an untere Instanzen zurückgeschickt werden, und zwar an die zuständige Richterin am Bundesbezirksgericht. Diese muss klären, welcher Art die Handlungen sind, für die der ehemalige Präsident angeklagt wurde, und wie die allgemeine Entscheidung des Supreme Court auf Trumps Fall anzuwenden ist. Das ist nicht einfach. Denn natürlich hat Trump als Präsident gehandelt, als er versuchte, das Wahlresultat umzustossen – aber aus persönlichem Interesse. De facto heisst das wohl, dass der Prozess nicht mehr vor der Präsidentschaftswahl am 8. November durchgeführt wird. Falls Trump die Wahl gewinnt, könnte er den Prozess stoppen oder sich selbst begnadigen.
«Der Präsident kann nicht strafrechtlich verfolgt werden für die Ausübung seiner verfassungsmässigen Befugnisse. Er hat Anrecht auf Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung für all seine offiziellen Handlungen», schrieb der Oberste Richter John Roberts in seinem Urteil. «Aber er geniesst keine Immunität für seine inoffiziellen Handlungen, und nicht alles, was der Präsident tut, ist offiziell. Der Präsident steht nicht über dem Gesetz.»
Das Urteil wurde mit 6:3 Stimmen gefällt. Die unterliegende Minderheit schrieb in ihrer Begründung, man fürchte um die Demokratie, wenn das fundamentale Prinzip, dass niemand über dem Gesetz stehe, solcherart gebrochen werde.
Es begann mit den Ermittlungen von Jack Smith
Das juristische Tauziehen um die Frage der präsidialen Straffreiheit begann mit den Ermittlungen des Justizministeriums gegen Trump nach dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021. Der Sonderermittler Jack Smith wurde beauftragt, die Rolle des damaligen Präsidenten zu untersuchen. Aufgrund des Ermittlungsberichts erhob ein Geschworenengericht schliesslich im August 2023 in Washington Anklage gegen Trump. Die Anklagepunkte lauteten unter anderem Verschwörung zum Betrug an den USA, Behinderung eines amtlichen Verfahrens und Verletzung des Wahlrechts. Der verbreitete Vorwurf, Trump habe seine Anhänger zum Aufstand aufgewiegelt, war nicht Teil der Anklage. Trump seinerseits argumentierte, er geniesse absolute Immunität, und erhob Einsprache.
Am 5. Februar 2024 entschied das Berufungsgericht des District of Columbia jedoch, dass Trump nach Ablauf seiner Amtszeit wie ein normaler Bürger zu behandeln sei und deshalb auch vor Gericht gestellt werden könne. Die exekutive Immunität, die ihm während seiner Amtszeit zustand, schütze ihn heute nicht mehr vor Strafverfolgung, argumentierten die Richter. Also könne Smith ihm den Prozess machen.
Trump und seine Anwälte hingegen stellten sich weiterhin auf den Standpunkt, der Präsident verfüge über eine unbegrenzte und absolute Immunität für seine Handlungen im Amt. Deshalb beantragten sie beim Obersten Gericht, dass es das Urteil einer Prüfung unterziehe. Ende Februar entschied der Supreme Court, sich der Frage anzunehmen, und gewährte gleichzeitig den von Trump erstrebten Aufschub des Prozesses. Der Beschluss wurde von verschiedener Seite kritisiert, weil damit der Prozess gegen Trump, der ursprünglich am 4. März hätte beginnen sollen, verzögert wurde. Das passe zu der Verschleppungstaktik, die Trump bei all seinen Prozessen anwende, hiess es. In der Tat liess sich der Supreme Court mit seiner Entscheidung nun bis zum allerletzten Moment Zeit.
Drei Viertel der Amerikaner würden keine Immunität gewähren
Am 25. April fand dann die Anhörung des Supreme Court statt. Sie drehte sich vor allem um die Frage, wo die Grenze zwischen Amtshandlungen und privat motivierten Handlungen eines Präsidenten verlaufe. Eine inoffizielle Handlung könnte strafrechtlich verfolgt werden, eine offizielle unterstünde hingegen dem Prinzip der Immunität. Schon damals zeichnete sich ab, dass der Supreme Court einem amerikanischen Präsidenten nicht die absolute Immunität zusicherte, die Trump für sich beanspruchte, ihm aber auch nicht jegliche Immunität absprach. Denn ein solches Verdikt hätte den Handlungsspielraum eines Präsidenten stark eingeschränkt und politische Gegner eingeladen, ihn mit Klagen einzudecken – so die Befürchtung. In diesem Sinne hat der Supreme Court nun tatsächlich entschieden und damit Trump zumindest einen Teilerfolg beschert.
Donald Trump bejubelt die Entscheidung. Der Supreme Court sichere ihm totale Immunität zu, behauptete er in einer Nachricht an seine Anhänger. Schon am Freitag hatte er Grund zur Freude gehabt, als der Supreme Court im Zusammenhang mit den Aufständischen vom 6. Januar 2021 entschied, dass der Tatbestand der Verfahrensbehinderung nicht auf sie angewendet werden könne.
Die Mehrheit der Amerikaner ist in dieser Angelegenheit jedoch anderer Ansicht als Trump. Laut einer Umfrage vom April finden 74 Prozent, ein Präsident geniesse für Handlungen, die er während seiner Amtszeit begangen habe, keine Immunität gegen strafrechtliche Verfolgung.