Die Herrschaft der Konservativen in Grossbritannien ist implodiert. Labour erbt deren Machtfülle. Doch die Partei wird sich mit denselben Problemen schwertun wie die Tories. Die eigentliche Siegerin ist die rechte Protestpartei Reform.
Als Boris Johnson im Dezember 2019 einen triumphalen Wahlsieg erzielte, erklärten viele Kommentatoren, damit habe eine zehnjährige Dominanz der britischen Politik durch den populären Politiker begonnen. Sie begründeten dies mit der grossen Mehrheit von über 80 Sitzen, welche die Konservativen unter Johnsons Führung im Unterhaus errungen hatten, das beste Resultat seit Jahrzehnten.
Sie blickten für ihre Einschätzung in die Vergangenheit statt in die Zukunft. Deshalb übersahen sie, was damals schon gut erkennbar war: Johnsons fehlende Ernsthaftigkeit und Disziplin für diese Führungsaufgabe, die kurzfristige Hochkonjunktur des Brexit-Themas, die immensen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Herausforderungen, für die Johnson wenig Interesse zeigte.
Ähnlich ist die Situation heute, mit umgekehrten Vorzeichen. Nun triumphiert der farblose Labour-Chef Keir Starmer mit einer noch viel grösseren absoluten Mehrheit im Unterhaus von mindestens 174 Sitzen. Gemessen an diesen Zahlen müsste nun das grandiose neue Zeitalter Labours beginnen. Doch die Realität liegt weit davon entfernt.
Es gibt keine Aufbruchstimmung
Trotz der gewaltigen Mehrheit im Parlament liegt der Wähleranteil Labours bloss bei 35 Prozent, nur 1,6 Punkte mehr als bei der krachenden Niederlage von 2019. Es gibt keinen Linksruck, keine Begeisterung für neue Ideen oder die neue Regierungsmannschaft. Vielmehr sind die Konservativen nach 14 Jahren an der Macht implodiert. Und weil das britische Wahlrecht Drittparteien nur wenig Erfolgschancen gibt, sind zahlreiche Wahlkreise Labour einfach in den Schoss gefallen. Kaum je hat eine Partei mit so wenig Stimmen so viele Sitze errungen.
Die Stimmung im Land ist nicht von einem Aufbruch und von gesellschaftlichen Visionen gezeichnet wie nach dem grandiosen Wahlsieg Tony Blairs 1997. Vielmehr herrschen Verunsicherung, Ratlosigkeit und Frustration über die politischen Eliten vor. Das wird sich mit dem Regierungswechsel kaum ändern, aus vier Gründen.
Erstens bleiben die Finanzprobleme des Staates dieselben, mit denen nicht nur die Tories, sondern auch schon die frühere Labour-Regierung gekämpft hatte. Unter zahllosen Sparprogrammen der Tories litten vor allem die öffentlichen Dienste in den Gemeinden. Trotzdem sind die Staatsfinanzen wegen Ausgabensteigerungen an anderen Orten, vor allem bei den Sozialausgaben, aus dem Ruder gelaufen. Das wird auch der neuen Labour-Regierung Kopfzerbrechen bereiten.
Der verdrängte Brexit rächt sich
Zweitens ist eine anfängliche Brexit-Euphorie selbst unter vielen Konservativen einer wachsenden Unzufriedenheit gewichen. Eine Mehrheit der Bürger hält den EU-Austritt heute für einen Fehler. Mit dem Brexit haben die Tories dem Land auch Kosten durch Friktionen im Aussenhandel mit dem wichtigsten Partner EU gebracht. Die Chancen durch eine mögliche Deregulierung haben sie aber nicht ergriffen. Dafür wurden sie nun von den Wählern bestraft.
Labour hatte den Brexit stets abgelehnt, will ihn aber richtigerweise nicht rückgängig machen, weil das zu viel politisches Kapital erforderte. Dass sich ausgerechnet unter Labour die politische Verdrängung des Brexits in eine produktive Nutzung der Chancen verwandeln könnte, ist nicht zu erwarten.
Drittens leidet Grossbritannien unter einer anhaltenden Schwäche des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstums. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben längst nicht nur mit dem Brexit zu tun. Wie die Tories bietet auch Labour kein überzeugendes Reformprogramm, um die britische Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen.
Betrug der Tories in der Einwanderungspolitik
Ein vierter Grund für die tiefe Enttäuschung der Wähler war das gebrochene Versprechen der Tories, die Einwanderung zu reduzieren. Als David Cameron den Regierungssitz an der Downing Street von Labour übernommen hatte, hatte er eine Reduktion der Netto-Einwanderung auf einige zehntausend pro Jahr versprochen. Stattdessen lag sie Jahr für Jahr über 200 000 oder gar 300 000. Als mit dem Brexit die EU-Mitgliedschaft als politischer Sündenbock dafür wegfiel, sank die Netto-Einwanderung nicht etwa, sondern stieg in absurde Sphären von mehr als 600 000 pro Jahr. Die Tories haben ihre Wähler Jahr für Jahr betrogen.
Das hatte durchaus handfeste wirtschaftliche Gründe. Mit dem massenhaften Import von Arbeitskräften wurden das Bruttoinlandprodukt und die Steuereinnahmen kurzfristig in die Höhe getrieben. Zugleich wurden dem notorisch überforderten Nationalen Gesundheitsdienst dringend benötigte Fachkräfte aus allen möglichen Ländern zugeführt. Diese masslose Einwanderungspolitik löst die Strukturprobleme nicht, wirkt aber wie ein Pflaster in akuten Notlagen. Darauf zu verzichten, dürfte auch einer Labour-Regierung schwerfallen.
Die Tories müssen die Protestwähler zurückgewinnen
Der neue Premierminister Keir Starmer ist ein guter Mann, so wie sein Vorgänger Rishi Sunak. Beide fühlen sich dem Wohl des Landes verpflichtet. Sie sind gut ausgebildet, erfahren, kompetent und fleissig. Diese Stärken haben Sunak nicht vor der schlimmsten Niederlage der Tories bewahrt. Und sie dürften auch Starmer nicht vor zukünftigen Krisen schützen. Zwar verfügt er im Unterhaus über eine riesige Mehrheit, mit der er theoretisch radikale Reformen durchsetzen könnte. Doch weder er noch seine Partei haben sich das zum Ziel gesetzt. Vielmehr gleicht deren Programm jenem der Tories in vielen Punkten. Entsprechend der Logik des britischen Mehrheitswahlrechts orientierten sich beide Parteien an der politischen Mitte.
Starmer ist es damit gelungen, den radikalen linken Flügel seiner Partei weitgehend zu disziplinieren. Doch die Herausforderungen der neuen Regierung werden den Burgfrieden in der Partei schon bald strapazieren. Den Tories ist der rechte Rand weggebrochen und zur Reform-Partei übergelaufen, was der Hauptgrund für ihre Wahlkatastrophe ist.
Erstmals haben die beiden grossen Parteien zusammen weniger als 60 Prozent der Stimmen erhalten. Die wichtigste Zukunftsfrage der britischen Politik wird sein, ob und wie die Konservativen wieder zu einer echten rechten Wirtschaftspartei und Opposition zu Labour werden. Wollen sie als politische Alternative überleben, müssen sie die Protestwähler am rechten Rand wieder einbinden: mit überzeugenden Angeboten zur Rolle des Staates, zum Brexit, zur Belebung strukturschwacher Regionen und zum Bevölkerungswachstum. Die spannendsten politischen Fragen werden sich in den nächsten Monaten nicht an der Downing Street, sondern in der Parteizentrale der Tories stellen.







